Der Staat ist heute Geisel eines Clankrieges, der innerhalb der Exekutive tobt. Der Staatspräsident und sein Wirtschaftsminister bekämpfen sich schamlos. Der Verteidigungshaushalt und das Gezerre um die 35-Stunden-Woche sind der Einsatz eines persönlichen Spiels, ohne dass das Allgemeinwohl dabei in Betracht gezogen würde.
Nicolas Sarkozy, 49 Jahre alt, Wirtschafts- und Finanzminister, offiziell Nummer zwei der Regierung, mit dem Titel eines Staatsministers ausgestattet, macht keinen Hehl aus seiner Absicht, Jacques Chirac im Elysée-Palast beerben zu wollen, obwohl der gut 20 Jahre ältere Amtsinhaber im Jahr 2007 möglicherweise selbst noch einmal antreten möchte. Ob er - so wie das für sich der Sozialist Laurent Fabius einst zugab - auch morgens beim Rasieren an das Präsidentenamt denke, wurde Sarkozy im November 2003 während einer Fernsehsendung gefragt. "Nicht nur wenn ich mich rasiere", antwortete der Minister und sorgte damit für helle Aufregung in Paris.
"Meine erste Reaktion", meint der Journalist Christophe Barbier vom Nachrichtenmagazin L`Express, " war folgende: Da kam wieder einmal dieser vulkanartige Ehrgeiz von Nicolas Sarkozy zum Ausdruck. Er kann nicht anders: er muss es einfach sagen. Es gibt eine Redensart in der französischen Politik: Wer Präsident werden möchte, denkt pausenlos an den Elysée, spricht aber niemals darüber. Nicolas Sarkozy denkt ständig daran und redet unentwegt darüber. Deshalb dachte ich zunächst: das war ein Fehler, Sarkozy geht zu weit. Es besteht die Gefahr, dass die Wähler sagen, du übertreibst, du bist zu versessen auf das Amt. Mein zweiter Gedanke war der: Nicolas Sarkozy hat abermals gezeigt, dass er ein Politiker der Moderne ist. Heute belügt man die Leute nicht mehr. Jeder weiß, dass Sarkozy Präsident werden möchte. Wenn er geantwortet hätte: `Nein, die Wahl 2007 interessiert mich nicht´, das hätte scheinheilig geklungen. Die Franzosen bestrafen nicht mehr diejenigen, die Ehrgeiz und Arroganz herausstellen. Heuchelei und Halbwahrheiten werden dagegen geahndet."
Im Elyséepalast wurde Nicolas Sarkozys Äußerung als offene Kriegserklärung aufgefasst, der bereits andere Provokationen vorausgegangen waren. So sprach sich Sarkozy etwa dafür aus, die Amtszeit des Staatspräsidenten auf zwei Mandate zu begrenzen - Chirac könnte sich dann 2007 nicht noch einmal zur Wahl stellen. Gegen den Willen des Präsidenten stellte Sarkozy die 35-Stunden-Woche in Frage und sprach sich für eine Kürzung des Verteidigungshaushaltes aus. Am 14. Juli ging Staatspräsident Jacques Chirac während eines Fernsehinterviews anlässlich des Nationalfeiertages zum Gegenangriff über:
Es gibt zwischen dem Finanzminister und mir keine Meinungsverschiedenheiten, gerade auch in der Frage der Staatsausgaben. Und zwar aus einem einfachen Grund: ich entscheide, er führt aus.
Chirac legte nach:
Wenn dieser oder jener Minister für den Vorsitz der Regierungspartei kandidiert und zum UMP-Vorsitzenden gewählt wird, dann wird er sofort zurücktreten, oder ich werde seine Amtszeit beenden.
Inzwischen hat sich Nicolas Sarkozy entschieden. Er strebt den Parteivorsitz der UMP an - das Kürzel steht für: "Union pour un Mouvement Populair" - zu deutsch: "Union für eine Volksbewegung". Und: Sarkozys Wahl im November gilt trotz zweier Mitbewerber als sicher.
