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Stabil wie ein Kartenhaus

Einst war Ungarn die "lustigste Baracke" aller sowjetischen Satellitenstaaten, nach dem Ende der Diktatur Musterland in Osteuropa - Vorreiter bei politischen und wirtschaftlichen Reformen, hoch beliebt bei Investoren.

Eine Sendung von Keno Verseck, Am Mikrofon: Bettina Nutz |
    Jetzt steht Ungarn am Abgrund. Die Wirtschaftsleistung des Landes ist drastisch eingebrochen, die Währung Forint hat in weniger als einem Jahr ein Viertel ihres Wertes verloren.

    Die politische Elite im Land genießt kaum noch Vertrauen, ein Staatsbankrott konnte nur durch Notkredite von IWF, Weltbank und EU abgewendet werden. Viele Menschen, die gerade noch eine bescheidene bürgerliche Existenz aufgebaut hatten, können ihre Lebenshaltungskosten und Kreditraten nicht mehr bezahlen, Hunderttausende rutschen ab in Armut. Schuld ist vor allem die globale Finanzkrise. Dazu kommen hausgemachte Probleme.

    Zwanzig Jahre nach dem Ende der kommunistischen Diktatur und fünf Jahre nach dem EU-Beitritt herrscht in Ungarn Katzenjammer statt Feierlaune. Und nach der Wirtschaftskrise könnte der jungen Demokratie weiteres Ungemach drohen: rechtsextreme Parteien und Organisationen gewinnen mit ihren nationalistischen Abschottungs- und Hassparolen immer mehr Zulauf.




    "In Ungarn gibt es in keinem Sinne eine Krise. Wir haben große und schwierige Probleme und müssen große und schwierige Aufgaben mit konsequenter, hartnäckiger Arbeit und Erneuerung unserer Methoden und unseres Stils lösen."

    János Kádár, ungarischer KP-Chef am 17. März 1988.

    Die Endphase der kommunistischen Ära in Ungarn. Zehn Millionen Magyaren in der "lustigsten Baracke" des Ostblocks verging das Lachen. Mit dem politischen Ende wurde auch das wirtschaftliche Desaster offenbar. Die Privilegien in Kádárs "Gulaschkommunismus" hatten Ungarn in den Ruin getrieben.

    Heute, 20 Jahre nach der friedlichen Revolution, fünf Jahre nach dem EU-Beitritt, ist wieder Schluss mit lustig. Die Wirtschaftswunderrepublik in Osteuropa ist zum Sanierungsfall geworden.


    Der aktuelle Niedergang zeigt durchaus Parallelen zum Zusammenbruch in der kommunistischen Vergangenheit. Es war ein Aufschwung auf Pump - damals wie heute. Diesmal aber lässt die weltweite Finanzkrise das Kartenhaus mit besonderer Wucht zusammenbrechen. Nur internationale Notkredite in Milliardenhöhe haben den Staatsbankrott an der Donau vorerst abgewendet.

    In Székesfehérvár in Westungarn war die Lage noch nie so dramatisch. Sogar vor 1989 wurden hier bereits erfolgreich Omnibusse und Videorekorder gebaut. Nach der Wende ging es mehr denn je bergauf. Jetzt kreist über dem Zentrum der Autozulieferer- und Elektronikbranche der Pleitegeier. Jeden Tag werden Mitarbeiter entlassen. Auf dem Arbeitsamt von Székesfehérvár spricht man von einem Absturz mit historischem Ausmaß.


    Székesfehérvár in Westungarn
    Absturz einer Wirtschaftswunderstadt
    Erster Stock, Dutzende Menschen drängen sich um den Informationsschalter. Von hinten schieben Leute nach. Es ist so voll, dass selbst die Treppen belegt sind. Die meisten Wartenden starren müde vor sich hin, manche sind regelrecht in sich zusammengesunken. Willkommen im Arbeitsamt von Székesfehérvár, willkommen im Ungarn der Krise.

    Zweiter Stock, Zimmer 204. Endlich ist Tünde Rózsa an der Reihe. Sie hat zwei Stunden ausgeharrt, das ist hier Durchschnitt. Die große, schlanke 42-Jährige setzt sich halb furchtsam, halb erwartungsvoll hin. Sechsmal war sie schon bei der Sachbearbeiterin, sechsmal nichts. Tünde Rózsa ist seit Januar arbeitslos. Im hiesigen Philips-Werk, in dem Flachbildschirme hergestellt werden, war sie viereinhalb Jahre Qualitätskontrolleurin. Als Ende letzten Jahres die Aufträge ausblieben, wurde ihr fristlos gekündigt. Ein paar Worte falsches Bedauern, keine Entschädigung, kein Dank. Nun droht ihr Lebensgebäude einzustürzen.

    "Ich habe einen Wohnungs- und einen Konsumkredit und natürlich Lebenshaltungskosten. Das Arbeitslosengeld deckt nicht mal die Hälfte dessen ab. Ich bin fast täglich auf der Suche nach Arbeit, ich schaue im Kleinanzeigenteil von Zeitungen und im Internet. Ab und zu gehe ich auch spontan zu Firmen und lasse meinen Lebenslauf da. Bisher war die Antwort immer, dass alle Stellen besetzt seien. Manchmal würdigen sie mich auch einfach gar keiner Antwort."

