Der "Städtebau im Schatten Stalins" hatte zu dieser Zeit seine bewegteste Phase schon hinter sich, wie nun die gleichnamige Berliner Tagung zeigte, auf der auch Medvedkins Film vorgeführt wurde. Denn nach 1929, nach dem ersten Fünfjahr-Plan, war es in der Sowjetunion zu einer Debatte gekommen, die Harald Bodenschatz, der Leiter des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes über Städtebau unter Stalin, im 20. Jahrhundert für beispiellos hält.
Schauen Sie, es gibt um 1910 eine breite Debatte, es gibt nach 1945 eine breite Debatte, aber es gibt niemals eine dermaßen intensive Debatte mit einem so großen Spektrum an unterschiedlichen städtebaulichen Visionen von radikale Moderne bis Retro-Aktionen und es gibt eine internationale Beteiligung, die weit über die deutsche hinausführt, die immer im Vordergrund steht...
Der amerikanische Industrie-Architekt Albert Kahn, der französische Prophet des neuen Bauens, Le Corbusier, der deutsche Städteplaner Ernst May – sie alle und viele Hundert andere gingen um 1930 in die Sowjetunion, oft auch aus ökonomischen Gründen. Die Weltwirtschaftskrise hatte sie im kapitalistischen Westen arbeitslos gemacht.
In Moskau versuchte die Kommunistische Partei mit den Millionen Menschen klar zu kommen, die nach der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und der überhasteten Industriealisierung in die zunehmend verslumten Städte strömten. Ein neuer, unvergleichlich moderner Städtebau schien möglich - und sozialistische Bekenntnisse wurden von den westlichen Experten nicht gefordert. Architekturtheoretiker Werner Durth:
Spezialisten, wie sie genannt wurden, also Planungsexperten wie Ernst May, der in Frankfurt die Grenzen seiner Möglichkeiten sehr wohl erkannte in diesem Jahr 1930, hat explizit gesagt, dass er nicht aus ideologischer Begeisterung in die Sowjetunion geht, sondern weil er diesen, wie er es nannte, weltpolitischen Experiment einfach nicht entgehen wollte. Er wollte mitgestalten, weil er hier etwas ganz historisch Neues entstehen sah.
Ernst May nahm am Wettbewerb um den Aufbau des Schwerindustrie-Zentrums Magnitogorsk teil, das im ersten Fünfjahrplan als Modellstadt und Vorbild vieler weiterer Retortenstädte diente. Der Jury-Vorsitzende Anatolij Lunacarskij erhielt insgesamt sechzehn Entwürfe zur effektiven Gestaltung von Gelände, Stausee sowie Kombinats- und Wohnanlagen. Der zeitgenössische Streit zwischen Urbanisten und Desurbanisten, die der alteuropäischen Zentralstadt eine Ende bereiten wollten, bestimmte auch diese Debatte an einem Ort, an dem vorläufig nur ein paar Hütten herumstanden. Harald Bodenschatz:
Dort werden radikale Bandstadt-Konzepte, Auflösungen von Stadt, aber auch unterschiedliche Zeilenbaukonzeptionen, dann immer mehr Konzeptionen, die auch eine eher traditionelleres Bild von Stadt mit einem richtigen Zentrum, aber insbesondere auch mit Grünanlagen... bis hin zu Überlegungen des traditionalistischen stalinistischen Städtebaus.
Die Wende und Festlegung in der sowjetischen Städtebaupolitik kam schnell. 1931 forderte der von Stalin bevorzugte Stadtplaner Kaganovic vor dem Zentralkomitee, die alten Städte zu "rekonstruieren" und die neuen – wie Magnitogorsk – gemäßigt modern zu gestalten. Für die meisten Gäste aus dem Westen gab es nun nichts mehr zu tun. Dafür rückten traditionsorientierte Stadtplaner wie Kurt Meyer nach, der unter Bürgermeister Konrad Adenauer entwickelte Köln-Pläne auf sozialistische Verhältnisse anwandte.
Nach der Überwindung der Hungersnot im Winter 1932/33 schien der Sieg des Sozialismus nicht nur nach Meinung der Parteikader festzustehen. Die Architektur der später sogenannten "neuen Prächtigkeit" begann durch die Köpfe zu spuken. In Moskau wurde die Metro gebaut, am Gorkij-Boulevard wurden Häuser gesprengt oder spektakulär verschoben. Es entstanden Grünanlagen und monumentale öffentliche Bauten.