Die UMP besteht erst seit zwei Jahren. Nach der Präsidentschaftswahl im Mai 2002 hatte Jacques Chirac versucht, die bürgerliche Rechte in einer einzigen Partei zusammenzufassen. Zwei Monate später eroberte die UMP bei den Parlamentswahlen bereits die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Kurz darauf stimmten schließlich auch die Mitglieder der 1976 von Jacques Chirac gegründeten neogaullistischen Sammlungsbewegung RPR der Fusion ihrer Partei mit der UMP zu.
Einer verweigerte Jacques Chirac die Gefolgschaft: Francois Bayrou. Der Vorsitzende der konservativ-liberalen UDF, eines Parteienbündnisses, mit dessen Hilfe Valéry Giscard d`Estaing 1974 in den Elysée, den Präsidenten-Palast, einzog, widersetzte sich der Idee eines bürgerlichen Sammelbeckens. Entscheidungen, die an einem Ort in einer Partei getroffen werden...
"Allein die Vorstellung, die politische Macht in einer einzigen Gruppierung der Rechten zu konzentrieren, ist schon ein Irrtum", meint Francois Bayrou.
"Mit der Wahl des künftigen UMP-Vorsitzenden ist die Idee einer Einheitspartei vom Tisch", sagt der Journalist Christophe Barbier.
Nicolas Sarkozy hat nie an die UMP geglaubt. Er hielt das für idiotisch und wollte die RPR und die UDF behalten. Ohne das laut zu sagen, wird er sich an dem alten Modell orientieren.
Auch ideologisch werde in der Partei künftig ein neuer Wind wehen, glaubt Christophe Barbier:
Nicolas Sarkozy hat mit dem Gaullismus nichts zu tun. Er hat in der RPR Karriere gemacht, weil dies die größte Partei der bürgerlichen Rechten war. Er hat nie begriffen, warum de Gaulle die Menschen immer noch fasziniert. Von den politischen Vorstellungen des Generals findet sich bei ihm nichts wieder. De Gaulle wurde 1890 geboren, er war ein Mann des 19. Jahrhunderts, der Zeit von Napoleon dem Dritten. Nicolas Sarkozy sieht sich als Mann des 21. Jahrhunderts und fühlt sich De Gaulle genauso wenig verpflichtet, wie Robbespierre oder Ludwig XIV.
Sarkozy übernimmt eine Partei, mit der es nicht zum besten steht. Schwere Niederlagen bei den Regional- und Europawahlen; der ehemalige Vorsitzende Alain Juppé, ein enger Vertrauter von Präsident Chirac, wurde zudem in erster Instanz wegen illegaler Parteienfinanzierung zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten und dem Verlust der Wählbarkeit für zehn Jahre verurteilt. Monatelang versuchte das Chirac-Lager eine Kandidatur von Nicolas Sarkozy zu verhindern. Auch innerhalb der Partei sei der frühere Innen- und gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzminister nicht sonderlich beliebt, weiß Christophe Barbier. Ganz im Gegenteil:
Nicolas Sarkozy wird gefürchtet. Er kann sehr aufbrausend werden, wenn er mit den Partei-Funktionären hinter verschlossenen Türen redet. Er wird allerdings bewundert. Seit zwei Jahren, das heißt seit er in der Regierung ist, verkörpert er einen neuen Politikertyp. Eine unglaubliche Energie, ein Macher. Er ist zwar populär. Aber er hat es noch nicht fertiggebracht, jene schwer zu beschreibende Alchimie herzustellen, die dafür sorgt, dass das Volk oder die Parteimitglieder ihn lieben.