    Tünde Rózsa ist alleinstehend, hat keinen Beruf gelernt und nicht studiert, sie ist eine so genannte Unqualifizierte. Die Sachbearbeiterin schaut in den Computer und schüttelt den Kopf. Keine Stelle, auch diesmal nicht. Tünde Rózsa sitzt wie versteinert da, mechanisch registriert sie den nächsten Erscheinungstermin. Es ist schrecklich, stößt sie hervor, alles so ausweglos.


    Am Stadtrand von Székesfehérvár, in einer Werkshalle der Firma Macher. Noch stehen die Maschinen nicht still. In dem mittelständischen Unternehmen werden Kabelsätze für Sensoren, für medizinische Apparate und für Spezialfahrzeuge hergestellt. Vor einem Jahr lief der Familienbetrieb noch auf Hochtouren, dann sagten Kunden reihenweise Bestellungen ab, jetzt haben die meisten Mitarbeiter eine Viertagewoche. Auch Mária Gál, 38, verheiratet, zwei kleine Kinder, Eigenheimkredit.

    "Wir alle fragen uns ständig, was morgen sein wird. Ob wir noch ein Dach über dem Kopf haben werden und ob wir unsere Kinder noch zur Schule bringen können. Man hört und sieht ja jeden Tag in den Nachrichten, wie viele Leute überall entlassen werden. Aber immer, wenn die Chefin eine kurze Ansprache zur Situation der Firma hält, beruhigen wir uns ein wenig."

    Die Chefin. Sie sitzt am Besprechungstisch in ihrem kleinen Büro und will von einem Mitarbeiter wissen, wie der Sparplan für die Lagerhaltung aussieht. Márta Macher, 53, ist eine kleine, freundlich-resolute Frau. In ihrem Büroregal stehen Bücher mit Titeln wie "Stresskontrolle in einer Minute", "Führung mit starker Hand" und "Das Erfolgsrezept". Die Krise bereite ihr viele schlaflose Nächte, sagt Márta Macher. Als letzten Herbst alles anfing, habe sich ihr Magen zusammengekrampft: Lieber Gott, wie weiter?!

    Márta Macher ist Maschinenbauingenieurin. Zusammen mit ihrem Mann hat sie die Firma 1991 gegründet. Sie nennt das "Zwangsunternehmertum", irgendetwas habe sie ja machen müssen, als sie 1990 selbst arbeitslos wurde, erzählt sie. Derzeit hat die Macher GmbH 70 Angestellte. Eigentlich zu viel. Doch anders als viele Kollegen hat Márta Macher noch niemandem gekündigt. Ihr Krisenplan lautet: Überleben durch Qualifizieren und Spezialisieren. Die Angestellten arbeiten weniger und nehmen in der Ausfallzeit an Fortbildungskursen teil, gleichzeitig sucht die Firma verstärkt nach Nischen, in denen sie komplizierte und aufwendig gefertigte Kabelsätze verkaufen kann. Auf Unterstützung vom Staat kann und will Márta Macher dabei nicht hoffen, Überbrückungshilfen wie Kurzarbeitergeld gibt es in Ungarn nicht. Ohnehin, sagt Márta Macher, falle die Politik in Ungarn doch nur durch Parteienstreit und Regierungskrisen auf.

    "Bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen müssen wir in der Firma gezwungenermaßen zur Kenntnis nehmen. Ansonsten sind wir von der Politik enttäuscht. Es ist es völlig egal, wer was sagt, man weiß ja nie, ob es stimmt. Mich interessiert nur, was im Gesetzblatt erscheint und was endgültig entschieden wurde."

    Es klopft an der Bürotür. Einer Arbeiterin ist schlecht geworden, sagt die Sekretärin. Márta Macher klappt ihre Mappe mit den Papieren zusammen, steht auf und schaut selbst nach der Betreffenden. Kurz darauf kommt sie zurück ins Büro und lässt einen Krankenwagen rufen. Dann rollt sie ihren Chefsessel in die Werkshalle.


    Der Mann bleibt aus gutem Grund anonym. Er ist Mitglied der kommunistischen Nomenklatura. Ein Glücksritter der ungarischen Planwirtschaft, ein Nutznießer der privatwirtschaftlichen Nischen des Systems in der Mitte der Achtziger Jahre. Die Begegnung mit dem Sozialisten im Designeranzug hat den deutschen Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger tief beeindruckt.


    Große Stabilität plus kleine Freiheiten im Schatten der argwöhnischen Sowjetmacht, das hält der ungarische Schriftsteller György Dalos für das Erfolgsrezept der damaligen Kádár-Ära. Ungarns Sonderweg, der berühmte Gulaschkommunismus", sollte die brutale Niederwerfung des Volksaufstandes von 1956 vergessen machen. Eine halb-kapitalistische Parallelwirtschaft, ein bescheidener Wohlstand würde weiteren Unruhen vorbeugen. Blühende Landschaften mit Beginn der Siebziger Jahre. So durften Bauern neben der Arbeit in den ländlichen Produktionsgenossenschaften auf eigenem Grund Paprika, Gurken oder Kohl ziehen. Und frei verkaufen.

