Dienstag, 19. März 2024

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Sportliteratur auf der Buchmesse
Außergewöhnliche Persönlichkeiten und ein Boykottaufruf

Der Kampf mit der eigenen Psyche allein auf dem Meer, ein Boykottaufruf der WM in Katar, das deutsch-französische Fußballdrama 1982, die Tugend des Fair Play in der Person von Gottfried von Cramm und ein Duell zweier Großmütter auf dem Sprungturm - sportliterarische Lesefrüchte von der Frankfurter Buchmesse.

Von Jessica Sturmberg | 24.10.2021
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Sportbücher der Frankfurter Buchmesse (Jessica Sturmberg)
Ein Mann im Meer ganz auf sich allein gestellt, auf dem Weg einmal den Erdball zu umsegeln im einem Wettstreit mit 32 Konkurrentinnen und Konkurrenten. Eine gefährliche Reise, zugleich medial intensivst verfolgt, jeden Tag soll mindestens ein Video gepostet werden von der Einsamkeit auf dem Wasser und den Herausforderungen insbesondere durch die Stürme.
Einhandsegler Boris Herrmann erzählt zusammen mit dem Journalisten und ebenfalls leidenschaftlichen Segler Andreas Wolfers von seinen mehr als 80 Tagen bei der Segelregatta Vendée Globe, dem weltweit härtesten und herausfordernsten Segelwettkampf. Boris Herrmann liegt kurz vor Schluss aussichtsreich auf den Sieg im Rennen, als er wenige Seemeilen vor dem Ziel mit einem Fischerboot kollidiert. Verletzt wird niemand, Herrmann wird am Ende Fünfter. Während der gesamten Regatta erhielt Andreas Wolfers täglich lange Sprachnachrichten von Boris Herrmann, die er in einen spannend zu lesenden Text goss. Dabei wird deutlich, dass diese Regatta weit mehr verlangt, als das Handwerk des Segelns.
Portrait von Andreas Wolfers bei der Buchmesse Frankfurt
Autor Andreas Wolfers (Deutschlandradio / Jessica Sturmberg)
Boris Herrmann mit Andreas Wolfers: "Allein zwischen Himmel und Meer",
Verlag C.Bertelsmann, 320 Seiten, 22 Euro
Dazu geben einige Bilder Einblicke in das einsame Leben "Allein zwischen Himmel und Meer"erschienen im Bertelsmann Verlag.
Der Segelverlag Delius Klasing gibt im November darüber hinaus noch einen umfassenden Bildband heraus mit Begleittexten und einem speziellen Fokus auch auf die Seaexplorer, dem Segelschiff von Boris Herrmann.
Birgit Radebold, Jochen Rieker, Jörg Weusthoff: "Boris Herrmann, Seaxplorer",
Verlag Delius Klasing, 208 Seiten, 49,90 Euro
Um eine völlig andere Reise, eine, die nach Ansicht von Bernd Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling verhindert werden muss, geht es in "Boykottiert Katar 2022 - Warum wir die FIFA stoppen müssen". Auf 160 Seiten tragen die beiden Autoren alle Argumente zusammen, die gegen eine Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in dem Wüstenstaat sprechen: Keine Presse- oder Religionsfreiheit, keine Frauenrechte, keine Diversität, keine Arbeiterrechte, keine Demokratie, Antisemitismus und eine korrupte Fifa. Die beiden Autoren zeichnen den Weg zu dieser Entscheidung, die 2010 fiel, nochmal nach und charakterisieren die FIFA-Mitglieder, die das entschieden haben.
Aufruf zum Boykott der WM in Katar
Die Botschaft in dem Buch ist so klar wie der Titel – ein Aufruf zum Boykott, sprachlich untermauert mit Begriffen wie Korrumpels für die Strippenzieher im Fußballweltverband oder Fifacrazy als Bezeichnung für wenig demokratisches Handeln im Verband.
Portrait von Dietrich Schulze-Marmeling bei der Buchmesse Frankfurt
Autor Dietrich Schulze-Marmeling (Deutschlandradio / Jessica Sturmberg)
Bernd Beyer, Dietrich Schulze-Marmeling: "Boykottiert Katar 2022! Warum wir die Fifa stoppen müssen",
Verlag Die Werkstatt, 160 Seiten, 12,90 Euro
Boykottiert Katar 2022 – der Aufruf von Dietrich-Schulze-Marmeling und Bernd Beyer, erschienen im Werkstatt-Verlag. Dieser hat in diesem Jahr auch ein Buch über die besondere Saison 71/72 nach dem Erdbeben des Bundesliga-Skandals herausgebracht, das im Rahmen der Buchmesse von der deutschen Akademie für Fußballkultur als Fußballbuch des Jahres ausgezeichnet wurde.