Sarkozy hat nicht die (elitäre) Verwaltungshochschule ENA besucht, so wie Jacques Chirac oder der frühere Premierminister Lionel Jospin. Seine Einstellung gegenüber dem Staat ist eine andere. Die ENA-Absolventen, (die sogenannten Enarchen) haben gelernt, dass die Verwaltung, der Apparat immer Recht hat. Anders Nicolas Sarkozy: Er meint, dass die Politik im Vordergrund steht und die Verwaltung sich ihr unterzuordnen habe. Sollte dieser Politikertyp eines Tages an der Spitze des Staates stehen, könnte eine Reform des Staates, die bisher niemand angepackt hat, vielleicht auf den Weg gebracht werden.
Seine Karriere wurde Nicolas Sarkozy nicht an der Wiege gesungen. Sein Vater, ein ungarischer Adliger, floh nach dem Krieg vor den Kommunisten nach Frankreich. Die Mutter stammt aus einer Familie der jüdischen Gemeinde im griechischen Thessaloniki. Nach der Geburt der drei Söhne scheitert die Ehe. Nicolas wächst bei der Mutter auf, die als Anwältin arbeitet. Die Familie zieht in den vornehmen Pariser Vorort Neuilly. Der Junge lebte dort als Außenseiter, meint Sarkozy-Biograph Nicolas Domenach, Chefredakteur der Wochenzeitung "Marianne":
Er hat seine Kindheit nicht als Armer unter Armen verbracht. Er stammt vielmehr aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und lebte innerhalb der Groß-Bourgeoisie unter sehr reichen Leuten. Und diesen Klassenunterschied hat man ihn spüren lassen. Aus dieser Zeit stammt sein Bedürfnis, es `denen da oben´ zu zeigen. Jedes Mal wenn er eine höhere Stufe der Macht erklimmt, kommt ihm dieser Satz über die Lippen: Welch eine Revanche!
Sarkozy studiert Jura und wird - noch keine 30 Jahre alt - Bürgermeister von Neuilly und Mitglied des Regionalrates des Departements Hauts-de-Seine. Der junge RPR-Politiker ist fasziniert von dem zupackenden, bisweilen brutalen Politik-Stil des Parteichefs der Neogaullisten: Jacques Chirac. Und der wiederum erkennt das Talent des Jüngeren: Sarkozy ist neben Alain Juppé und Dominique de Villepin Chiracs politischer Ziehsohn. Und er ist noch mehr: nämlich ein "sehr guter Freund" von Chiracs Tochter Claude.
Einige sprechen von einem Verhältnis der beiden. Sicher ist, dass er sie lange Zeit `meine kleine Schwester´ nannte. Sie standen sich sehr nah. So nah, dass sie nicht nur für Jacques Chirac gearbeitet haben, sondern sich auch über ihn lustig machten, weil er bei seinen Fernsehauftritten - wie Nicolas und Claude meinten - `schlecht wie ein Schwein´ wirkte. Diese Nähe ist der Grund dafür, dass Claude, wie auch ihre Mutter Bernadette, so entsetzt waren, als Nicolas Sarkozy zu Edouard Balladur überlief.
Vor der Präsidentschaftswahl 1995 gibt Premierminister Edouard Balladur seine Kandidatur für das höchste Staatsamt bekannt und stößt damit seinen Parteifreund Jacques Chirac vor den Kopf, der als Chef der größten Oppositionspartei ebenfalls antritt. Nicolas Sarkozy, seit 1993 Haushaltsminister und Sprecher der Regierung, unterstützt Balladur, der Umfragen zufolge zunächst die besten Aussichten hat, gewählt zu werden. In der Partei gilt Sarkozy damit als Verräter. Und das bekommt er auch zu spüren, nachdem dann doch Jacques Chirac die Wahl gewonnen hat. "Ich werde der Präsident aller Franzosen sein", kündigt Chirac in der Wahlnacht an. Findige Popmusiker vertonen dieses Versprechen später.