    Mit dem Einzug der freien Marktwirtschaft war es vorbei mit der ländlichen Idylle. Tesco, Penny, Billa und Co., ausländische Billigdiscounter schossen wie Pilze aus den ungarischen Gewerbeflächen. Sie verdrängten die einheimischen Produzenten oder diktierten ihnen Dumpingpreise für ihr Obst und Gemüse. Die Wirtschaftskrise verschlimmert nun die Lage der Bauern zusätzlich. Mit einem eigenen Vermarktungssystem versuchen sie, dem drohenden Ruin zu entkommen.


    Verzweifelte Landwirte
    Sozialläden sollen den Bauern aus dem Elend helfen
    Sándor Nagy betrachtet das Ergebnis seiner Arbeit. Ein Werk von Monaten. Er liebt seine Arbeit, er ist glücklich, wenn alles gedeiht. Doch nun blickt er unsagbar traurig auf das üppige grüne Leben. Dann schreitet er darüber hinweg und zertritt es mit seinen Gummistiefeln.

    "Wir sind hier in einem Foliengewächshaus, und man sieht Chinakohl, der nicht mehr auf den Markt kommt. So schlägt sich die Krise bei uns, bei den kleinen Landwirten, nieder. Es ist kein Geld da, die Händler konnten nicht bezahlen, deshalb kam der Export nicht in Gang, und nun reißt es die ungarischen Landwirte in den Abgrund. Ich habe 80.000 Setzlinge auf 7.500 Quadratmetern gepflanzt, aber nur Kohl von 500 Quadratmetern verkauft. Der Rest ist Verlust. Ich werde den Chinakohl zerhäckseln und ihn in den Boden pflügen. Aber Düngewert hat er fast keinen. Es wäre besser gewesen, der Kohl hätte im Laden gelegen. So ist das Ganze völlig sinnlos, sogar für den Boden."

    Sándor Nagy geht aus dem Gewächshaus zur großen Hofhalle. Er ist jetzt 56, der Hof ist sein Leben, seine Geschichte. Hier, im Dorf Kistelek, ist er geboren, er liebt die Weite des ungarischen Südens, den sandigen Boden, der gut ist für scharfen Paprika und feste Zwiebeln. Die Eltern von Sándor Nagy hatten einen kleinen Hof, er selbst hat lange auf dem Bau gearbeitet, Geld gespart und sich dann, Anfang 30, zusammen mit seiner Frau Zsuzsanna den Traum vom eigenen Hof erfüllt. Er wollte leben wie die meisten seiner Vorfahren, aber vielleicht war es schon nicht mehr die richtige Zeit. Nach dem Eisernen Vorhang fielen bald auch die Zollschranken, Ungarn trat der EU bei, die Multis kamen, wie die Konzerne und die Super- und Hypermarktketten hier heißen. Sie überschwemmen das Land mit billigen Lebensmitteln, und wenn sie einheimische Ware aufkaufen, dann zu Preisen, die ein Schlag ins Gesicht der kleinen Landwirte sind. Und schließlich im Herbst letzten Jahres: die Krise.

    "Niemand hat geahnt, dass es so schlimm wird. Auch ich hätte nicht gedacht, dass das Jahr mit einem riesigen Verlust beginnt. So guter Kohl und nicht einen Heller dafür! Ich bin sehr verbittert. Ich habe die Ware Händlern angeboten, mit den ich seit Jahren Kontakt habe, sie haben nicht mal den Telefonhörer abgehoben. Wir Landwirte wollen uns ja nicht bereichern, wir wollen nur, dass unser Leben und unser Schicksal erträglich wird. Die Politiker sollen Märkte suchen und für ungarische Produkte werben. Mehr wollen wir gar nicht."

    Sándor Nagy beginnt, frisch geerntete Radieschen zu sortieren, jeweils acht Bund packt er in eine Plastikkiste. Er wird sie später zur örtlichen Handelsgenossenschaft bringen, von dort aus kommen sie dann in so genannte "Sozialläden". Hinter dem Namen verbirgt sich genau das, was Sándor Nagy sich wünscht: ein Marketingkonzept für ungarische Produkte. Allerdings nicht von der Politik organisiert, sondern von dem Bauernverband Magosz. Die Idee: Landwirte beliefern Einzelhändler eines sogenannten Sozialladennetzes direkt, ein Preisaufschlag durch Zwischenhändler entfällt. So bekommen Bauern mehr Geld für ihre Produkte, im Einzelhandel wiederum sind sie billiger als üblich. Der erste Sozialladen öffnete Ende Januar in Budapest und hatte großen Erfolg. Inzwischen gibt es 60 Läden landesweit, Hunderte sollen noch folgen.

    Eine große Halle in Kistelek, das Lager der Handelsgenossenschaft. Gegründet wurde sie vor sechs Jahren von Landwirten aus der Region, sie ist eine Art Großhandelsunternehmen, das den Bauern selbst gehört, auch Sándor Nagy ist eingetragenes Mitglied. Er fährt mit seinem klapprigen Wagen vor, begrüßt die Lagerarbeiter und lädt seine Radieschenkisten ab. Ein Mann prüft die Ware, dann bekommen die Kisten den Qualitätsaufkleber. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelt Sándor Nagy.

    "Die Sache mit den Sozialläden ist eine sehr gute Idee. Ich kann jetzt beispielsweise anderthalb Mal mehr Radieschen zur Genossenschaft bringen, denn sie beliefert nun viel mehr Abnehmer."

