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Standardwerk über einen Renaissance-Maler

Es gibt Bilder, die sich dem Betrachter für immer ins Gedächtnis brennen. Andrea Mantegnas "Beweinung Christi" in der Mailänder Brera ist ein solches Bild: ein erschütterndes Monument des Todes. Der fahle Leichnam des Gekreuzigten ist auf eine matt rot getönte Marmorplatte gebettet und erscheint frontal in äußerster perspektivischer Verkürzung.

Von Martina Wehlte-Höschele | 15.12.2004
    Der Blick fällt zuerst auf die durchbohrten Fußsohlen am unteren Bildrand, gleitet dann über die Falten des Schweißtuches zu den Wundmalen der Hände und schließlich über den gewölbten nackten Brustkorb zum Gesicht, das vom erlittenen Schmerz noch gezeichnet ist. Nie zuvor war der Gottessohn so durch und durch Mensch. Seine physische Präsenz ist stumme Klage und Anklage zugleich, und der Ausdruck regloser Trauer steht in Gegensatz zur Verzweiflung der weinenden Maria, des Johannes und einer dritten, stark angeschnittenen Figur (vielleicht Maria Magdalenas) am linken Bildrand. Auffallend ist die Plastizität der zentralen Christusfigur und die suggestive Raumtiefe. Beides wird erlangt durch den Gleichklang von Farbe und Form, in dem sich zeichnerische Schärfe und malerisches Modellieren verbinden. Der stumpfe Ton der Leimtempera auf Leinwand entspricht der trostlosen Atmosphäre des Bildgeschehens.

    Eine anderthalbseitige Abbildung in dem kürzlich bei Dumont erschienenen Prachtband zu Andrea Mantegna kann den Eindruck des Originals hervorragend wiederbeleben.


    Die Autorin des kürzlich bei Dumont erschienenen Prachtband zu Andrea Mantegna, Alberta de Nicolò Salmazo, ist eine ausgewiesene Kennerin der venezianischen Malerei und hat mehrfach Beiträge zu Leben und Werk Mantegnas publiziert. Ihre über dreihundert Seiten starke Monographie dieses bedeutenden und schon zu Lebzeiten hoch geschätzten Renaissancemalers schließt nun eine Lücke, die erst die große Mantegna-Ausstellung 1992 in London und New York ins Bewusstsein gerückt hatte. Wie verstreut, auf Einzelaspekte konzentriert und in ihrer Fülle geradezu unüberschaubar die Forschungsliteratur ist, erweist ein Blick in Salmazos chronologisch geordnetes Literaturverzeichnis und den über fünfhundert Nummern umschließenden Anmerkungsteil. Dass die Autorin dieses Material in ihre Darstellung eingearbeitet und ihren eigenen Erkenntnissen nutzbar gemacht hat, lässt erahnen aus welchem Wissensfundus sie geschöpft und welchen Kraftakt sie vollbracht hat. Schon die minutiös nachgezeichnete Vita des 1431 auf der Isola di Carturo bei Padua geborenen Künstlers bezeugt das.

    Nach Giorgio Vasaris biographischen Angaben war Mantegna der Sohn eines Tischlers und erhielt seine künstlerische Ausbildung bei dem archäologisch interessierten Maler Francesco Squarcione, der ihm das Vorbild der Antike vermittelte. Markgraf Ludovico Gonzaga wurde sein Förderer und Freund, so dass Mantegna, nachdem er 1460 als Hofmaler nach Mantua gezogen war, von Beginn an zum innersten Zirkel des Hofes gehörte und dort bis zu seinem Tode 1506 mit Aufträgen und Ehrungen überhäuft wurde.