Aller Franzosen - außer Nicolas Sarkozy. Drei Jahre lang wird er geschnitten und ausgepfiffen. Seine Rückkehr in die aktive Politik hat mit Chiracs größtem politischen Fehler zu tun. Der Präsident folgt der Empfehlung Dominique de Villepins, des Generalsekretärs des Elysée, und kündigt 1997 die Auflösung der Nationalversammlung an.
Die Erwartung: eine stabile Mehrheit für die Bürgerliche Rechte. Das Ergebnis: ein Wahlsieg der Linken. Die Folge: die sogenannte Kohabitation. Denn: Der konservative Präsident muss den Sozialisten Lionel Jospin zum Premierminister ernennen. Die Chirac-Anhänger zweifeln am politischen Geschick des Präsidenten und sind bereit, mit den Abtrünnigen von 1995 wieder zusammenzuarbeiten. Sarkozy wird Generalsekretär und Interimsvorsitzender der Gaullistischen Partei und - trotz einer weiteren Niederlage als Spitzenkandidat bei der Europawahl 1999 - nach Chiracs Wiederwahl im Jahr 2002 Innenminister. Sein Programm: Kampf gegen die Kriminalität. Sein Einsatz: mehr Geld für die Sicherheitskräfte und eine bessere Motivation der Polizisten und Gendarmen. Sein Mittel: das Fernsehen. Kein Tag ohne Schlagzeile, ohne Fernseh-Bilder. Wenn der Innenminister nachts mit Polizisten im Streifenwagen unterwegs ist, ist bestimmt eine Kamera dabei. "Sarkozy beherrscht die Medien wie kein Zweiter", meint der Journalist Nicolas Domenach:
Er glaubt, ohne Medien kann man nicht handeln. Die Medien sind sein Objekt und nicht umgekehrt er das Thema der Medien. Er ist der einzige, der sich von Journalisten nicht einwickeln lässt. Er gibt den Ton an. Er ist Regisseur und Darsteller. Man könnte fast sagen: er trägt die Kamera auf den Schultern.
"Herr Minister, Ihre Ambitionen auf das höchste Staatsamt sind bekannt, inwiefern wären Sie ein besserer Staatschef als der gegenwärtig amtierende?", wollte eine irische Journalistin wissen und löste damit Heiterkeit im überfüllten Pressesaal des Innenministeriums aus.
"Endlich kommt in diese Pressekonferenz etwas frischer Wind", antwortet Nicolas Sarkozy.
Sarkozy ist allgegenwärtig und er hat Erfolg: die Kriminalitätsrate sinkt. Sarkozy geht sogleich vor die Presse: - Nach jahrelanger Flucht wird Yvann Colonna, der mutmaßliche Mörder von Claude Erignac, des Präfekten von Korsika, gefasst. Sarkozy verkündet die Festnahme persönlich.
Dass am Tag danach die von ihm geplante Verwaltungsreform auf der Insel in einem Referendum scheitert, schadet Sarkozys Popularität nicht.
Die Sozialisten und Lionel Jospin haben 2002 auch deshalb verloren, weil sie gesagt haben, der Staat könne nichts mehr bewirken. Die Franzosen wollen aber Politiker, die ihnen das Gefühl oder die Illusion vermitteln, dass der Staat handlungsfähig ist und dass er sie schützt. Nicolas Sarkozy wiederholt ständig, dass Politiker noch über Macht verfügen. Dafür sind die Menschen ihm dankbar. Viele Politiker sind eher Technokraten. Er handelt gern und er schätzt das, was er tut.
Kaum war Nicolas Sarkozy in diesem Frühjahr zum Wirtschafts- und Finanzminister im Rang eines Staatsministers ernannt, legte er sich mit der deutschen Bundesregierung an. Der Minister unterstützte offen die Übernahmepläne des Pharma-Unternehmen Sanofi-Synthelabo und sorgte dafür, dass aus dem deutsch-französischen Aventis-Konzern ein rein französisches Unternehmen wurde. Die Proteste von Bundeskanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement störten Sarkozy nicht. Die deutsch-französischen Beziehungen scheinen für ihn ohnehin zweitrangig zu sein.