Bernd Beyer: "71/72 Die Saison der Träume",
Verlag Die Werkstatt, 352 Seiten, 22 Euro
Es gibt inzwischen ein ausgeprägteres Bewusstsein für das eigene Handeln im politischen Kontext bei vielen Sportlerinnen und Sportlern auch im Vergleich zu früheren Jahrgängen. Vor gut 40 Jahren war der Sport noch stärker geprägt vom Gedanken des Gegnerischen, des sportlichen Feindes.
Eine Nacht, die sich nicht zum Feiern eignete
Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1982 gab es ein Spiel, das als solches betrachtet werden kann: Das Halbfinale Deutschland – Frankreich. Die Nacht von Sevilla. Dieses Spiel gehört zu denen, die sich in das kollektive Gedächtnis all derjenigen eingebrannt haben, die es als Zeitzeugen erlebten, und die ihre Emotionen des Augenblicks womöglich noch heute reproduzieren könnten.
Die besondere Dramaturgie dieses Spiels, der Kontext zu diesem deutsch-französischen Drama und seien Nachwirkungen bis heute, sind im Buch von Stephan Klemm "Die Nacht von Sevilla '82" verfasst.
Ein Spiel, in dem die Franzosen den eleganteren, den schöneren Fußball spielen, die größeren Chancen haben, jedoch das deutsche Team mit einigem Glück, aber auch einem kampfbetonten Spiel am Ende im Elfmeterschießen gewinnt. Bevor Horst Hrubesch den letzten Elfmeter versenkt, ist es Torhüter Schumacher, der zwei Elfmeter hält und zunächst im Rausch der Freude über den Finaleinzug als Held gefeiert wird.
Dabei eignet sich der Abend nicht zum Feiern und erst recht nicht für Schumacher. Die Nacht von Sevilla bleibt ewig verbunden mit der 57. Minute, dem Moment, in dem der französische Abwehrspieler Patrick Battiston sieben Minuten nach seiner Einwechslung einen wunderbaren Pass bekommt von Platini, auf das deutsche Tor zurasend, Schumacher rast ebenso in Volltempo auf Battiston zu, springt ihm entgegen, trifft ihn mit der Hüfte und voller Wucht und Härte.
 Torwart Harald Schumacher BR Deutschland streckt Patrick Battiston Frankreich, re. nieder
Deutschlands Torwart Toni Schumacher kracht mit Frankreichs Patrick Battiston zusammen. (IMAGO / WEREK)
Der niederländische Schiedsrichter sieht den Moment des Zusammenpralls nicht und zeigt daher nicht – wie es richtig gewesen wäre – die rote Karte. Die Franzosen sind empört.
Doch was ist vor dem Spiel passiert, warum war Toni Schumacher so aufgeladen in und auch direkt nach dem Spiel? Warum ging er nicht direkt zu Battiston, warum hat er ihn nicht im Krankenhaus besucht? Stattdessen davon geredet, er würde ihm die Jacketkronen bezahlen? Wie sieht er das heute und was ist aus Battiston geworden? Fragen, denen Stephan Klemm nachgegangen ist und dabei mit einigen falschen Erzählungen, die fast 40 Jahre in Deutschland kursierten, aufräumt.
"Tatsache ist, dass er vier Zähne verloren hat, dass er sich einen Wirbelbruch zugezogen hat und dass er im Laufe der Zeit inzwischen insgesamt sechs Mal am Kiefer operiert werden musste wegen dieser vier Zahnverluste und dass er wetterfühlig ist. Das heißt also wenn es regnet, das merkt er, weil sein Kiefer dann ganz besonders schmerzt. Obendrein – wegen dieser ganzen Verletzungen, die ihn heute noch mitnehmen und die ihn damals besonders getroffen haben, hat er auch hin und wieder so – wie man im Französischen sagt "Coup de déprime" – depressive Verstimmungen. Er ist noch nicht in therapeutischer Behandlung deshalb, aber das hat ihn schon sehr mitgenommen."
Aber darüber reden will Battiston heute nicht mehr, auch wenn sein Leben an dem Abend eine entscheidende Prägung nahm, will er sich nicht ewig weiter damit in Interviews auseinandersetzen.
So konnte auch Stephan Klemm nicht mit ihm selbst darüber reden, sprach dafür aber u.a. mit 13 deutschen, drei französischen Spielern, Co-Trainer Erich Ribbeck, den beiden französischen Reportern, ZDF-Reporter Rolf Kramer und fand eine Dokumentation, in der Battiston letztmalig ausführlich darüber sprach am Ort des Geschehens.
"Der ist dann über das Spielfeld gewandelt an der Stelle, an der er losgelaufen ist auf Schumacher zu und die Eindrücke, die er damals hatte, hat er da geschildert. Es ist eine sehr eindrucksvolle Beschreibung eines Zustands eines Mannes, der kurz darauf mit jemandem zusammentrifft derart heftig, dass es sein ganzes Leben verändert."