Selbst Pläne für einen bis zu fünfhundert Meter hohen Palast der Sowjets – ein kongeniales Gegenstück zu Hitlers gigantischer Halle des Volkes und gedachter Mittelpunkt der Welt – lagen vor. Ob das alles dem geforderten sozialistischen Realismus entsprach, kann bezweifelt werden. Harald Bodenschatz:
In der Tat ist es eine Architektursprache, die sich zumindest auf den ersten Blick sehr sehr radikal von modernen Architektursprachen emanzipiert hat, die aber durchaus Bezüge zum Beispiel zur Hochhaus-Architektur in die USA hat, sehr, sehr starke... und beispielsweise das berühmte Rockefeller-Center in New York wird also ganz enthusiastisch von den Vertretern dieser neuen stalinistischen Architektur auch begrüßt.
Der berühmte Generalplan für Moskau von 1935, den man Stalin zuschrieb, der aber von Kaganovics stammte, wurde zur Bibel der weiteren Stadtentwicklung, die keineswegs einheitlich verlief. Moskau wurde ein mehrfach geschichtetes Gebilde, in dem sich die Überreste der alten Stadt, die neue stalinistische Stadt und die provisorische Stadt der Baracken im Grunde bis heute überlagern.
Laut Werner Durth wäre es unangemessen, das in Teilen berechtigte Lob für den Generalplan Kaganovics in eine vollständige Absolution des stalinistischen Städtebaus münden zu lassen.
Man muss sehen, dass mit einem ungeheuren Kraftakt dieser Umbau von Moskau natürlich auch als Vergegenständlichung der Herrschaft Stalins, als ein großes Medium stalinistischer Herrschaft und des Machtanspruchs umgesetzt wurde. Und diese Stadt bestand zum großen Teil aus Lagern von Zwangsarbeitern, das war ein riesen Gefängnis... und mir fällt es schwer, dies nur auf der Ebene der Stadtplanung zu würdigen.
Die Tagung an der Technischen Universität Berlin glich der Verlesung eines Ergebnisprotokolls. Alles, was das Projekt über "Städtebau im Schatten Stalins" erforscht hat, ist bereits in ein gleichnamiges Buch eingegangen, das nun in den Handel kommt. Das ästhetisch und inhaltlich grandiose Werk zeigt: Für eine kurze Zeit war unter dem Schlächter Stalin Meinungsvielfalt und Ideenwettbewerb möglich – zumindest, was die Stadtplanung anging. Dann schlug die Partei zu und brachte den Pluralismus auf Linie.
Schauen Sie, es gibt um 1910 eine breite Debatte, es gibt nach 1945 eine breite Debatte, aber es gibt niemals eine dermaßen intensive Debatte mit einem so großen Spektrum an unterschiedlichen städtebaulichen Visionen von radikale Moderne bis Retro-Aktionen und es gibt eine internationale Beteiligung, die weit über die deutsche hinausführt, die immer im Vordergrund steht...
Der amerikanische Industrie-Architekt Albert Kahn, der französische Prophet des neuen Bauens, Le Corbusier, der deutsche Städteplaner Ernst May – sie alle und viele Hundert andere gingen um 1930 in die Sowjetunion, oft auch aus ökonomischen Gründen. Die Weltwirtschaftskrise hatte sie im kapitalistischen Westen arbeitslos gemacht.
In Moskau versuchte die Kommunistische Partei mit den Millionen Menschen klar zu kommen, die nach der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und der überhasteten Industriealisierung in die zunehmend verslumten Städte strömten. Ein neuer, unvergleichlich moderner Städtebau schien möglich - und sozialistische Bekenntnisse wurden von den westlichen Experten nicht gefordert. Architekturtheoretiker Werner Durth:
Spezialisten, wie sie genannt wurden, also Planungsexperten wie Ernst May, der in Frankfurt die Grenzen seiner Möglichkeiten sehr wohl erkannte in diesem Jahr 1930, hat explizit gesagt, dass er nicht aus ideologischer Begeisterung in die Sowjetunion geht, sondern weil er diesen, wie er es nannte, weltpolitischen Experiment einfach nicht entgehen wollte. Er wollte mitgestalten, weil er hier etwas ganz historisch Neues entstehen sah.
