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Spielplanermittlung via Publikumsumfrage

Die Idee des Thalia Theaters, Zuschauer über den Spielplan abstimmen zu lassen, hat für Aufsehen gesorgt. Ob man künstlerische Ausdrucksformen dem Urteil der Mehrheit unterwerfen darf, darüber gingen die Meinungen weit auseinander. Heute endete die Abstimmung. Als Favorit für Platz gilt Thornton Wilders "Wir sind noch einmal davon gekommen".

Von Michael Laages | 17.12.2011
    Bis kurz vor Urnenschließung heute Mittag um 12 Uhr lag ein weithin vergessener Text des Dramatikers Thornton Wilder auf - immerhin - Platz fünf, also gleich hinter dem Einlauf der wahrscheinlichen Sieger: Wilders Titel "Wir sind noch einmal davon gekommen" steht für eine Hoffnung, die sich für die Hamburger Ideenstifter eher nicht erfüllen wird. Sie kommen höchstwahrscheinlich nicht davon, nicht einmal mit einem blauen Auge - der Volksentscheid über den nächsten Thalia-Spielplan blieb, was er von Beginn an war: eine schlimme Schnapsidee. Der Kater wird gewaltig werden.

    Zunächst erschien es ja bloß ulkig, wie sich weniger das Publikum, als vielmehr einschlägig interessierte Theatermacher die Idee unter den Nage rissen - wenn alles möglich ist und sogar Chancen hat, wenn nur genügend gute Freunde mit-voten (so heißt wählen heute!), dann könnte es ja auch das eigene Stück sein, das sonst kein halbwegs vernünftiges Theater haben will. Und so besetzten dann eben nicht die Julia und der Romeo die Top-Plätze der Weihnachtswunschliste, sondern zum Beispiel "Peers Heimkehr" von Emig, Hopf und Schmidt - wer immer die sind; und was immer sich verbirgt hinter einer Art Heavy-Metal-Musical, das noch immer in Führung lag bis vor kurzem. Eine echte Kostbarkeit ist bestimmt auch "Die Erbsenfrau" von Jens Nielsen, erste Text-Auszüge auf der Thalia-Website lassen Erstaunliches befürchten. Amelie Deuflhard, Chefin der Hamburger Kulturfabrik, animierte interessierte Kreise, eine Wiederinszenierung von Robert Wilsons klassischem "Black Rider" zu favorisieren; angeblich habe der Meister schon Bereitschaft signalisiert - eine Aufguss-Idee, die den ganzen Schwachsinn der Wahl markiert. Mit im Spitzen-Quartett war bis kurz vor Schluss auch noch "Jack the Ripper", ein Musical, und bestimmt schön blutig. So viel immerhin wurde klar - aus der Riege der Top-Theater in Deutschland würde sich das Thalia Theater mit derart viel krausem Zeug auf einmal für eine Weile verabschieden; unabhängig davon, ob die vier Publikumsstücke überhaupt das Zeug hätten, Abend für Abend 800 Stück Publikum ins Große Haus zu locken.

    Mal sehen, wie das Thalia Theater raus kommt aus dieser selbst gestellten Zwickmühle – immerhin konnte die hier beschworene Mehrheit jeweils interessierter Stimmen durch einen ordentlichen Schub von Internet-Stimmen von einem Tag zum anderen noch gekippt werden. Es geht ja nicht um irgendeine Form von Repräsentativität, sondern um populistische Ad-hoc-Mehrheiten sozusagen auf Zuruf. Aber wer das Volk auf diese Weise ruft, muss dann gehorchen - wie die Grünen in Stuttgart ja gerade schmerzlich erfahren haben. Mit Blick aufs Theater allerdings beweist sich in der Thalia-Idee sehr drastisch einer jener strategischen Irrtümer, dem gerade jene Kunst-Macher gerne unterliegen, die immer ganz besonders mit der Nase vorneweg im Wind sein wollen, hip und modern – sie raunen dann marktorientiert und gar nicht ironisch irgendwas von "Dienstleitungsgesellschaft", rennen aber im Grunde nur blindlings einem Trugbild hinterher: einem Trugbild vom Wesen der Kunst; besser: der Künste.

    Die ist (und die sind) nämlich nicht von sich aus demokratisch; wer Entscheidungen über künstlerische Ausdrucksformen dem Urteil der Mehrheit unterwirft, oder gar der Masse, läutet freier Kunst das Sterbeglöcklein. Kein Theater, das sich den Steuergeldern der Gesellschaft als Ganzes verpflichtet fühlt, darf sich der Entscheidung zufälliger Mehrheiten unterwerfen; auch nicht innerhalb der Minderheit derer, die sich überhaupt für so etwas interessieren. Was bei einem Bahnhofs-Um- oder Neubau gerade so eben noch angehen mag, gilt eben nicht für ein Museum, nicht für die Literatur, für keine ernsthafte Zeitung und auch kein gutes Radio – entscheidend ist, in der Kunst oder an der Grenze zu ihr, die Überzeugungskraft derer, die Künstler sind, und sein müssen, oder wenigstens Vermittler von Kunst: also Museumsleiter, Schriftsteller und Verleger, Medien- und Theater-Intendanten. Geben sie alle dieses Selbst-Bewusstsein des Machers auf und ab, das des Gestalters, des Ideenstifters – dann sind sie überflüssig.

    So könnte speziell ein Theater, das sich den halben Spielplan vom Publikum vorschreiben ließe, vor allem einiges an Personal sparen: die halbe Dramaturgie mindestens, und den halben Intendanten gleich mit. Nein – das Hamburger Thalia-Projekt war und bleibt Unfug, wie immer das Ergebnis heute ausfällt, gefährlicher, populistischer, kunstferner Unfug. Und August Everding selig hatte schon recht – wer dem Publikum immer nur hinter her rennt, sieht es immer nur von hinten.