Diesen Moment des Spiels, diese 57. Minute, beschreibt Klemm wie in Zeitlupe, montiert dazu wie in einer filmischen Dokumentation heutige Einordnungen der Beteiligten, vor allem von Toni Schumacher und komponiert das zu einem umfassenden Gesamtwerk über diese besondere Fußballnacht. Wer sie damals live erlebt hat, wird wieder hineingeworfen in das Drama und erhält Antworten auf offene Fragen.
Stephan Klemm: "'82 Die Nacht von Sevilla - Ein deutsch-französisches Fußballdrama",
Verlag Eriks Buchregal, 192 Seiten, 24,90 Euro
Einer der Gesprächspartner von Stephan Klemm war auch Gernot Rohr, der Großneffe von Oskar "Ossi" Rohr, dem Starspieler Anfang der 30er Jahre. Von ihm handelt die Graphic Novel: "Ein Leben für den Fußball": Oskar Rohr schoss im Finale um die deutsche Meisterschaft 1932 den FC Bayern München unter Präsident Kurt Landauer zum ersten Titelgewinn. Als mit den Nazis Landauer und auch andere jüdische Fußballgrößen fliehen mussten oder später ermordet wurden, ging auch Oskar Rohr ins Ausland und war einer der ersten deutschen Spieler, die im Ausland als Profifußballer tätig waren.
Oskar Rohr - einer der ersten Auslandsprofis galt als Verräter
Zu Hause galt er damit als Verräter, wurde später verhaftet und danach an die Ostfront geschickt. Er überlebte, laut Berichten, weil er wegen seiner früheren Popularität rechtzeitig einen Platz in einem Flugzeug bekam, trotz einer nur leichten Verletzung.
In der Graphic Novel im Carlsen Verlag ist seine Geschichte nachgezeichnet, für junge Leserinnen und Leser, aber auch Erwachsene geeignet. Dabei kreuzen seine Wege auch die von Julius Hirsch, Gottfried Fuchs oder Walter Bensemann, dem Wegbereiter des Deutschen Fußball Bundes und Gründer des Fußballmagazins kicker. Deren Schicksale werden im Buch ebenfalls thematisiert.
Julian Voloj, Marcin Podolec: "Ein Leben für den Fußball",
Verlag Carlsen, 160 Seiten, 22 Euro
Die beiden Omas Cäcilia und Elfriede zeigen auch in hohem Alter Kunstsprünge vom Turm
Illustration aus dem Kinderbuch "Duell der Grossmütter" (Tulipan Verlag)
Für ein noch jüngeres Publikum gibt es aus dem Tulipan Verlag ein Buch über alte Rivalitäten zweier Damen im fortgeschrittenen Alter: "Das Duell der Großmütter."
Ein herrliches Duell am Sprungturm
Cäcilia und Elfriede sind jeweils mit ihren Enkeln Hubert und Otto im Freibad. Doch statt Badespaß kommt es zunächst zu einem für die Jungs unverständlich verbissenen Wettkampf der beiden alten Damen:
"Oma Cäcilia sah zum Sprungturm.
»Das waren noch Zeiten, als wir auch so vom Turm gesprungen
sind«, schwelgte sie in Erinnerungen. »Heute kannst du das sicher nicht mehr.«
Oma Cäcilia stellte sich breit vor Großmutter Elfriede hin.
»So etwas verlernt man nicht.«
»Natürlich.«
»Nur weil du nicht mehr das Zeug dazu hast, muss das für mich nicht gelten.«
»Du glaubst, ich zähle zum alten Eisen?« Elfriede funkelte Oma Cäcilia an.
»Ich wüsste nicht, wann ich jemals gegen dich im Wettkampf
verloren habe.«
»Dann melden wir uns zum Turmspringen an!«, schrie Elfriede.
Hubert und Otto hörten den beiden kopfschüttelnd zu.
»Oma, ihr macht doch nur Spaß?«, fragte Hubert."
Nein, es ist vollkommener Ernst und die beiden früheren Kunstturmspringerinnen duellieren sich nicht nur, sie übertragen ihren sportlichen Ehrgeiz auch auf ihre beiden Enkel bei der großen Badematratzenregatta.
Diese nimmt aber einen völlig unerwarteten Verlauf, es gewinnt nicht der verdiente Sieger. Dass er nicht zu Recht den ersten Preis gewinnt, hält der offizielle Gewinner aber nicht aus und reicht den Preis am Ende doch an den wahren Sieger und ist dann irgendwie doch ein Gewinner
Eine Geschichte, die dem jungen Publikum schon früh die Werte von Fair Play vermittelt und dazu noch einen amüsanten Zweikampf im Kunstspringen abbildet.
