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Stadt seiner größten Erfolge

2009 feiert die Welt Georg Friedrich Händel überall, sein Todestag jährt sich zum 250. Mal. London ist für Händel der wichtigste Ort in seinem Leben. Dort macht er eine einzigartige Karriere. Händels Einfluss in England reicht so weit, dass selbst die Melodie des Glockenturms von Westminster, deren größte Glocke im Volksmund Big Ben heißt, aus den ersten Takten von "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt" entlehnt sein soll.

Von Mareike Ilsemann |
    In der Kirche St. George‘s am Hanover Square ganz in der Nähe der Oxford Street füllen sich langsam Stuhlreihen und Galerie mit erwartungsfrohen Zuhörern. Vor dem Chorgestühl sind für das Orchester mit rotem Samt bespannte Stühle aufgestellt worden. Eine Frau stimmt das Cembalo. An diesem Freitagabend tragen fünf junge Sänger und Sängerinnen hier das Finale des diesjährigen Händel-Gesangswettbewerbs der Londoner Handel-Society aus.
    Nach eindrucksvollen Darbietungen der ersten vier Mitstreiter tritt in einem schlichten schwarzen Kleid Sopranistin Ruby Hughes als letzte an.
    Mit "O thou bright sun ... with darkness deep" aus dem Oratorium Theodora hofft, sie bei der Jury den entscheidenden Eindruck zu hinterlassen. Dass das Finale des Gesangwettbewerbs in St. George stattfindet, ist kein Zufall. Hier war Georg Friedrich Händel Gemeindemitglied. In diesem Raum hat er regelmäßig die Orgel gespielt und den Gottesdienst besucht.
    Draußen drängt der Lärm von der nahen New Bond Street und der Oxford Street hinüber. Vor den Pubs genießen Menschen mit einem Pint in der Hand ihren Feierabend und die laue Frühlingsluft. Vom Hanover Square sind es nur wenige Schritte zu Händels ehemaligem Wohnhaus in der Brook Street 25. Ein für seine Zeit typisches, schmales Reihenhaus, ein Raum breit, zwei Räume tief. Auf der Rückseite befinden sich in einem Anbau Treppenhaus und Fahrstuhl zum Handelhouse Museum.
    Weil Händels Küche im Parterre noch nicht renoviert werden konnte, lotst Direktor Martyn Wyatt die Besucher über den zweiten Stock in die Wohnräume des Komponisten.

    "Über die Ausstattung des Hauses haben wir ausgiebige Nachforschungen angestellt. Die Wände sind in einem neutralen grau gehalten. Ganz oben im Haus haben wir einen Abschnitt der Original-Täfelung gefunden. Und dann haben wir eine Schicht nach der anderen abgetragen, achtundzwanzig Schichten verschiedener Tapeten und Farben insgesamt, und die allerletzte Schicht, die hatte diese Farbe. Wir sind wir ziemlich sicher, dass Händel sie wieder erkennen würde."

    "The King Shall rejoice" eine Auftragsarbeit des Hofes anlässlich der Krönung von Georg II. 1727. Händel hat die Hymne, wie einen großen Teil seiner Musik hier in seinem Kompositionszimmer geschrieben. Nebenan im Musikzimmer sollen sich bei Chorproben bis zu dreißig Sänger gedrängt haben. Im Schlafzimmer nächtigte Händel in einem weinroten Himmelbett, im Ankleidezimmer ließ er sich seine altmodische, lange Perücke reichen und im Kontor im Erdgeschoss verkaufte der selbständige Musikunternehmer Eintrittskarten zu seinen Orgelkonzerten und Opern.

    "Als Händel 1723 in dieses Haus einzog, war das Viertel gerade ganz neu. Auf seinen Spaziergängen muss Händel zunächst nur Baugerüste gesehen haben. Sein Haus war gerade erst fertig gestellt worden, Hanover Square und St. Georges Church wurden noch gebaut. Aber die Gegend war dennoch unheimlich interessant für ihn, er befand sich zwar am Rand der Stadt, auf der anderen Seite der Oxford Street begann sozusagen das Landleben, aber auf dieser Seite der Oxford Street befand man sich schnell inmitten einer neuen, geschäftigen und aufregenden Metropole, einer sehr kosmopolitischen Stadt."

