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SPD und CDU im Tiefflug

Franz Walters Buch "Im Herbst der Volksparteien" untersucht den Abstieg der ehemaligen Muskelmänner unter den deutschen Parteien: der Volksparteien SPD und CDU. Dass dies ein lohnender Untersuchungsgegenstand ist, zeigt jede einzelne Wählerumfrage. Im Monatsrhythmus wird da die Parole ausgegeben: Jetzt geht es wieder aufwärts! Abwärts geht ja auch kaum noch. Oder?

Von Rainer Kühn |
    Glaubt man den Zahlen der Meinungsforscher, geht es momentan bei den Wählerpräferenzen turbulent zu: Von einer Woche auf die nächste sollen Parteien derzeit angeblich sechs Prozentpunkte dazugewinnen können - um sie sieben Tage später wieder zu verlieren! Nicht nur Parteifunktionären kann bei derartigem Auf und Ab schwindelig werden. Wer diesem Hamsterrad der Prognosen entfliehen und zur Besinnung kommen möchte, dem bietet sich die neue Studie des Göttinger Parteienforschers Franz Walter an, den sein Wissenschaftsministerium in Hannover schon mal als "Aushängeschild der Niedersächsischen Hochschullandschaft" bezeichnet hat.

    Aber keine Sorge: Franz Walter schreibt nicht im üblichen Hochschuljargon, sondern verständlich, eingängig - und ohne Angst vor zuspitzenden, bilderreichen, bisweilen auch flapsigen Formulierungen. Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Jeweils unter Druck von Bismarck und den Liberalen bildeten sich in Deutschland ein sozial-katholisches und ein sozialdemokratisches Milieu, die beide dank guter Organisation selbst die Zeit des Nazi-Terrors überstanden haben. In der Bundesrepublik wurden diese sogenannten "sozial-moralischen" Milieus zur Grundlage, zum Kern und zur Personalquelle für die dominierenden Volksparteien CDU/CSU und SPD. Obwohl jahrzehntelang unangefochten, scheint die Zeit der großen Erfolge dieser Sammlungsgruppierungen mit einstmals 40 plus X Prozent der Wählerstimmen nun allerdings endgültig vorbei zu sein.

    Die Sozialdemokraten begannen zu schrumpfen, als ihre industriellen Hochburgen zerfielen, als die Welt der Zechen, Werften und Hochöfen unterging. Doch auch die Welt der Christdemokraten wird nunmehr schmaler, da immer weniger Menschen im modernen Deutschland noch treue Kirchgänger, lebenslange Heimatverbundene, dogmatische Nationalpatrioten und wütende Bekämpfer jedweder Emanzipation sind.
    So weit, so richtig. Und trotzdem möchte man den Autor fragen: "Ja, und?" Mag ja sein, dass die Volksparteien immer weniger Volk zur Stimmabgabe animieren; aber bleibt nicht letztlich alles in der Familie, sprich: einerseits im sogenannten bürgerlichen Lager, beziehungsweise andererseits im Bereich links von der Mitte? Wo ist also das Problem?

    Zudem: Erstaunlich viele Aspekte dieses Buchs klingen bekannt! Genau: In dem vor knapp einem Jahr im Suhrkamp-Verlag erschienenen Bändchen "Baustelle Deutschland" hat Walter vieles, was er jetzt "Im Herbst der Volksparteien?" beschreibt, schon einmal erzählt. Warum dann diese neue Publikation? Kurz gesagt: Franz Walter geht es diesmal ums Ganze! Ein Blick zurück: Die Gründung der Soziologie war Ende des 19. Jahrhunderts der Angst geschuldet; und zwar der Angst, dass die sich gerade entwickelnde moderne Massengesellschaft quasi explodieren könnte. Die Frage war: Was hält die Gesellschaft überhaupt noch zusammen? Oder, wie Georg Simmel zusammenfassend formulierte: "Wie ist soziale Ordnung möglich?" Die Antwort der jungen Krisenwissenschaft bestand in einem Zauberwort: Institutionen! Diese geben dem Einzelnen vor, was wie an welchem Platz zu tun ist. Und vor allem: Warum! Nachdem die Soziologie dann Mitte des 20. Jahrhunderts den Begriff aufgegeben hatte und lieber von Systemen sprach, nahm sich in den 1980er Jahren die Politikwissenschaft der Institutionen an, weil auch sie sich nun brennend dafür interessierte, was uns denn überhaupt noch miteinander verbindet. Institutionen sind mehr als rein zweckgerichtete, rationale Organisationen. Sie besitzen einen symbolischen Überschuss, eine Leitidee, bieten Entlastung von den ewigen "Warum"-Fragen und vor allem: Sie machen den Bürgern ein Sinnangebot. Und genau deshalb sind sie in der Lage, ganz heterogene Gruppierungen anzusprechen, an sich zu binden - eben: zu integrieren. Mit dieser Fähigkeit haben die Volksparteien - als Institutionen - die lange Phase der politischen und sozialen Stabilität der Bundesrepublik ermöglicht. Und genau diese Potenz steht für Franz Walter nun zur Disposition.