Hannes Wirlinger, Volker Fredrich: "Das Duell der Großmütter",
Verlag Tulipan, 56 Seiten, 16 Euro
Einer der größten, wenn nicht der größte Verfechter von Fair Play in der Sporthistorie ist der Tennisspieler Gottfried von Cramm. In diesem Herbst sind gleich zwei Bücher über ihn herausgekommen. Eine Biographie im rowohlt Verlag und ein Roman bei Ullstein mit dem Titel "Julius oder die Schönheit des Spiels". Letzterer ist eine fiktionalisierte Hommage an den Spieler, der in den 30er Jahren seine sportliche Blüte erlebte, aber durch die Nationalsozialisten viele bittere Rückschläge erlebte, im Gestapo-Gefängnis saß, weil ihm eine Affäre zu einem Mann zum Verhängnis wurde.
Eine Hommage an Tennislegende Gottfried von Cramm
Tom Saller hat den Roman geschrieben und sich bewusst entschieden von der historischen Person Gottfried von Cramm zu lösen und begründet das so:
"Es war insofern wichtig, weil ich erzählerisch unbedingt das Rheinland reinbringen wollte bzw. Die Entstehung der rheinischen Republik, ein historischer – man muss fast sagen – ein Wimpernschlag deutscher Geschichte, von dem ich noch nie gehört hatte, aber was ich total spannend fand. Dass es damals 1923 schon so eine Bestrebung im Westen Deutschlands gab, absolut unterstützt und bestärkt auch durch Konrad Adenauer, sich von dem preußischen Militarismus abzuwenden."
Und damit ist er dann doch wieder von Cramm sehr nahe, der einen ausgeprägten liberalen, weltoffenen, und zugleich sehr feingeistigen Lebensstil prägte. Dem von seinem Vater schon früh ein sehr ausgeprägter Sinn für Respekt und Fair Play mitgegeben wurde. So heißt es im Buch: "Man durfte gewinnen, musste es aber nicht. Auch eine vermeintliche Niederlage konnte sich als Sieg erweisen. Es kam schlicht auf die Haltung an."
Drei Mal stand er im Wimbledon-Finale und verlor, belegte Platz 2 der Weltrangliste und war international der beliebteste deutsche Sportler, dem selbst in der Nazizeit großer Respekt entgegengebracht wurde.
Der Brite Fred Perry und Gottfried von Cramm begrüßen sich herzlich vor einem Match am 2. Juni 1936
Der Brite Fred Perry und Gottfried von Cramm begrüßen sich herzlich vor einem Match am 2. Juni 1936 (imago)
Sein Verständnis von Fair Play ging sogar so weit, dass er sich intern nicht immer beliebt machte.
"Im Roman beschreibe ich eine Szene, die auch historisch belegt ist, ein Davis Cup-Spiel gegen die USA, wo Gottfried von Cramm einen Ball des Gegners passieren lässt, der auch im Aus landet. Also Punkt für Deutschland und Gottfried reklamiert sofort, obwohl es niemand im Publikum gemerkt hat, er sei so ganz, ganz zart mit seiner Besaitung, mit der Bespannung noch am Ball dran gewesen, so dass der Schiedsrichter daraufhin den Punkt den Amerikanern gegeben hat und die im weiteren Verlauf das Match gewonnen haben. Womit Deutschland komplett dieses Davis Cup-Spiel verloren hat. Und da hat es sogar unter seinen Mitspielern oder speziell dem Davis Cup-Kapitän hat es richtig Stress gegeben. So nach dem Motto, hey, man kann aber auch alles übertreiben. Aber er konnte und wollte eben nicht aus seiner Haut – jetzt wohlbemerkt noch auf Sport bezogen – Fairness um jeden Preis und keinesfalls gewinnen um jeden Preis."
Ein Roman, der Politik, Sport und Gesellschaft feuilletonistisch verwebt und damit mehr vermittelt als die historische Person Gottfried von Cramms.
Tom Saller: "Julius oder die Schönheit des Spiels"
List, 368 Seiten, 22 Euro
Eine ebenso feingeistige Huldigung eines gegenwärtigen Tennishelden hat der Verlag Kiepenheuer Witsch herausgebracht. Der amerikanische Literat David Foster Wallace hat in einem Essay Roger Federer gewürdigt, ihm ein sprachgewaltiges Denkmal gesetzt.
Schon jetzt schwingt Wehmut mit vor dem Tag, an dem der inzwischen 40-Jährige ganz von der Tennis-Bühne abtritt.
David Foster Wallace: "Roger Federer - Eine Huldigung",
Verlag Kiepenheuer Witsch, 112 Seiten, 10 Euro