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"Spiegel"-Bestsellerliste Sachbuch Dezember 2010

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck |
    Die Spiegel-Bestsellerliste "Sachbuch

    10) Roger Willemsen: "Die Enden der Welt" (S. Fischer, 541 Seiten 22,95 Euro)
    Nicht selten besteht der Zaun am Ende der Welt aus den Brettern vor unseren eigenen Köpfen. Roger Willemsen entgeht dieser Gefahr in sei- nen gesammelten Reisereportagen, weil er die Augen aufmacht, die Ohren spitzt und die Welt nicht mit einer Vorlage für eine Powerpoint-Präsentation verwechselt.

    9) Kirstin Heisig: "Das Ende der Geduld" (Herder, 208 Seiten, 14,95 Euro)
    Ein Buch, das unangenehme Fragen stellt: Warum vermag unsere Gesellschaft Kleinkriminalität nicht mehr effektiv zu sanktionieren? Wer hat den für jede Erziehung grundlegenden Mechanismus lahmgelegt, dass auf Regelübertretungen schnelle und konsequente Strafen folgen müssen? Die verstorbene Richterin Kirstin Heisig zeigt auf, wie man es besser machen könnte.

    8) Axel Hacke, Giovanni di Lorenzo: "Wofür stehst du?"
    (Kiepenheuer & Witsch, 230 Seiten, 18.95 Euro)
    Zwei der wortgewandtesten Sympathiefexe der Republik, Axel Hacke und Giovanni di Lorenzo, denken in einem kurzweiligen Wirbel auto- biografischer Anekdoten darüber nach, was sie in ihren Wertvorstellungen fürs Leben geprägt hat. Das kann die Liebensweisheit des eigenen Opas sein oder ein Gedicht von Ingeborg Bachmann. In einem sind sich beide einig: "Was zu den größten Aufgaben eines jeden Menschen zählt: eine eigene Haltung zu entwickeln. Nicht ohne Bewusstsein im Strom der vielen zu leben."

    7) Thilo Bode: "Die Essensfälscher" (S. Fischer, 222 Seiten, 14.95 Euro)
    Vorsicht vor diesem Buch: Es könnte Sie so wütend auf den kulinarisch-industriellen Komplex in Europa machen, dass Sie nach der Lektüre nicht nur die Lust am Schwarzwälder Schinken verlieren, sondern überhaupt am konfektionierten Industriefraß. Am Ende fangen sie noch an wirklich zu kochen.

    6) Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: "Das Amt und die Vergangenheit"
    (Blessing Verlag, 880 Seiten, 34.95)
    Die Splitter, Balken und sonstigen blinden Flecken in der Wahrnehmung unserer Altvorderen entbehren oft nicht einer gewissen Komik. Die Legende vom aufrechten, vom anständig gebliebenen deutschen Diplomaten zählt dazu. Diese Studie belegt minutiös, dass sich das Auswärtige Amt während der Nazizeit den neuen Machthabern willig zur Verfügung stellte, ja mit ihnen teilweise identisch war. Wie denn auch anders in einem System, das man Totalitarismus nennt? Für mich hat dieses Buch daher den Nachrichtenwert, dass in Kläranlagen menschliche Exkrementen gefunden wurden. Lesenswert ist es dennoch.

    5) Ronald Reng: "Robert Enke" (Piper, 426 S., 19.95 Euro)
    Dieses Buch trägt bei aller aufklärerischen Absicht zum Thema Depression durchaus seinen Teil bei zur idiotischen Heroisierung des Sports, zur Verblödung insbesondere der deutschen Männer und zur Verödung unserer Medien durch die groteske Überschätzung jenes nationalen Irrsinns namens Fußball, der daraus resultieren- den Überhöhung des Banalen und der Banalisierung des Hehren, zum Verlust von Werten und zur Eintrübung des ästhetischen Geschmacks. Früher wurden solche Bücher über abgeschossene Fliegerasse oder ums Leben gekommene Entdeckungsreisende geschrieben. Ein Buch, mit dem ich daher wenig Federlesens mache.


    4) Richard David Precht: "Die Kunst kein Egoist zu sein"
    (Goldmann, 544 Seiten, 19.99 Euro)
    In seinem neuen Buch erklärt Richard David Precht, wie der Mensch moralfähig wurde, warum Wirtschaft und Politik auch ohne Moral blendend funktionieren und wieso dennoch "eine Wiederbelebung bürgerlicher Tugenden" erforderlich ist. Ein gutes Buch, das bessere Menschen aus uns machen kann.

    3) Loki Schmidt: "Auf dem roten Teppich"
    (Hoffmann und Campe, 233 Seiten, 20 Euro)
    Dieses schnörkellose Interviewbuch bietet noch einmal Gelegenheit, die Stimme einer Frau zu vernehmen, die fehlt: die Stimme von Loki Schmidt. Schwer zu sagen, ob das nun eine oral history der Bundesrepublik oder nicht eher eine Sammlung netter Dönnekens aus dem Kanzlerbungalow sind. Empfehlen kann ich in jedem Fall dieses letzte Buch von Loki Schmidt, das sie zusammen mit dem Biologen Lothar Frenz geschrieben hat: das "Naturbuch für Neugierige" dokumentiert Loki Schmidts lebenslange Passion als Naturforscherin und bringt einem alles Wissenswerte über Klatschmohn und Torfmoose nahe.

    2) Keith Richard und James Fox: Life (Deutsch vonWilli Winkler, Ulrich Thiele
    und Wolfgang Müller, Heyne, 736 S. 26.99 Euro)
    Dieser Autor soll, so erfahre ich aus seinem Buch, mit einer englischen Musikkapelle seit mehreren Jahrzehnten nicht unerfolgreich musizieren. Das freut mich von ganzem Herzen für ihn. Denn wie diese wirr zusammengestoppelte Lebensbeschreibung belegt: Schreiben kann er selbst dann nicht, wenn ihm ein Journalist die Feder führt.

    1) Thilo Sarrazin: "Deutschland schafft sich ab"
    (DVA, 464 Seiten, 22,99 Euro)
    Ein in seinen biologistischen Argumentationen reichlich irres, aber kein triviales Buch. 50.000 Euro für jedes Kind von einer Akademikermutter vor Vollendung ihres 30. Lebensjahres schlägt Thilo Sarrazin vor, "allerdings nur selektiv eingesetzt", so Sarrazin, für eine "höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der soziökonomischen Qualität der Geburtenstruktur". Ich sage dazu deutsche Karnickelprämie und möchte lieber aussterben als in einer Sarrazin-Welt leben.