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Sprachmacht gegen Polit-Theater

Bei den 36. Mülheimer Theatertagen hat die Jury beschlossen, dass Elfriede Jelinek den Mülheimer Dramatikerpreis 2011 für ihre "Winterreise" erhält. Ein postmigrantisches Theaterstück, eine Mediensatire und Geschichten aus der Arbeitswelt vervollständigen das Angebot in Mülheim.

Von Karin Fischer | 08.06.2011
    Ein erfolgreicher, wenn auch braver Abteilungsleiter wird von der Firmenleitung zu einem Wochenende eingeladen und erlebt dort mit einem 26-jährigen schnöseligen Jungspunt, der sein neuer Chef sein soll, den Albtraum seines Lebens. Lutz Hübners wellmade play "Die Firma dankt" ist eine Satire auf die schöne neue Arbeitswelt. Felicia Zeller schaltet zwischen Au-pair-Mädchen aus Osteuropa und deren gut situierten, kontrollsüchtigen Arbeitgeberinnen ein Feuergefecht aus zynischem Wortwitz. Oliver Kluck lässt den Wut-Angestellten los, zeigt Ingenieur Daniel zwischen Frauenfrust und Komasaufen.

    Karin Cerny, eine der Jurorinnen:

    "Man kann jetzt sagen: 'Texte aus der Arbeitswelt'. Ich finde, dass es viel mehr um Überforderung geht, dass bei vielen Texten die Nerven blank liegen, weil nicht mehr die die Probleme haben, die arbeitslos sind, sondern die Besserverdiener. Die allgemeine Verunsicherung ist augenscheinlich in der gesellschaftlichen Mitte angekommen."

    Diese Leute sind Zeitbomben, der Blick auf sie mal kalt, mal klamaukig, mal klischeehaft, nur Fritz Kater alias Armin Petras zeichnet in "We are blood" die verlorenen Arbeits- und anderen Beziehungen im ehemaligen Osten Deutschlands melancholisch und warm. Das als Antwort auf die Sarrazin-Debatte bejubelte postmigrantische Theaterstück "Verrücktes Blut", in dem eine Lehrerin ihren türkisch-arabischen Schülern Schiller mit der Knarre beibringt, und Kevin Rittbergers "Kassandra"-Stück - halb Recherche über Migration aus Afrika, halb Mediensatire - vervollständigen die Auswahl in Mülheim. Und das Bild: Das deutsche Gegenwartstheater ist politisch, konkret, weniger Nabelschau und Befindlichkeitsstück als Analyseanstalt für die Wirklichkeit.

    Der Schriftsteller und Theaterautor Feridun Zaimoglu mit einer höflich-sibyllinischen Lesart des Phänomens:

    "Welthaltigkeit, Heutigkeit: en masse vorhanden. Im Guten wie im Schlechten. Masse bedeutet ja auch, dass es einen erdrücken kann. Ich habe hier gefunden: wirklich politisches Theater, Schreiberinnen und Schreiber, die sich mit der Welt - nein, das ist zuviel -: mit dem, was in der Zeitung steht, beschäftigen."

    Zaimoglu besteht darauf, dass Theatersprache mehr sein muss als ein Abbild der Wirklichkeit. Sprachmacht und Sprachpracht kämen in der neueren Dramatik zu kurz. Außer bei Elfriede Jelinek und ihrer "Winterreise":

    "Ich war berauscht. Ich war Rausch im alten griechischen Sinne des Wortes."

    Die "Winterreise" gilt als Jelineks bislang persönlichstes Stück. Die musikalische Struktur: Franz Schubert abgelauscht. Die Konstellation: der eigenen Familiengeschichte. Das Modell der Antike. Andreas Marber, Autor und Dramaturg:

    "Ich bin nicht so sehr ein Anhänger ihrer Sprache, das ist wahnsinnig virtuos, hat aber auch was Ermüdendes. Ich finde, der Stoff ist einfach groß. Es handelt sich um den Ödipus-Mythos, wobei Ödipus hier kein Bub ist, sondern ein Mädchen. Und dieses Stück bietet den Schlüssel zu einem Phänomen, das mir nicht klar war. Der Mythos handelt von Jungen, die ihre Väter ersetzen und dann im Bett merken, das klappt nicht. Wenn man aber den Vater im Bett ersetzt und ein Mädchen ist, hat man ein doppeltes Problem. Das finde ich faszinierend, dass ein Theaterstück mir das erzählt."

    Die Zeitalter von Ödipus bis Freud zu umspannen, vielleicht noch Geschlechterrollen zu befragen und außerdem eine sehr persönlichen, privaten Tragik einzuschließen, das ist in der Tat groß. Jelinek ist ein Solitär, der in diesem Jahr besonders einsam leuchtete. Neue Stücke von Peter Handke und Botho Strauß gab es schlicht nicht, das von Peter Turrini war schwach.

    Zusätzlich am Start, aber nicht in die letzte Auswahl gekommen, waren wieder die ganz jungen: Philipp Löhle, Anne Habermehl, Ewald Palmetshofer. Alles in allem ist die zeitgenössische Dramatik ein genauer Spiegel, der manchmal Zerrbilder liefert und oft auch wie ein Brennglas funktioniert: Er befeuert dramatisch einen zu kleinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Trotzdem ist es gut, dass man ihn uns vorhält.