    Heute führt die Regent Street Richtung Soho, zu Händels Zeiten hieß sie Swallow Street. Ich lasse mich in den Touristenströmen an den Designerläden und Souvenirgeschäften vorbeitreiben. Die Masse bestimmt das Tempo. Auch Händel muss sich mehrmals in der Woche zu Fuß in süd-östlicher Richtung aufgemacht haben. Um im King's Theatre eine seiner Opern zu dirigieren, seinen Assistenten John Christopher Smith oder die in Soho ansässigen Cembalo-Bauer zu besuchten. Schon im 18. Jahrhundert war das Viertel zwischen West End und City vor allem für seine Bordelle und Theater berühmt.
    Im frühen 18. Jahrhundert ist der englische Adel verrückt nach italienischen Opern. Noch bevor Händel dauerhaft nach England übersiedelte, hatte er das gehobene Publikum Londons 1711 mit seiner Oper "Rinaldo" entzückt.

    "Wir haben in London diese neu gegründete Opern-Kompanie, die unbedingt jemand braucht, der für sie Musik schreibt. Und dann ist da der junge Komponist, fünfundzwanzig Jahre alt, der es nicht abwarten kann, italienische Opern zu komponieren. Das passte einfach perfekt. fasst der Händel- Biograph Donald Burrows die Situation zusammen."

    Ich löse mich am Piccadilly Circus aus dem Touristenstrom und biege rechts auf den Haymarket ab. Nach 150 Metern stehe ich vor dem Theater Ihrer Majestät. Ein massiger, viktorianischer Bau. Nur noch der Name erinnert an das alte King's Theatre, in dem Händel seine Opern zum Besten gab.
    Oper im georgianischen England ist ein gesellschaftliches Ereignis. Hier gilt "Sehen und Gesehen werden". Allerdings hatten die Opernkompanien finanziell von Anfang an einen schweren Stand. Selbst mit Subventionen vom König persönlich, ließ ihr Konkurs nie lange auf sich warten. Die italienische Oper war einfach eine zu teure Angelegenheit. Die Starsänger, unter ihnen berühmte Kastraten, ließen sich ihre Kunst teuer bezahlen. Und auch der aufwendige Bühnenzauber verschlang viel Geld. 1728 macht Händel und seiner Kompanie zudem eine Musikproduktion im benachbarten Fielding‘s Inn Theatre große Konkurrenz:
    John Gay's englischsprachige The Beggar's Opera, benutzt Händels berühmte Opernmelodien und nimmt Londons feine Bourgeoisie aufs Korn. Händel soll's mit Humor genommen, sogar eine Vorstellung besucht und viel gelacht haben.
    Ein roter Doppeldeckerbus bringt mich an den Rand von Bloomsbury. Das Viertel ist ein Paradebeispiel für die georgianische Architektur. Die symmetrischen Reihenhäuser aus dunkelroten Backsteinen zieren schwere, zum Teil farbige Holztüren. Typisch sind die weißen Fensterrahmen, der überdachte Eingang und die klassizistischen Pilaster oder Säulen neben den Türen. Als Händel sich vermutlich in einer Kutsche hierher bringen ließ, waren hier grüne Wiesen oder Baustellen.
    Im Foundling Museum am Rand von Bloomsbury probt ein Chor für die anstehende Messias-Aufführung. Das Museum zeigt die Geschichte des berühmten Foundling Hospital, von dem neben dem angrenzenden Fußballfeld nur noch die Grundmauern zu sehen sind. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts fanden in dem Waisenhaus verlassene Babys, die auf der Straße gestorben wären, ein neues Zuhause. Die Rate der Kindersterblichkeit ist in London damals sehr hoch. Dabei brauchte die Nation ihren Nachwuchs für ihre Eroberung der Welt. Angehörige des empfindsamen Bürgertums fühlen sich natürlich auch aus moralischen Gründen den Ärmsten der Armen verpflichtet. So auch Georg Friedrich Händel.
    Händel führt seinen "Messias" in einer Benefizveranstaltung zugunsten des Waisenhauses 1750 in der noch nicht fertig gestellten Kapelle des Foundling Hospitals auf.
    "Und dann mussten sie die Aufführung sogar wiederholen, weil die Zuhörer nicht in die Kapelle passten. Das Seltsame ist, sobald der "Messias" durch diese Benefiz Veranstaltungen berühmt geworden war, wurde er auch im Theater aufgeführt. Und schließlich wurde das Oratorium zu dem Werk, das Händel öfter dargeboten hat als jedes andere Stück in seinem Leben."