Ernst May nahm am Wettbewerb um den Aufbau des Schwerindustrie-Zentrums Magnitogorsk teil, das im ersten Fünfjahrplan als Modellstadt und Vorbild vieler weiterer Retortenstädte diente. Der Jury-Vorsitzende Anatolij Lunacarskij erhielt insgesamt sechzehn Entwürfe zur effektiven Gestaltung von Gelände, Stausee sowie Kombinats- und Wohnanlagen. Der zeitgenössische Streit zwischen Urbanisten und Desurbanisten, die der alteuropäischen Zentralstadt eine Ende bereiten wollten, bestimmte auch diese Debatte an einem Ort, an dem vorläufig nur ein paar Hütten herumstanden. Harald Bodenschatz:
Dort werden radikale Bandstadt-Konzepte, Auflösungen von Stadt, aber auch unterschiedliche Zeilenbaukonzeptionen, dann immer mehr Konzeptionen, die auch eine eher traditionelleres Bild von Stadt mit einem richtigen Zentrum, aber insbesondere auch mit Grünanlagen... bis hin zu Überlegungen des traditionalistischen stalinistischen Städtebaus.
Die Wende und Festlegung in der sowjetischen Städtebaupolitik kam schnell. 1931 forderte der von Stalin bevorzugte Stadtplaner Kaganovic vor dem Zentralkomitee, die alten Städte zu "rekonstruieren" und die neuen – wie Magnitogorsk – gemäßigt modern zu gestalten. Für die meisten Gäste aus dem Westen gab es nun nichts mehr zu tun. Dafür rückten traditionsorientierte Stadtplaner wie Kurt Meyer nach, der unter Bürgermeister Konrad Adenauer entwickelte Köln-Pläne auf sozialistische Verhältnisse anwandte.
Nach der Überwindung der Hungersnot im Winter 1932/33 schien der Sieg des Sozialismus nicht nur nach Meinung der Parteikader festzustehen. Die Architektur der später sogenannten "neuen Prächtigkeit" begann durch die Köpfe zu spuken. In Moskau wurde die Metro gebaut, am Gorkij-Boulevard wurden Häuser gesprengt oder spektakulär verschoben. Es entstanden Grünanlagen und monumentale öffentliche Bauten.
Selbst Pläne für einen bis zu fünfhundert Meter hohen Palast der Sowjets – ein kongeniales Gegenstück zu Hitlers gigantischer Halle des Volkes und gedachter Mittelpunkt der Welt – lagen vor. Ob das alles dem geforderten sozialistischen Realismus entsprach, kann bezweifelt werden. Harald Bodenschatz:
In der Tat ist es eine Architektursprache, die sich zumindest auf den ersten Blick sehr sehr radikal von modernen Architektursprachen emanzipiert hat, die aber durchaus Bezüge zum Beispiel zur Hochhaus-Architektur in die USA hat, sehr, sehr starke... und beispielsweise das berühmte Rockefeller-Center in New York wird also ganz enthusiastisch von den Vertretern dieser neuen stalinistischen Architektur auch begrüßt.
Der berühmte Generalplan für Moskau von 1935, den man Stalin zuschrieb, der aber von Kaganovics stammte, wurde zur Bibel der weiteren Stadtentwicklung, die keineswegs einheitlich verlief. Moskau wurde ein mehrfach geschichtetes Gebilde, in dem sich die Überreste der alten Stadt, die neue stalinistische Stadt und die provisorische Stadt der Baracken im Grunde bis heute überlagern.
Laut Werner Durth wäre es unangemessen, das in Teilen berechtigte Lob für den Generalplan Kaganovics in eine vollständige Absolution des stalinistischen Städtebaus münden zu lassen.
Man muss sehen, dass mit einem ungeheuren Kraftakt dieser Umbau von Moskau natürlich auch als Vergegenständlichung der Herrschaft Stalins, als ein großes Medium stalinistischer Herrschaft und des Machtanspruchs umgesetzt wurde. Und diese Stadt bestand zum großen Teil aus Lagern von Zwangsarbeitern, das war ein riesen Gefängnis... und mir fällt es schwer, dies nur auf der Ebene der Stadtplanung zu würdigen.
Die Tagung an der Technischen Universität Berlin glich der Verlesung eines Ergebnisprotokolls. Alles, was das Projekt über "Städtebau im Schatten Stalins" erforscht hat, ist bereits in ein gleichnamiges Buch eingegangen, das nun in den Handel kommt. Das ästhetisch und inhaltlich grandiose Werk zeigt: Für eine kurze Zeit war unter dem Schlächter Stalin Meinungsvielfalt und Ideenwettbewerb möglich – zumindest, was die Stadtplanung anging. Dann schlug die Partei zu und brachte den Pluralismus auf Linie.