    Man wird über die Rolle und Funktion der Volksparteien zu diskutieren haben, über ihre Fähigkeit zur Integration... Sind sie tatsächlich nach wie vor Vermittler zwischen den Lebenswelten unten und der parlamentarisch-gouvernementalen Arena oben? Spiegeln, repräsentieren und formen sie die soziale Heterogenität und kulturelle Erfahrungsvielfalt moderner Gesellschaften - und vergemeinschaften sie zugleich durch Prinzipien, Werte und Gesinnung?
    Walter ist hier mehr als skeptisch. Für ihn steht längst fest, dass die beiden Volksparteien nach langer erfolgreicher Geschichte ihre Kraft zur Integration verloren haben. Sie sind eben keine Institutionen mehr, und haben zudem die Verbindung zu ihren Kraftquellen, den Milieus verloren oder gekappt.

    Im Grunde hat sich schon jetzt der Parteienwettbewerb substanziell entpolitisiert. Zwar rangeln weiterhin Cliquen und Clans in abgeschotteten Subsystemen gegeneinander, aber kaum noch soziale Lebenswelten mit unterschiedlichen Entwürfen für eine gute Politik und Gesellschaft... Allerweltsparteien fehlen gesellschaftliche Wurzeln, intellektuelle Ambitionen; die Choreografie von Möglichkeiten jenseits dessen, was gerade ist.
    Den Ernst der Lage aber haben die Volksparteien trotz aller Dramatik noch gar nicht richtig erkannt! Für Walter steht fest, dass ein einmal verloren gegangener Sinn einer ehemaligen Institution nie wieder eingehaucht werden kann, dass also eine abhanden gekommene Leitidee durch nichts zu ersetzen ist - und trotzdem herrscht bei den Groß-Parteien "business-as-usual":

    Im Grunde kommt es nicht darauf an, ob die Parteien Mitglieder einbüßen, ob Wähler nicht zur Wahl gehen. Der Einfluss der Parteien bleibt stets gleich. Sie regieren; sie schicken ihre Leute weiter in Rundfunk- und Fernsehräte, in Sparkassenvorstände... Und die Fernsehkameras richten sich nach wie vor auf sie... Es gibt nicht die Erfahrung des Bedeutungsverlustes.
    Fast zwangsläufig denkt der Leser an ein geköpftes Huhn, dessen Rumpf, auch ohne "Sinnzentrale", wild flatternd weiter rennt. Wobei natürlich jeder auch weiß: Lange kann das nicht gut gehen! Walters - wie er selbst einräumt - "furchtbar altmodisch, vermufft, nachgerade vorgestrig" klingendes Plädoyer gegen dieses Weiter-so fällt dementsprechend drastisch aus:
    Gemeinsinn braucht so etwas wie eine spezifische Sozialmoral, einen motivierenden Ethos, eine normative Quelle, eine orientierende Weltanschauung auf das Ganze.
    Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Jedenfalls ist die Anregung von Walter, über eine Gesellschaft ohne Parteien als integrative Institutionen nachzudenken, interessant und lesenswert. Auch die Hinweise auf das Erstarken rechtspopulistischer Parteien, wie in Österreich, als Reaktion auf das fehlende Sinnangebot sind bedenkenswert. Wobei Walters Schlussfolgerung dann allerdings ein wenig willkürlich wirkt, der vorangegangenen Argumentation entgegensteht und nicht das letzte Wort sein muss:
    Aber man darf nun natürlich die Dinge nicht zu pessimistisch betrachten. Ganz so schlimm wird es schon nicht kommen.
    Immerhin: Wie alle guten Bücher vermag auch "Im Herbst der Volksparteien" eines anzuregen: Das Selber- und Weiterdenken.

    Rainer Kühn war das über Franz Walters Buch: Im Herbst der Volksparteien. Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration. 132 Seiten für 14 Euro 90.