Donnerstag, 25. April 2024

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Spiegel-Bestsellerliste Belletristik
Der literarische Menschenversuch im Deutschlandfunk

Diesmal mit Büchern über Serienkiller im Taunus und an Bord von Kreuzfahrtschiffen, geistlosem Klamauk von deutschen Comedians, Romanen über Familienrichterinnen sowie dem gewohnten Stuss von Paolo Coelho. Dagegen ist Michel Houellebecqs faszinierendes Gedankenspiel eine schiere Freude.

Von Denis Scheck | 06.02.2015
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?
    Einzig Michel Houellebecq ist in der Lage, den Winterschlaf des Rezensenten zu unterbrechen.
    "Pulp Fiction: 'You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee.'"
    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik:
    Diesmal mit Büchern über Serienkiller im Taunus und an Bord von Kreuzfahrtschiffen, geistlosem Klamauk von deutschen Comedians, Romanen über Familienrichterinnen und Holzknechte, einer berauschenden Werbeschrift für das Werk von Joris-Karl Huysmans aus der Feder des größten lebenden französischen Romanciers der Gegenwart sowie dem gewohnten Stuss von Paolo Coelho.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen fluffige 4743 Gramm auf die Waage: zusammen 4081 Seiten.
    10) Jan Weiler: "Das Pubertier"
    Kindler, 128 Seiten, 12 Euro.
    Jan Weilers Versuch, im Stil von Brehms Tierleben über Verhaltensäußerungen eines pubertierenden Mädchens zu schreiben, liest sich amüsant und verhandelt obendrein so drängende Fragen wie die, warum Prinzessin Leia Organa aus Star Wars R2-D2 in einer Rettungskapsel auf den Planeten Tatooine schickt, statt einfach eine SMS zu senden, ist aber sowohl von Ambition wie Umfang her eine unterhaltsame Petitesse und gehört wenn schon auf die Sachbuch-Bestsellerliste, nicht aber auf eine Belletristik-Liste.
    9) Paolo Coelho: "Untreue"
    Deutsch von Maralde Meyer-Minnemann.
    Diogenes Verlag, 315 Seiten, 19.90 Euro.
    In diesem in jeder Hinsicht miserablen Roman über eine Schweizer Journalistin, die ihren Mann betrügt, gibt es eine Szene, in der die Journalistin einen Gleitschirmflug unternimmt und dabei einem Adler begegnet, der zu ihr sagt:
    "Komm. Du bist der Himmel und die Erde; der Wind und die Wolken; der Schnee und die Seen."
    Ich bin kein Adler, höchstens ein Geier, der über dieser literarischen Müllkippe von einem Roman kreist. Aber nach 300 Seiten möchte ich zu diesem Autor sagen: "Komm. Lass den Kitsch und den Quatsch; das Geschwalle und das Esoterikblabla: Dieser Blödsinn ist zum Federnausreißen!"
    8) Dave Eggers: "Der Circle"
    Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
    Kiepenheuer & Witsch, 560 Seiten, 22,99 Euro.
    Die Zukunft, die Dave Eggers in seiner Dystopie "Der Circle" beschreibt, wird leider jeden Tag mehr Wirklichkeit. Eggers Roman führt ins Zentrum einer überfälligen politischen Diskussion. Anfang dieses Monats hat etwa Facebook seine Geschäftsbedingungen in einer Weise geändert, die bundesdeutschen Datenschutzregeln Hohn spricht, und diese skandalöse Geschäftspraktik mit dem windelweichen Argument verteidigt, dass Fatzebook nicht deutschem Recht unterläge. Völker der Welt: Lest dieses Buch und verändert die Wirklichkeit!
    7) Nele Neuhaus: "Die Lebenden und die Toten"
    Ullstein, 554 Seiten, 19,99 Euro.
    Im Taunus wütet ein Serienkiller, der seine Opfer ohne Motiv auszuwählen scheint, bis schließlich der Zusammenhang mit einem Organtransplantationsskandal erkennbar wird. Dieser Krimi ist in seiner Vorhersehbarkeit so einschläfernd, dass er unter das Betäubungsmittelgesetz fallen müsste.
    6) Jürgen von der Lippe: "Beim Dehnen singe ich Balladen"
    Knaus, 224 Seiten, 14,99 Euro.