    Von seinen gesellschaftlichen Ambitionen und seinem Status zeugt noch heute der berühmte quadratische Palazzo mit dem kreisrunden Innenhof in Mantua. Es ist die erste derart aufwendige Künstlerresidenz, die uns bekannt ist, und ihr Bauherr übernahm sich finanziell so, dass er seinen Söhnen nicht nur eine Reihe eigener Gemälde und eine Antikensammlung hinterließ, sondern auch einen Berg von Schulden. Im Nachlass fand sich unter anderem die anfangs beschriebene "Beweinung Christi", die um 1478 datiert wird. Da sie inhaltlich und formal außerhalb jeglicher Konvention steht, nahm man bislang an, der Meister habe sie für sich selbst geschaffen. Alberta de Nicolò Salmazo macht nun glaubhaft, dass der hochgebildete, im Humanismus verwurzelte Ludovico Gonzaga mit seiner griechischen Vorliebe auch im religiösen Bereich der Auftraggeber gewesen sein könnte, zumal Mantegna damals mit dem Bau seines Palazzos begann und sich eine unbezahlte Arbeit kaum hätte leisten können.

    Warum sein Stern während seines ganzen Künstlerlebens hoch stand, erklärt sich beim Durchblättern des fulminant illustrierten Bandes mit zahlreichen Detailaufnahmen und einem Katalogteil, der alle überlieferten Werke dokumentiert. Schon von seiner frühen Schaffenszeit an lassen sich charakteristische Merkmale seiner Kunst feststellen: Ein herber, fast harter Figurentypus, der im Porträt ebenso wenig geschönt ist wie im religiösen oder historischen Szenario, der aber bei allem Realismus der Darstellung ein heroisches Menschenbild erkennen lässt, wie es die toskanische Frührenaissance vertreten hatte. Charakteristisch ist auch ein skulpturaler, an der Antike geschulter Malstil, der den Pinsel zum Meißel werden lässt und insbesondere bei der Verwendung heller grisaille-ähnlicher Farben an das Vorbild antiker Reliefs gemahnt. Schließlich die perfekte Synthese von Figur und Raum, die sich an prunkvollen Architekturen und phantasievollen Landschaftsausschnitten bewährt.

    Nach den ausdrucksstarken Fresken der Eremitani-Kirche in Padua beschritt Mantegna den Weg zum neuzeitlichen Raumillusionismus weiter, als er den Empfangsraum im Castello di San Giorgio zu Mantua ausmalte, wo sich der Hofstaat der Gonzaga unter einer blau strahlenden Himmelskuppel versammelt hat. Die Autorin führt ihre Leser sorgsam zu den Raffinessen und innovativen Qualitäten dieses Werkes.

    Isabella d’Este, Kardinal Sigismondo, Lorenzo de Medici und andere Große der Zeit waren begierig nach den Gemälden des Meisters, dessen langsames Arbeiten allerdings immer wieder beklagt wurde: Eine Ungerechtigkeit angesichts der ausgefeilten Kompositionen mit ihrem souveränen Wechsel von Untersicht und Aufsicht, ihrem extremen scorto und einem überaus sorgfältigen Naturalismus in der Wiedergabe von Stofflichem, wie es die großformatigen Szenen vom Triumphzug des Cäsar vorführen.

    Ein urheberrechtlicher Vertrag Mantegnas mit einem Goldschmied in Mantua belegt, dass ab 1475 auch Kupferstiche nach Zeichnungen des Meisters gedruckt wurden, die beispielsweise Dürer kennen lernte. Nicht erst mit diesem Faktum stellt sich die Frage, welche Nachwirkungen Andrea Mantegnas Werk auf spätere Künstler gehabt hat. Hierauf geht die Autorin leider nicht ein; sie beschränkt sich auf den Bezug zu Zeitgenossen wie den Bellinis, obgleich sie doch den herausragenden Meister zu Recht als eine der Schlüsselfiguren neuzeitlicher Malerei des Quattrocento in Norditalien bezeichnet. Freilich - mit ihrer fundierten Monographie hat Alberta de Nicolò Salmazo ein Standardwerk verfasst, das auch die Grundlage für weitere Forschungen zur Wirkungsgeschichte sein wird.