    Budapest, 14. Bezirk, der Sozialladen in der Fogarascher Straße. Der Lieferant der Genossenschaft Kistelek bringt frische Ware, Paprika, Kohlrabi und - Radieschen von Sándor Nagy. Der Ladenbesitzer István Csöke ist froh, denn schon wieder war ein Teil seines Gemüses früher ausverkauft, als er kalkuliert hatte. Der 57-Jährige betreibt einen jener typischen Budapester ABC-Läden, die von sechs bis Mitternacht geöffnet sind. Hier gibt es auf wenigen Quadratmetern fast alle Waren des täglichen Bedarfs, jederzeit heißen Mokka und kaltes Bier am Stehtisch, dazu gratis das Gefühl von guter Nachbarschaft und Großfamilie. Im Februar trat Csöke dem Sozialladennetz bei. Er ist noch immer begeistert.

    "Anfangs haben sich die Kunden gewundert über die Veränderung und die niedrigen Preise. Aber natürlich haben sich letztlich alle gefreut. Neben den alten Kunden sind ungeheuer viele neue dazu gekommen, ihre Zahl ist geradezu sprunghaft gestiegen. Es kommen inzwischen Leute, die ich mein Lebtag noch nicht gesehen habe."

    Edit Györe kommt schwerfällig herein gestöckelt. Sie ist eine alte Kundin, "Editchen", nennen die 57-Jährige hier alle. Wasserstoffblondes Haar, knallrote Lippen, schwerer Raucherhusten. Sie verlangt frische Gurken zum Einlegen. Ungarische. Sin da drüben, Editchen, sagt István Csöke. "Genial, diese Sozialläden!", sagt Edit Györe. "Wenigstens das können wir für unser Land machen, hier einkaufen, mehr können die kleinen Leute ja nicht tun."

    Edit Györe bezahlt und verabschiedet sich kokett: "Tschühüss! Bussi!". - "Küss die Hand!", sagt István Csöke. Editchen wankt hustend aus dem Laden.



    Das viel gelobte Wirtschaftswunderland des Ostens hat den Wandel vom Staatssozialismus zur Marktwirtschaft in entscheidenden Bereichen nicht geschafft. Die Krise offenbarte die schwerwiegenden Defizite des Systems erst recht. Was fehlt, sind glaubwürdige Alternativen zu den Fehlern der Vergangenheit. Und es zeigt sich, dass ausgerechnet die Linke im Land eben diese Antworten schuldig bleibt. Die Postsozialisten waren in den guten Jahren vor allem Vorreiter einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Sie sind es jetzt auch, die in der Not einen harten Sparkurs fahren müssen und den Rotstift zuerst bei Renten und Sozialabgaben ansetzen.

    Wer in Ungarn um seinen Job bangt, will sich auch nicht auf die Unterstützung der Gewerkschaften verlassen.
    Die Arbeitnehmervertreter haben sich in den vergangenen Jahren meist mit sich selbst beschäftigt, sind gespalten und tief zerstritten. Die Mitglieder liefen ihnen in Scharen davon. Bei Dunaferr, Ungarns größtem Stahlwerk im Süden von Budapest, versucht der Chef der Betriebsgewerkschaft beharrlich, in der Absatzkrise das Vertrauen der Belegschaft zu gewinnen.


    Keine Anwälte bei drohender Arbeitslosigkeit
    Gewerkschaften sind in Ungarn selbst in der Krise
    In der Lagerhalle des Stahlwerkes Dunaferr. Wenn der Schwebekran Lasten transportiert, schaltet der Kranführer das Alarmsignal ein. Er muss zurzeit viele Stahlblöcke und Walzblechrollen stapeln. Seit die Nachfrage so drastisch eingebrochen ist, wird auf Vorrat produziert. Deshalb wachsen die Stahlberge in der Lagerhalle höher und höher, trotz geringer Auslastung des Werkes.

    Zoltán Mucsi geht durch die Halle, er sondiert die Stimmung. Der 62-Jährige ist der Chef der Gewerkschaft im Stahlwerk, ein kleiner Mann mit grauschwarzem Haar, leutselig im Umgang, entschlossener Blick. Zwei Arbeiter kommen auf ihn zu. "Was wird mit uns?", fragen sie. Das Management wolle schon wieder sparen, die Zeichen stünden auf Sturm, sagt Mucsi. Die Arbeiter nicken besorgt.

    Später am Vormittag im Gewerkschaftsbüro von Dunaferr. Zoltán Mucsi thront gut gelaunt hinter einem großen Schreibtisch. Er bespricht mit Kollegen, wie man sich gegen die Sparpläne der Unternehmensführung wehren könnte, dauernd klingelt das Telefon dazwischen. Der Gewerkschaftschef im Stahlwerk ist ein viel gefragter Mann in diesen Tagen. Er freut sich darüber.

    "Es mag komisch klingen, aber die Krise verbittert mich nicht. Fast genieße ich die Situation, denn gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt für Gewerkschaftsarbeit. Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung. Im Sozialismus gab es ja keine Krise. Jetzt kann man die Theorie von Gewerkschaft in die Praxis umsetzen. Die Chance, dass die Gewerkschaften stärker werden, ist groß. Hier im Werk unterschreibe ich jeden Tag Beitrittserklärungen. Die Leute treten in die Gewerkschaft ein!"