"Nicolas Sarkozy ist auch deshalb untypisch in der französischen Politik, weil ihn Geschichte nicht interessiert", meint Christophe Barbier vom Nachrichtenmagazin L´Express.
Französische Politiker betrachten sich als Bestandteil der Historie. Er ist Kind von Einwanderern. Die französischen Könige, Jeanne d`Arc oder Chlodwig - das spielt für ihn keine Rolle. Er denkt nicht vertikal, sondern horizontal. Wichtig ist für ihn die Globalisierung, die Weltmacht USA, die ihn fasziniert. In einem Artikel, der ihm nicht besonders gefallen hat, habe ich ihn einmal mit einer Seerose verglichen. Er bedeckt eine große Oberfläche, aber er hat keine Wurzeln.
Wichtigste Beraterin des künftigen UMP-Vorsitzenden ist seine Ehefrau Cecilia. Für Sarkozy gehört auch das Privatleben, seine persönlichen Vorlieben und Schwächen, zum öffentlichen Amt.
Er hat einen gewaltigen Appetit, vor allem auf Schokolade. Aber er weiß, dass er zunimmt, wenn er zu viel isst, und dann mag er sich nicht. Er meint, Politiker müssten Athleten sein. Er kennt viele Sportler, fährt selbst Fahrrad und hält strikt Diät. Es gibt ein Problem: er mag keinen Wein. Kann man in Frankreich zum Präsidenten gewählt werden, wenn man keinen Wein mag und stattdessen Orangensaft trinkt? Ich bin nicht sicher, ob Frankreich heute schon so sehr einer nordeuropäischen Demokratie gleicht, dass jemand in das höchste Staatsamt gewählt wird, dem die Gesundheit wichtiger ist als die mediterrane Kultur des Weins. Da befindet er sich in einem Gegensatz zu Frankreich.
Bereits die bevorstehende Wahl Sarkozys zum Vorsitzenden der Regierungspartei UMP stelle eine Zäsur in der französischen Politik dar, meint Christophe Barbier: "Nach 25 Jahren verliert Jacques Chirac die Kontrolle über die Partei".
Das ist deshalb wichtig, weil in Frankreich drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, wenn man eine Präsidentschaftswahl gewinnen will: man braucht erstens eine Partei, deren Geld und den Apparat, zweitens die Popularität und den Kontakt mit dem Volk und drittens ein Reformprogramm. Das heißt: man muss als jemand erscheinen, der die Zeichen der Zeit erkannt hat. Jacques Chirac ist nicht mehr populär. Ob er die Menschen davon überzeugen kann, dass er Reformen voranbringt, steht nicht fest. Und jetzt verliert er auch noch die Partei. Ich bin sicher, dass er 2007 noch einmal kandidieren möchte, aber nicht um jeden Preis, sondern nur, wenn er Chancen hat. Chirac ist Realist. Er wird sich so spät wie möglich entscheiden. In der Zwischenzeit wird der Kleinkrieg zwischen beiden weitergehen. Sarkozy sollte Chirac aber nicht unterschätzen: das Chirac-Lager ist eine Maschine, die töten kann.
Eines Tages werden die Raketen abgefeuert. Irgendwelche Unterlagen kommen ans Tageslicht. Ein Gerücht wird in Umlauf gesetzt, oder irgendjemand behauptet irgendetwas. Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Im Augenblick ist Sarkozy dafür zu populär. Aber auch er wird Fehler machen, und darauf werden sich Chiracs Leute stürzen.