    Mir persönlich ist der Humor von Jürgen von der Lippe oft zu zotig. Auch diese Sammlung komischer Texte mit ihren forcierten Pipi-Kaka-Pointen ist not "my cup of tea". Sollte mich aber demnächst ein Ausländer fragen, welches Buch er lesen soll, wenn er etwas vom deutschen Wesen begreifen möchte, werde ich ihm Jürgen von der Lippes Buch schenken.
    5) Ken Follet: "Kinder der Freiheit"
    Deutsch von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher.
    Lübbe, 1.211 Seiten, 29,99 Euro.
    Natürlich kann man Zeitgeschichte auch als Familienroman erzählen - was tut Tolstoi in "Krieg und Frieden" denn schon anderes? Doch der Schweinsgalopp, in dem Ken Follett die prägenden Gestalten des 20. Jahrhunderts von John F. Kennedy über Nikita Chruschtschow und Martin Luther King über den Laufsteg seines Romans jagt, lässt sein literarisches Unternehmen kalkuliert, langweilig und abgeschmackt erscheinen. Weniger ein Roman, eher historisches Whalewatching.
    4) Robert Seethaler: "Ein ganzes Leben"
    Hanser Berlin, 160 Seiten, 19,90 Euro.
    Robert Seethaler erzählt in ganz schlichten Sätzen das ganz schlichte Leben des alpenländischen Holzknechts und späteren Seilbahnbauers Andreas Egger, erreicht mit einem Minimum an Aufwand aber ein Maximum an Wirkung. Den erstaunlichen Erfolg seines schmalen, aber nicht belanglosen Romans erklärt wohl die Sehnsucht nach einem Innehalten, einer Verschnaufpause inmitten der unablässigen Akzeleration, die unser aller Leben erfasst. Dieser Roman ist sowohl eine Einladung zur Kontemplation, etwa in seinen Naturschilderungen, als auch ein Angebot zur Orientierung, indem er darüber nachdenkt, was ein Leben bestimmt und wo Glück zu finden ist.
    3) Sebastian Fitzek: "Passagier 23"
    Droemer, 432 Seiten, 19,99 Euro.
    Ein Undercoverpolizist geht nach Jahren den Umständen des Todes seiner Frau und seines Sohns auf einem Kreuzfahrtschiff nach. Wer sich nicht an der schablonenhaften Charakterisierung, dem abstrusen Plot, der hölzernen Sprache, der klischeedurchsetzten Weltsicht und der mit Lust an der Brutalität zelebrierten Folterszenen dieses Gewaltpornos stört, der ist entweder tot oder mit dem Autor verwandt.
    2) Ian McEwan: "Kindeswohl"
    Deutsch von Werner Schmitz.
    Diogenes, 225 Seiten, 21,90 Euro.
    Ian McEwan ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Autoren Großbritanniens. Sein neuer Roman wird landauf, landab als Meisterwerk gefeiert. Tatsächlich ist er aber die erste große literarische Enttäuschung dieses Jahres. Die Geschichte um eine 60-jährige Familienrichterin in einer Ehekrise und einen 17-jährigen an Leukämie erkrankten Zeugen Jehovas mit Dichterambitionen ist heillos überfrachtet mit juristischen Fallbeispielen und wenig mehr als eine billige Schmonzette, eher einer Rosamunde Pilcher würdig als eines Ian McEwan.
    Platz eins der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Belletristik:
    Michel Houellebecq: "Unterwerfung"
    Deutsch von Norma Cassau und Bernd Wilczek.
    DuMont Verlag, 272 Seiten, 22,99 Euro.
    Die Umstände, die diesen Roman auf den Spitzenplatz der deutschen Bestsellerliste katapultiert haben, sind himmelschreiend traurig - Houellebecqs Roman aber eine schiere Freude. Ein faszinierendes Gedankenspiel steht im Mittelpunkt von "Unterwerfung":
    Angenommen, ein muslimischer Präsidentschaftskandidat fände im Jahr 2022 in Frankreich durch Parteienzwist eine Mehrheit der Wähler, wo lägen in der französischen Gesellschaft Ressourcen des Widerstands gegen eine Islamisierung des öffentlichen Lebens? Insbesondere, wenn diese durch arabische Petrodollars lukrativ verkauft wird? Wie bei den grandiosen frühen Asterix-Comics bleibt zwar ein Teil von Houellebecqs satirischen Spitzen gegen die neue muslimische Kollaboration bei der Eindeutschung auf der Strecke, aber auch auf Deutsch vermittelt sich, wie grandios Michel Houellebecq hier in der Tradition Voltaires die Okkupation des öffentlichen Raums durch Religion und die Korrumpierbarkeit von uns ach-so-aufgeklärten Intellektuellen geißelt.