    Zoltán Mucsi stammt aus einer Budapester Arbeiterfamilie, er ist von Beruf Fernmeldetechniker, arbeitet aber seit drei Jahrzehnten als Gewerkschafter. Lange Zeit war er in der Metallgewerkschaft Vasas Experte für Arbeitsrecht und Tarifpolitik. 2004 fragte ihn die Gewerkschaft im Stahlwerk Dunaferr, ob er Vorsitzender werden wolle. Er kandidierte - und wurde gewählt. Es war das Jahr, in dem der Staat das einstmals größte ungarische Stahlkombinat nach langer Privatisierungsirrfahrt an den ukrainischen Stahlkonzern Donbass-Duferco verkaufte. Mucsi handelte für die 8.200 Arbeiter überdurchschnittliche Löhne und eine mehrjährige Beschäftigungsgarantie aus. Doch nun ist das Ende der guten Jahre gekommen. Die Stahlwerker arbeiten im Schnitt ein fünftel weniger und bekommen entsprechend weniger Geld. Erstmals sind Entlassungen im Gespräch. Zoltán Mucsi richtet sich auf einen Arbeitskampf ein. Der Augenblick der Herausforderung, der Chance. Wenn er darüber spricht, schwingt auch Selbstkritik mit.

    "Früher, vor 1989, war es bequem, Gewerkschafter zu sein. Man verteilte und zählte Geld, ab und zu gab es kleinere Arbeitsanomalien, man stritt ein bisschen, aber es war immer viel Geld da. Jetzt müssen die Gewerkschaften um ihre Beiträge, um ihr Geld fürchten. Jetzt entscheidet sich, wer am Leben bleibt und wer in der Versenkung verschwindet. Leider sind die Gewerkschaften schwach. Sie haben viele Rechte, aber sie nutzen sie nicht."

    Samstagvormittag, blauer Himmel, Sonnenschein, ein Tag wie geschaffen zum Ausspannen. Zoltán Mucsi steht mit Gewerkschaftskollegen auf dem Budapester Parlamentsplatz. Die Stimmung ist gut. Der Gewerkschaftsdachverband MSZOSZ hat zu einer Großdemonstration gegen die Sparmaßnahmen der Regierung aufgerufen. Mucsi hofft, dass möglichst viele Menschen kommen.

    Der MSZOSZ-Vorsitzende Péter Pataky hält eine Rede, er sagt: "Wir wollen eine menschlichere Welt, in der nicht das Kapital und der Profit das Entscheidende sind." Die Leute applaudieren. Nein, die Massen sind nicht gekommen. Es sind auch nicht zwanzig-, dreißigtausend Leute gekommen, trotz wochenlanger Werbekampagne. Es sind drei-, höchstens viertausend Leute gekommen. Zoltán Mucsi sieht ernüchtert aus und irgendwie erschlagen. Nach der Kundgebung sucht er Gründe für die geringe Zahl. Er redet über den Niedergang der Gewerkschaften. Darüber, dass es nicht ein oder zwei, sondern sechs Gewerkschaftsdachverbände gibt in einem Zehnmillionenland. Sechs kleine Kaiser mit sechs Höfen. Er redet darüber, dass es links von der rechten, neoliberalen Sozialdemokratie keine politische Kraft von Bedeutung gibt. Er findet, man hätte wenigstens den Verkehr ein wenig lahmlegen sollen, irgendwo auf der Ringstraße, hier am Parlamentsplatz wohnten doch keine Leute. Er wirkt hilflos bei seinen Erklärungen. So als könne nichts die lächerliche Zahl von drei-, viertausend Demonstranten rechtfertigen. Schließlich sagt er kopfschüttelnd:

    "Die Ungarn nehmen die Krise nicht ernst. Sie finden, dass doch bisher immer ein Wunder geschehen ist, dass ihnen immer jemand geholfen hat. Sie meinen, dass hier im Parlament 386 kluge Leute sitzen, die sollen ihn mal helfen. Wer ihnen nicht hilft, soll bitteschön zurücktreten. Das ist heute die Politik. Zurücktreten, der Nächste bitte! Und so verspricht immer jemand irgendwas."


    Die Mehrheit der Ungarn sitzt inzwischen in der Schuldenfalle. Viele hatten sich mit Hilfe von Krediten und Hypotheken gerade noch eine bescheidene bürgerliche Existenz aufgebaut. Besonders beliebt waren Darlehen in Fremdwährungen mit niedrigen Zinsen und hohen Risiken. Die Kreditblase ist geplatzt. Wut und Verbitterung herrschen unter den Betroffenen. Sie stellen Fragen an Banker, Broker und Manager, an die kleine vermögende Elite im Land. Welchen Anteil hat sie am Zusammenbruch des Kartenhauses?

    "Elite", so heißt auch das Magazin für die ungarische High Society. Das Hochglanzblatt suchte in den Reihen seiner Leser nach Antworten. Die ungarischen Businessetagen sollten Stellung nehmen zu ihrer Verantwortung in der Krise. Die Chefredakteurin wollte eine Debatte anstoßen. Zum Nachdenken anregen über eine andere, eine moralisch integre Wirtschaftsordnung. Doch Fehlanzeige. Ungarns Führungspersonal führt eine solche Diskussion nicht - jedenfalls nicht öffentlich.


