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Sprachenstreit in der Ukraine

Im Alltag der Ukraine existierten die Sprachen Ukrainisch und Russisch bislang nebeneinander. Doch vor dem Hintergrund der politischen Bemühungen um eine Annäherung an den Westen wird darüber gestritten, welchen Status das Russische in Zukunft haben soll. Florian Kellermann berichtet.

    Galina Popowa sang früher auf kleinen Bühnen, bei Betriebsfeiern und in Nachtklubs. Das ist lange vorbei. Heute ist der Arbeitsplatz der 75-Jährigen eine U-Bahn-Unterführung in der Innenstadt von Charkow. Die paar Kopeken, die ihr die Menschen zustecken, braucht die Rentnerin dringend. Obwohl sie in der Stadt kaum genug zum Leben hat, ist Galina Popowa stolz darauf, in Charkow zu leben, die sowjetischste unter den ukrainischen Großstädten. Nach der Oktoberrevolution saß hier sogar die Regierung der ukrainischen Sowjetrepublik. Kein Wunder: Charkow ist eine Arbeiterstadt und liegt nur 40 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt.

    Vor allem die Rentner in Charkow sind verstört über den Präsidenten Viktor Juschtschenko und seine nach Westen orientierte Politik. So auch Galina Popowa, die selbstverständlich Russisch und nicht Ukrainisch spricht.
    "Wir sind doch alle Russen. Kiew, Ukraine - hier war doch im Mittelalter die Wiege der Kiewer Rus. Russland ist deshalb wie eine Schwester für uns. Und unsere Regierung? Die wirft sich an Amerika ran. Da brauchen wir uns nicht wundern, wenn Russland uns den Gaspreis erhöht hat."

    Natürlich hat Galina Popowa nicht ganz Recht: Die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine waren seit jeher angespannt, jahrhundertelang fühlten sich viele Ukrainer von Moskau unterdrückt. Eines aber ist Fakt: 90 Prozent der Einwohner in Charkow sprechen Russisch - wie in allen Großstädten im Osten und Süden des Landes.

    Deshalb hat der Charkower Stadtrat dem Russischen offiziell den Status einer Regionalsprache verliehen. Was davon zu halten ist, an dieser Frage scheiden sich die Geister. In Charkow finden die meisten Bürger das gut, der ukrainischsprachige Westen der Ukraine blickt dagegen skeptisch auf die Initiative. Der Politologe Wolodymyr Malinkowytsch erläutert, was dafür spricht.

    "In der Sowjetunion, seit Stalin, wurde die ukrainische Bevölkerung systematisch russifiziert. Deshalb sprechen in den Großstädten mit Ausnahme von Lemberg im Westen - die meisten Menschen Russisch. Aber daran ist doch nicht der einfache Bürger schuld. Er sollte die Möglichkeit haben, sein Kind in eine russischsprachige Schule zu geben."

    Die Gegner der russischen Sprache in der Ukraine argumentieren ebenso einfach: Die Russifizierung war ein historisches Unrecht und müsse rückgängig gemacht werden, so die 20-jährige Studenten Sofia Solod, die selbst in einer ukrainisch-sprachigen Familie aufwuchs:

    "Die Zeit ist noch nicht reif dafür, der russischen Sprache einen offiziellen Status zu geben. Denn viele Ukrainer, die zu Hause Ukrainisch sprechen, halten ihre eigene Sprache noch immer für minderwertig. Die gehen ins Geschäft, um Milch zu kaufen, und schon sprechen sie Russisch. Diesen Menschen müssen wir weiterhin klar machen, dass sie sich nicht mehr schämen müssen für ihre Muttersprache."

    Sofia ist wie die meisten Ukrainer für eine Anbindung an die EU. Ein Status für die russische Sprache wäre in ihren Augen eine Verbeugung vor Moskau. Die Ostukrainer sind da anderer Meinung: Sie sagen, gerade der Schutz von Minderheiten bringe die Ukraine der europäischen Gemeinschaft näher.

    Die Politiker haben sich bisher um das Sprachproblem gedrückt, es höchstens im Wahlkampf instrumentalisiert. So lebt die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeitserklärung vor 14 Jahren nach dem Muster: offiziell Ukrainisch, auf den Straßen, in den Firmen und Kneipen häufig auf Russisch.

    Auch die jüngsten Entscheidungen auf Bezirksebene sind eher populistischer Natur, meint der Politologe Wolodymyr Fesenko:

    "Nur das Parlament kann das Problem lösen. Es muss ein Gesetz über die Regionalsprachen verabschieden, das auch umgesetzt wird. Dafür muss es Geld aus dem Haushalt bereitstellen. Denn wer bezahlt die Übersetzung offizieller Papiere ins Russische? Im Übrigen geht es ja nicht nur um den Schutz des Russischen, sondern auch anderer Minderheitensprachen, des Krimtatarischen zum Beispiel."

    Im Alltag existieren die beiden Sprachen in der Regel friedlich nebeneinander. In Diskussionsrunden im Fernsehen zum Beispiel spricht oft der eine Teilnehmer auf Russisch, der andere auf Ukrainisch. Das sollte auch so bleiben, meint Wolodymyr Fesenko.

    "Die Ukraine ist ein bilinguales Land - und das ist doch eigentlich ein großer Reichtum."