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Stabwechsel in Stuttgart

Es ist ein schweres Erbe, das Albrecht Puhlmann in Stuttgart angetreten hat. Gleich sechs Mal ist das Stuttgarter Opernhaus unter der Leitung seines Vorgängers Klaus Zehelein zum Opernhaus des Jahres gewählt worden. Puhlmann hat die Saison nun - auf den ersten Blick wenig originell - mit Bizets "Carmen" eröffnet. Doch er ließ dabei einen Mann Regie führen, der noch nie eine Oper inszeniert hat.

Von Frieder Reininghaus |
    Carmen ist keine Spanierin, befindet Lourdes Morgades von der renommierten Zeitung "El Pais". Die spanische Kulturjournalistin verweist darauf, dass Prosper Mérimées Zigeunerin mitsamt ihren künstlerischen Weiterungen nichts als eine Projektion von Ausländern sei.

    Zwar habe diese andalusische Arbeiterin, Schmugglerin und Lebenskünstlerin das Image Spanien geprägt habe wie sonst nur noch Don Quijote und Don Juan. Doch sei sie eben nichts als Fiktion von vier Franzosen: dem Novellisten Mérimée, den beiden Librettisten Halévy und Meilhac sowie dem Komponisten Georges Bizet. Dessen allerspanischste Musik erweist sich nun unter den Händen der energischen Julia Jones denn auch weniger als Abglanz der tiefsten Leidenschaft und Vorschein erotischer Obsessionen, sondern eher wie ein Medley: kein großer Bogen, keine Entwicklungslinien in den ausladenden Tableaus, sondern zackig präsentierte Nummern in effektivem Wechsel der Affekte.
    Sebastian Nübling hat das Stichwort der Journalistin Morgades aufgegriffen und "Carmen" radikal der Hispanidad entkleidet. Also keine Tabakmanufaktur und keine Stierkampfarena, keine Tapas in Lillas Pastias Kaschemme und schon gar kein Schmugglerlager in den Bergen. Don José sitzt in einem kalten Appartement und stiert auf Carmen: Die liegt am Boden und ist augenscheinlich schon tot.

    Mit den Erinnerungen, die sich nun gleichsam im Rückblick auftun, zeigt sich der Niedergang des netten Jungen - und Surplus, das Alter Ego im grünen Froschkostüm, ist ihm auf dem tristen Lebensweg behilflich beziehungsweise kommentiert mit mehr oder minder komischen Gesten.

    Micaëla, das Bauernmädchen aus den frühen Jugendtagen des auf Abwege geratenden Sergeanten, tritt im Stewardessenkostüm der 70er Jahre auf - und die Frauen, die eigentlich in der Fabrik Zigarren rollen und in der Pause die Soldaten anmachen, wurden ebenso wie die Straßenjungen in solche Hostessen-Kostüme gesteckt. Nicht eine beliebige Rivalin wird von der plötzlich ins Leben zurückkehrenden Carmen attackiert, sondern zielstrebig jene treu-zähe Micaëla, die gerade auch mit der anmutigen Stimme und dem etwas verhuschten Zähigkeit den Widerpart zu Carmen verkörpert: jene andere Art von Weiblichkeit, die auf die Zweisamkeit im Sessel vorm Fernseher hinausläuft.

    Der Bildschirm tritt jedoch nicht erst mit dem temporären Sieg von Mutters Emissärin in Aktion, sondern wird durchggängig und - soweit sichtbar - mit Ableitungen aus den Augenbildern von Luis Buñuels "Andalusischem Hund" bespielt werden.

    Um die strikt kulturtheoretische Grundierung der Inszenierung etwas abzufedern, ließ Sebastian Nübling statt Schmugglern Weißclowns auftreten. Um seine scharf kürettierte Fassung des Stücks, die auf alles südliche Aroma verzichtet, plausibel zu machen, musste der Text durch sehr sehr freie Übersetzung umgebogen, um ganze Handlungsstränge verkürzt, dann aber auch wieder mit Textpassagen aus Prosper Mérimées Novelle angereichert werden.

    Herausgekommen ist eine scharf geschnittene Studie über Gewaltverhältnisse in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, die beide aufs entschiedenste ihre Selbstverwirklichung betreiben. Da Carmen den zunächst noch unbestimmten Kurs des Don José kreuzt und keiner der beiden beidreht, kommt es zu den bekannten Kollisionen. Will Hartmann zeigt das mit seiner lockeren, leicht geführten und doch auch so dramatisch starken Tenorstimme so überzeugend wie Karine Babajanian, die vielleicht allzu ordentlich ausstaffierte und inszenierte Carmen. Auch der Thomas-Mannsche Gedanke der "Sympathie mit dem Tode" mag durch sie noch einmal eindrücklich werden.