    Nichts sehen, nichts hören?
    Wie die Budapester High Society die Krise erlebt
    Die "Elite" logiert unter Niveau. Die Redaktion von Ungarns ältestem Society- und Lifestylemagazin belegt vier Zimmerchen in einem Betonklotz an der sechsspurigen Lehel-Straße, wo der Boden unter den Füßen zittert, wenn die Straßenbahn vorbeidonnert. Das Gebäude liegt mitten im Budapester Proleten- und Fabrikbezirk Engelsfeld. Früher war es Teil der staatlichen Irrenanstalt, heute heißt es "Cooper Center" und ist ein privater Büroblock.

    Fünfter Stock, ein winziger Raum. Die "Elite"-Chefredakteurin Éva Körtvélyes bespricht mit zwei Kolleginnen Themen des neuen Heftes sowie Details eines Wohltätigkeitsprojektes. Die 54-Jährige hat kastanienbraunes Haar, dunkle Augen und einen roten Mund. Sie sieht blendend aus, zweitens für ihr Alter und erstens sowieso. Sie trägt enge Jeans und ein schwarzes T-Shirt, darauf steht über einer Flammenkrone in Glitzerschrift "Free Spirit".

    "Oh, ganz ehrlich, ich habe es gar nicht gelesen. Ich hab das T-Shirt nicht wegen der Aufschrift gekauft, sondern weil es verdammt gut aussieht, aber ich hoffe natürlich, dass ich ein Freigeist bin. Also ehrlich, was, wenn da draufgestanden hätte 'Küss mich!' oder so! Ich glaube, ich habe es für zehn Euro gekauft. Das gehört auch zur Krise. Man merkt plötzlich, dass auch billige Sachen gut sein können. So ein T-Shirt kann man durchaus zusammen mit was Teurem tragen, das ist völlig akzeptabel."

    Éva Körtvélyes ist eine der bekanntesten Gesellschaftsreporterinnen Ungarns. Die studierte Volkswirtschaftlerin schreibt seit zwei Jahrzehnten über das mondäne Ungarn. 1991 gründete sie das Monatsmagazin "Elite", um Boulevardjournalismus mit Niveau zu machen. Seitdem ist sie Unternehmerin, Verlegerin, Chefredakteurin und Reporterin in Personalunion. Längst gehört sie selbst zur Elite, halb glamouröse Diva, halb bodenständige Managerin. Sie kennt alle und jeden von Bedeutung und mit Vermögen in Ungarn. Sie erzählt gern exklusive Geschichten aus der Welt der Schönen und Reichen, ohne jemals indiskret zu werden. Und natürlich weiß sie wie kaum eine andere, in welcher Stimmung die Elite ist, jetzt, in der Krise.

    Im Souterrain der Nagy-Ignac-Straße Nummer 16 steht das Stimmungsbarometer mal auf Sturmtief, mal auf Traumhoch. Hier, im Herzen von Budapest, gleich neben Ministerien, Anwaltskanzleien und feinen Restaurants, feiern drei Frauen das einjährige Jubiläum ihres Edel-Kinderzimmerausstatters. Sie sind Gattinnen von Spitzenmanagern und Anfang 40, sie haben kleine Kinder und dennoch erheblichen Beschäftigungsbedarf. Preisschilder hängen nirgendwo im Laden, die vielen Nullen würden nur verwirren. Leicht verspätet schwebt Éva Körtvélyes herein, Kaschmirschal und elegantes Jäckchen über dem "Free Spirit"-T-Shirt. "Hello, hello" und "Küsschen" säuseln die Frauen.

    Éva Körtvélyes: "Wie geht's euch so in der Krise?"

    Ladenbetreiberin: "Na ja, wir merken sie, an abgesagten Bestellungen. Einmal hatten wir schon das ganze Kinderzimmer fertig geplant, als die Leute sagten, sie bauen ihr Haus nicht zu Ende. Aber manchen ist der Preis auch jetzt völlig egal. Ich war gerade in der Provinz ..., du, ich hab ja viel gesehen, aber dagegen ist der Versace-Palast in Florida nichts! 200 Quadratmeter Badezimmer!"

    Éva Körtvélyes: "Sieh einer an! Ich fand ja schon immer, dass die Provinz riesige Reserven hat. Ich will jetzt mal öfter dahin fahren. Ach, dieses Ungarn! Es ist einfach so wasserköpfig ... Alle strapazieren Budapest, dabei langweilt es einen längst zu Tode, während in der Provinz Ansprüche und Gelder existieren, wie wir es uns gar nicht vorstellen können."

    Éva Körtvélyes parliert noch ein wenig, dann verabschiedet sie sich. Sie will noch bei einem befreundeten Kunsthändler vorbeischauen.

    Budapest downtown, die Galerie Ernst, gleich neben dem Kaffeehaus "Central". Der Besitzer, Ernst Wastl, empfängt Éva Körtvélyes vollendet höflich. Der 46-jährige Wiener lebt seit der Wendezeit in Budapest, er stellt sich halb kokett, halb überdreht als "Kunstliebhaber" und "gut aussehend" vor. Éva Körtvélyes und er sind gute Freunde, Wastl und seine Frau tauchen oft mit Partyfotos in der "Elite" auf. Jetzt plaudert der Galeriechef über die Krise. Er sagt, sein Geschäft laufe relativ gut. Dann klagt er. Über die Klagen anderer.