Dies wird Nicolas Sarkozys erste Aufgabe als Vorsitzender der Regierungspartei sein: Er wird den Präsidenten und die Regierung in der Debatte über die EU-Verfassung unterstützen müssen, über die das französische Wahlvolk im Herbst des kommenden Jahres abstimmen soll. Möglicherweise wird Jacques Chirac vor dem Referendum einen neuen Premierminister ernennen: die Namen des amtierenden Innenministers Dominique de Villepin sowie des Arbeits- und Sozialministers Jean-Louis Borloo sind in Paris bereits im Umlauf. Wenn die Franzosen die EU-Verfassung ablehnen - und das ist nicht auszuschließen - wäre dies eine schwere Niederlage für Jacques Chirac. Nicolas Sarkozy weiß das. Als UMP-Chef ist er nicht mehr in die Kabinettsdisziplin eingebunden. "Ich verspüre immer mehr Lust, das zu sagen, was ich denke, ohne dabei übervorsichtig zu sein", lässt er heute schon wissen. Das kann man auch als Drohung verstehen.
Nicolas Sarkozy, 49 Jahre alt, Wirtschafts- und Finanzminister, offiziell Nummer zwei der Regierung, mit dem Titel eines Staatsministers ausgestattet, macht keinen Hehl aus seiner Absicht, Jacques Chirac im Elysée-Palast beerben zu wollen, obwohl der gut 20 Jahre ältere Amtsinhaber im Jahr 2007 möglicherweise selbst noch einmal antreten möchte. Ob er - so wie das für sich der Sozialist Laurent Fabius einst zugab - auch morgens beim Rasieren an das Präsidentenamt denke, wurde Sarkozy im November 2003 während einer Fernsehsendung gefragt. "Nicht nur wenn ich mich rasiere", antwortete der Minister und sorgte damit für helle Aufregung in Paris.
"Meine erste Reaktion", meint der Journalist Christophe Barbier vom Nachrichtenmagazin L`Express, " war folgende: Da kam wieder einmal dieser vulkanartige Ehrgeiz von Nicolas Sarkozy zum Ausdruck. Er kann nicht anders: er muss es einfach sagen. Es gibt eine Redensart in der französischen Politik: Wer Präsident werden möchte, denkt pausenlos an den Elysée, spricht aber niemals darüber. Nicolas Sarkozy denkt ständig daran und redet unentwegt darüber. Deshalb dachte ich zunächst: das war ein Fehler, Sarkozy geht zu weit. Es besteht die Gefahr, dass die Wähler sagen, du übertreibst, du bist zu versessen auf das Amt. Mein zweiter Gedanke war der: Nicolas Sarkozy hat abermals gezeigt, dass er ein Politiker der Moderne ist. Heute belügt man die Leute nicht mehr. Jeder weiß, dass Sarkozy Präsident werden möchte. Wenn er geantwortet hätte: `Nein, die Wahl 2007 interessiert mich nicht´, das hätte scheinheilig geklungen. Die Franzosen bestrafen nicht mehr diejenigen, die Ehrgeiz und Arroganz herausstellen. Heuchelei und Halbwahrheiten werden dagegen geahndet."
Im Elyséepalast wurde Nicolas Sarkozys Äußerung als offene Kriegserklärung aufgefasst, der bereits andere Provokationen vorausgegangen waren. So sprach sich Sarkozy etwa dafür aus, die Amtszeit des Staatspräsidenten auf zwei Mandate zu begrenzen - Chirac könnte sich dann 2007 nicht noch einmal zur Wahl stellen. Gegen den Willen des Präsidenten stellte Sarkozy die 35-Stunden-Woche in Frage und sprach sich für eine Kürzung des Verteidigungshaushaltes aus. Am 14. Juli ging Staatspräsident Jacques Chirac während eines Fernsehinterviews anlässlich des Nationalfeiertages zum Gegenangriff über:
Es gibt zwischen dem Finanzminister und mir keine Meinungsverschiedenheiten, gerade auch in der Frage der Staatsausgaben. Und zwar aus einem einfachen Grund: ich entscheide, er führt aus.
Chirac legte nach:
Wenn dieser oder jener Minister für den Vorsitz der Regierungspartei kandidiert und zum UMP-Vorsitzenden gewählt wird, dann wird er sofort zurücktreten, oder ich werde seine Amtszeit beenden.