    Zuvor hatten Kirchenväter die Aufführung eines Oratoriums über das Leben Jesu in einem Theater, wo sich Gesindel wie Schauspieler und Dirnen herumtrieb als unmoralisch verurteilt. Vielleicht also stellt die so erfolgreiche Aufführung des "Messias" in der Kapelle des Foundling Hospitals eines der wichtigsten Ereignisse in Händels Leben dar.

    Wer mit der District Line bis zum Embankment fährt, kann den historischen Anlegeplatz von Englands Königen besichtigen. Wo an diesem Tag französische Jugendliche auf einer Bank ihre Lunchpakete auspacken, schwappte damals die unbefestigte Themse an die Anlegestelle heran. Vielleicht hat Georg I. hier (Wassermusik drunter) 1717 eine seiner goldenen Barken bestiegen.

    "Als König Georg I. nach Großbritannien kam, ließ er sich nicht gerne in der Öffentlichkeit sehen. Nur ab und zu gab es Partys auf der Themse. Als er ein paar Jahre später im Clinch mit dem Prinzen von Wales lag, musste er eine Party geben, um seine Fürsprecher auf seiner Seite zu halten. Und das ist der Moment 1717, wenn wir die größte aller Partys auf der Themse haben. Alle königlichen Boote und Barken waren im Einsatz, was sich in London schnell rumsprach, und die Leute kamen, um sich das Spektakel anzusehen. Es ist seltsam, aber um die Gezeiten auszunutzen, fand das alles nachts statt."
    Händels Wassermusik zu diesem Anlass gefiel dem König so gut, dass er sie zwei Mal wiederholen ließ.

    Auf dem Weg Richtung Chelsea kam der königliche Tross auch an der Westminster Abbey vorbei. Seit eh und je werden hier Englands Könige gekrönt, und bis heute ist eine dynastische Feier ohne Musik von Georg Friedrich Händel aus Halle an der Saale undenkbar.
    Obwohl der Eintritt zwölf Pfund kostet, treten sich die Besucher in der Kathedrale, die mehr Mausoleum und Museum als Gottesraum ist, fast auf die Füße. Viele Touristen lauschen der Stimme ihres Audioführers. Station Nummer 20 auf dem elektronischen Rundgang ist Rouibillacs Statue von Georg Friedrich Händels. "Was Handel German?", War Händel Deutscher?" fragt ein Junge entgeistert seinen Vater. Der Komponist, der sich kurz vor seinem Tod ein privates Begräbnis gewünscht hatte, wurde in der Ruhmeshalle der Nation standesgemäß begraben. Die Chapel Royal spielte seine Musik, und dreitausend Londoner aller Klassen kamen, um Abschied zu nehmen.
    Ich lege den Kopf in den Nacken und versuche mir vorzustellen, welche Kraft Händels Musik wohl entwickelt, wenn sie in ihrer Erhabenheit in diese gotischen Höhen entweichen kann.
    Der Glockenturm von Westminster, im Volksmund Big Ben genannt - das Wahrzeichen Großbritanniens und seiner Demokratie - Pilgerstätte für jeden London Touristen. Findet sich Händels Musik tatsächlich auch hier verewigt? Eine These, die Händel-Experte Donald Burrows nicht ganz ablehnt:

    "Da die Melodie am Anfang nach oben geht, was für Uhren selten ist, und es den Konturen von "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt" aus dem Messias zu folgen scheint, halte ich es für möglich, dass es als Vorlage für das Glockenläuten genommen wurde."

    Im Stadtteil Mayfair, in Händels Gemeindekirche St. Georges hat sich die Jury des Händel-Gesangwettbewerbs schließlich entschieden:

    ""Handel war immer eine große Quelle der Inspiration für mich, sowohl als Cellistin, als auch als Sängerin, er schreibt so schön für die Stimme","

    schwärmt die Siegerin. Händel in London ist 250 Jahre nach seinem Tod, ziemlich lebendig, oder "alive and kicking", wie man hier sagt.