    "Immer wenn ich Taxi fahre und frage, wie die Lage ist, beschweren sich die Fahrer, dass sie zu wenig Geld haben. Ich sage dann: "Werden Sie doch Minister! Die Welt ist frei, man kann es einfach machen!" Das Gute an der Krise ist, dass die Menschen endlich glücklich sind, einen Arbeitsplatz zu haben. Das ist doch was! Dieses kleine Glück! So bringt die Krise auch etwas Positives."

    Éva Körtvélyes nickt.

    "Jetzt werden die Werte neu bestimmt. Wichtig ist wieder: Zeit haben, Spazieren gehen, mit Freunden etwas trinken und Speck braten, Karten spielen. Wir müssen nicht durch die Welt jetten, wir fahren auch mal wieder an den Balaton. Dort setzen wir uns ans Ufer, quatschen und angeln."

    Früher Abend. Éva Körtvélyes fährt in ihrem weißen, zwanzig Jahre alten Golf nach Hause. Sie wohnt auf dem Budaer Freiheitshügel, mit Blick über ganz Budapest. Sie liebt es, auf ihrer Terrasse Blumen zu pflanzen. Wenn sie Zeit hat. Ein kleiner Sommerregen klopft an die Windschutzscheibe. Éva Körtvélyes wird noch bis spät in die Nacht an einer langen Reportage schreiben. Sie hätte Grund zu klagen. Über gesunkene Werbeeinnahmen, darüber, dass sie sich womöglich einem großen Verlag anschließen muss. Keine Klage ist aus ihrem Mund zu hören. Es widerspräche wohl ihrem Stilgefühl und ihrer Art, Haltung zu bewahren. Ganz plötzlich fällt ihr noch etwas Wesentliches ein zur Krise.

    "Früher dauerte es wegen der Staus immer sehr lange, bis ich morgens am Arbeitsplatz war. In den letzten Monaten nicht mehr. Jetzt kommt man wirklich gut durch. Ich glaube, viele Autos sind abgemeldet, die Leute können die Leasingraten und das Benzin nicht mehr bezahlen."


    Das Versagen der etablierten Parteien sorgt seit geraumer Zeit für eine gefährliche Politikverdrossenheit unter den Ungarn. Von der jetzt wachsenden Existenznot profitieren deshalb vor allem die Rechtsradikalen. Randgruppen und Minderheiten dienen ihnen als Sündenböcke in der Misere. Die Hasskampagnen von Rechts treffen vor allem Roma. Mehrere Menschen wurden in den vergangenen anderthalb Jahren aus rassistischen Motiven ermordet.

    Mit der Krise wächst auch der Einfluss von "Jobbik". Die "Bewegung für ein besseres und rechteres Ungarn" hat bei den jüngsten Europawahlen aus dem Stand 15% der Stimmen geholt. Ihre Popularität verdankt die Partei ihrem bürgerlichen Anstrich.

    An der Spitze stehen nicht etwa radikalisierte Glatzköpfe. Es sind Manager, Juristen, Lehrer, gut ausgebildete Facharbeiter. Sie sind in den Kommunen gut vernetzt, legen Wert auf den direkten Kontakt zum Wähler.


    Vergiftetes Klima
    Die Finanzkrise lässt die Rechtsradikalen noch stärker werden
    Zsolt Szalkai ist ein Hausmann und Familienvater, wie es sie in Ungarn noch nicht allzu oft gibt. Sonntags, wenn seine Frau von acht bis sechzehn Uhr an der Kasse eines Supermarktes sitzt, kocht er, räumt auf und kümmert sich um seine beiden Töchter. Gerade wäscht er ab, nebenbei rührt er die Suppe auf dem Herd um. In ihr köcheln, das betont er, hausgemachte ungarische Nudeln, ungarisches Gemüse und ungarische Hühnchen. Doch nicht nur bei den Lebensmitteln legt Zsolt Szalkai Wert auf das Ungarische.

    "Warum sollen wir ins Ausland fahren, wenn es hier in Ungarn so viele wunderschöne Orte gibt?! Es ist Mode nach Griechenland oder Kroatien zu fahren, statt die eigene Heimat kennenzulernen. Eigentlich müsste jeder Ungar in Ungarn Urlaub machen. Darunter verstehe ich nicht nur Rumpf-Ungarn, sondern auch die Gebiete, die wir nach dem Ersten Weltkrieg verloren haben. Mit Griechenland, Kroatien und Dubai verbindet uns keine Vergangenheit. Wir müssen über unsere Vergangenheit bescheid wissen."

    Zusammen mit seiner Frau und seinen Töchtern wohnt Zsolt Szalkai in einem gemütlichen Einfamilienhaus in Tapolca, einer beschaulichen Kleinstadt in Südwestungarn, ein paar Kilometer vom Balaton entfernt. Der 34-Jährige bedient computergesteuerte Fräsmaschinen in einer Fahrgestellfabrik. Er ist klein, hat offene, jungenhafte Augen, er wirkt nicht frustriert, nicht hasserfüllt. In seiner Freizeit ist er Lokalpolitiker der rechtsextremen Partei "Jobbik", zu Deutsch "Die Besseren". Die Parole der Partei lautet: "Ungarn den Ungarn!", sie zieht vor allem gegen angebliche Zigeunerkriminalität zu Felde. Ende März holte Zsolt Szalkai bei den vorgezogenen Bürgermeisterwahlen in Tapolca aus dem Stand und ohne aufwendige Wahlkampagne sieben Prozent. Es war das bis dahin beste Wahlergebnis der "Besseren" in Ungarn.