Inzwischen hat sich Nicolas Sarkozy entschieden. Er strebt den Parteivorsitz der UMP an - das Kürzel steht für: "Union pour un Mouvement Populair" - zu deutsch: "Union für eine Volksbewegung". Und: Sarkozys Wahl im November gilt trotz zweier Mitbewerber als sicher.
Die UMP besteht erst seit zwei Jahren. Nach der Präsidentschaftswahl im Mai 2002 hatte Jacques Chirac versucht, die bürgerliche Rechte in einer einzigen Partei zusammenzufassen. Zwei Monate später eroberte die UMP bei den Parlamentswahlen bereits die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Kurz darauf stimmten schließlich auch die Mitglieder der 1976 von Jacques Chirac gegründeten neogaullistischen Sammlungsbewegung RPR der Fusion ihrer Partei mit der UMP zu.
Einer verweigerte Jacques Chirac die Gefolgschaft: Francois Bayrou. Der Vorsitzende der konservativ-liberalen UDF, eines Parteienbündnisses, mit dessen Hilfe Valéry Giscard d`Estaing 1974 in den Elysée, den Präsidenten-Palast, einzog, widersetzte sich der Idee eines bürgerlichen Sammelbeckens. Entscheidungen, die an einem Ort in einer Partei getroffen werden...
"Allein die Vorstellung, die politische Macht in einer einzigen Gruppierung der Rechten zu konzentrieren, ist schon ein Irrtum", meint Francois Bayrou.
"Mit der Wahl des künftigen UMP-Vorsitzenden ist die Idee einer Einheitspartei vom Tisch", sagt der Journalist Christophe Barbier.
Nicolas Sarkozy hat nie an die UMP geglaubt. Er hielt das für idiotisch und wollte die RPR und die UDF behalten. Ohne das laut zu sagen, wird er sich an dem alten Modell orientieren.
Auch ideologisch werde in der Partei künftig ein neuer Wind wehen, glaubt Christophe Barbier:
Nicolas Sarkozy hat mit dem Gaullismus nichts zu tun. Er hat in der RPR Karriere gemacht, weil dies die größte Partei der bürgerlichen Rechten war. Er hat nie begriffen, warum de Gaulle die Menschen immer noch fasziniert. Von den politischen Vorstellungen des Generals findet sich bei ihm nichts wieder. De Gaulle wurde 1890 geboren, er war ein Mann des 19. Jahrhunderts, der Zeit von Napoleon dem Dritten. Nicolas Sarkozy sieht sich als Mann des 21. Jahrhunderts und fühlt sich De Gaulle genauso wenig verpflichtet, wie Robbespierre oder Ludwig XIV.
Sarkozy übernimmt eine Partei, mit der es nicht zum besten steht. Schwere Niederlagen bei den Regional- und Europawahlen; der ehemalige Vorsitzende Alain Juppé, ein enger Vertrauter von Präsident Chirac, wurde zudem in erster Instanz wegen illegaler Parteienfinanzierung zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten und dem Verlust der Wählbarkeit für zehn Jahre verurteilt. Monatelang versuchte das Chirac-Lager eine Kandidatur von Nicolas Sarkozy zu verhindern. Auch innerhalb der Partei sei der frühere Innen- und gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzminister nicht sonderlich beliebt, weiß Christophe Barbier. Ganz im Gegenteil:
Nicolas Sarkozy wird gefürchtet. Er kann sehr aufbrausend werden, wenn er mit den Partei-Funktionären hinter verschlossenen Türen redet. Er wird allerdings bewundert. Seit zwei Jahren, das heißt seit er in der Regierung ist, verkörpert er einen neuen Politikertyp. Eine unglaubliche Energie, ein Macher. Er ist zwar populär. Aber er hat es noch nicht fertiggebracht, jene schwer zu beschreibende Alchimie herzustellen, die dafür sorgt, dass das Volk oder die Parteimitglieder ihn lieben.