    Ein befreundetes Pärchen kommt ins Haus, Lilla und Ferenc, beide Mitte 20, sie Bahnsteigwärterin, er Lokführer. Zsolt Szalkai hat sie für die Bürgerwache geworben, jetzt füllen sie die Beitrittsformulare aus. Bürgerwachen schießen wie Pilze aus dem Boden, vielerorts stehen Schilder mit der Aufschrift: "Hier arbeitet eine Bürgerwache!". Ein Symptom allgemeiner Verunsicherung. Die klingt auch durch, wenn Szalkai erklärt, warum das ruhige, friedliche Tapolca einen solchen Verein braucht.

    "Ja, es stimmt, die öffentliche Sicherheit in Tapolca ist in Ordnung. Aber im Interesse der Ruhe der Einwohner und, naja, natürlich gibt es auch hier ein Viertel, wo diese gewisse Minderheit im Übermaß vorhanden ist. Dort kommt es zu Handgreiflichkeiten und Straftaten. Es gibt Fälle, in denen Jugendliche spät abends nach Hause gehen. Angehörige der Minderheit bedrohen und misshandeln sie. Oft passiert nur deshalb nichts, weil sie schnell weglaufen. Wegen solcher Fälle braucht man eine Bürgerwache."

    Vielleicht wäre Zsolt Szalkai kein rechtsextremer Politiker geworden, wäre er nicht pleitegegangen. Er war zehn Jahre lang Bauunternehmer, hatte eine Firma mit 40 Angestellten. Irgendwann häuften sich die Außenstände immer mehr, im Sommer letzten Jahres musste er Konkurs anmelden. Genau zur selben Zeit gründete er mit ein paar Leuten einen Jobbik-Ortsverein in Tapolca.

    "Unsere ganze Krise kommt auch daher, dass die multinationalen Firmen hier einfach alles durften, sie hatten riesige Steuervergünstigungen. Aber ungarische Landwirte und Bauunternehmer wurden nicht unterstützt. Zudem haben die multinationalen Firmen ihre Profite außer Landes geschafft. Wenn sie einen Teil des Geldes in die Wirtschaft zurückgeführt hätten, wären wir jetzt nicht in so einer schwierigen Lage."

    Zsolt Szalkai ist zu seinem Freund Jakab am Ortsrand von Tapolca gefahren. Er bringt ihm Flugblätter für den so genannten "Nationalen Familien- und Kulturtag", ein Sommerfest, das Szalkai gerade organisiert - es wird Kesselgulasch geben und Blutdruckmessen, Schamanentheater und nationale Rockmusik. Seinen Freund bittet Szalkai, in der Gegend ein paar Zettel auszulegen und zu verteilen. Dann unterhalten sie sich über die Krise. Jakab war früher Vorarbeiter in Szalkais Firma, jetzt ist er selbstständiger Handwerker. Das Finanzamt sitzt ihm im Nacken, Kunden haben Bestellungen abgesagt, er berichtet von den Mauscheleien im Ort, wenn öffentliche Bauaufträge vergeben werden. Er lässt seinen Frust heraus über Politik, Behörden und Alltag in Ungarn. "Wenn du Bürgermeister wirst, Zsolti", sagt er, "dann machen wir es genau wie die da oben, verdammt noch mal. Wir unterschlagen und klauen, hinterher lachen wir über das Schicksal der Ungarn, spucken aus, saufen ein Bier und fertig."

    Jakab ist ein Riese von Mann, er hat Bärenpranken und lange, graue Haare, zu einem Zopf zusammengebunden. Er ist Mitte 40, ihm fehlen ein paar Zähne, er raucht viel und sieht alt und kaputt aus. Er schaut seinen Freund, den kleineren, jüngeren Zsolt Szalkai, an wie einen großen Bruder, auf den man sich immer verlassen kann. Szalkai hört ernst zu, hin und wieder streut er ein paar bestätigende Sätze ein. Je länger er zuhört, desto mehr verengen sich seine freundlichen, offenen Augen, desto eisiger wird sein Blick, desto mehr sieht er aus wie jemand, der überzeugt davon ist, auf dem richtigen Weg zu sein. Später, längst schon wieder zuhause, sagt er:

    "Wenn wir hier in den Gemeinderat kommen, werden sie unseren kalten Atem an ihren Kehlen spüren. Wenn wir dann da sind, werden wir dafür arbeiten, dass es im Ort besser wird. Und wenn wir nächstes Jahr ins Parlament kommen, werden wir dafür arbeiten, dass der Geist, den wir ersonnen haben, Wirklichkeit wird. Geredet wurde genug. Jetzt muss man handeln. Wenn wir nicht handeln, wird das Land untergehen."


    Literatur:

    Hans Magnus Enzensberger, "Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006", Suhrkamp Frankfurt am Main 1987

    György Dalos, "Der Vorhang geht auf - Das Ende der Diktaturen in Osteuropa", Deutsche Bearbeitung Elsbeth Zylla, Verlag C. H. Beck, München 2009