Sarkozy hat nicht die (elitäre) Verwaltungshochschule ENA besucht, so wie Jacques Chirac oder der frühere Premierminister Lionel Jospin. Seine Einstellung gegenüber dem Staat ist eine andere. Die ENA-Absolventen, (die sogenannten Enarchen) haben gelernt, dass die Verwaltung, der Apparat immer Recht hat. Anders Nicolas Sarkozy: Er meint, dass die Politik im Vordergrund steht und die Verwaltung sich ihr unterzuordnen habe. Sollte dieser Politikertyp eines Tages an der Spitze des Staates stehen, könnte eine Reform des Staates, die bisher niemand angepackt hat, vielleicht auf den Weg gebracht werden.
Seine Karriere wurde Nicolas Sarkozy nicht an der Wiege gesungen. Sein Vater, ein ungarischer Adliger, floh nach dem Krieg vor den Kommunisten nach Frankreich. Die Mutter stammt aus einer Familie der jüdischen Gemeinde im griechischen Thessaloniki. Nach der Geburt der drei Söhne scheitert die Ehe. Nicolas wächst bei der Mutter auf, die als Anwältin arbeitet. Die Familie zieht in den vornehmen Pariser Vorort Neuilly. Der Junge lebte dort als Außenseiter, meint Sarkozy-Biograph Nicolas Domenach, Chefredakteur der Wochenzeitung "Marianne":
Er hat seine Kindheit nicht als Armer unter Armen verbracht. Er stammt vielmehr aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und lebte innerhalb der Groß-Bourgeoisie unter sehr reichen Leuten. Und diesen Klassenunterschied hat man ihn spüren lassen. Aus dieser Zeit stammt sein Bedürfnis, es `denen da oben´ zu zeigen. Jedes Mal wenn er eine höhere Stufe der Macht erklimmt, kommt ihm dieser Satz über die Lippen: Welch eine Revanche!
Sarkozy studiert Jura und wird - noch keine 30 Jahre alt - Bürgermeister von Neuilly und Mitglied des Regionalrates des Departements Hauts-de-Seine. Der junge RPR-Politiker ist fasziniert von dem zupackenden, bisweilen brutalen Politik-Stil des Parteichefs der Neogaullisten: Jacques Chirac. Und der wiederum erkennt das Talent des Jüngeren: Sarkozy ist neben Alain Juppé und Dominique de Villepin Chiracs politischer Ziehsohn. Und er ist noch mehr: nämlich ein "sehr guter Freund" von Chiracs Tochter Claude.
Einige sprechen von einem Verhältnis der beiden. Sicher ist, dass er sie lange Zeit `meine kleine Schwester´ nannte. Sie standen sich sehr nah. So nah, dass sie nicht nur für Jacques Chirac gearbeitet haben, sondern sich auch über ihn lustig machten, weil er bei seinen Fernsehauftritten - wie Nicolas und Claude meinten - `schlecht wie ein Schwein´ wirkte. Diese Nähe ist der Grund dafür, dass Claude, wie auch ihre Mutter Bernadette, so entsetzt waren, als Nicolas Sarkozy zu Edouard Balladur überlief.
Vor der Präsidentschaftswahl 1995 gibt Premierminister Edouard Balladur seine Kandidatur für das höchste Staatsamt bekannt und stößt damit seinen Parteifreund Jacques Chirac vor den Kopf, der als Chef der größten Oppositionspartei ebenfalls antritt. Nicolas Sarkozy, seit 1993 Haushaltsminister und Sprecher der Regierung, unterstützt Balladur, der Umfragen zufolge zunächst die besten Aussichten hat, gewählt zu werden. In der Partei gilt Sarkozy damit als Verräter. Und das bekommt er auch zu spüren, nachdem dann doch Jacques Chirac die Wahl gewonnen hat. "Ich werde der Präsident aller Franzosen sein", kündigt Chirac in der Wahlnacht an. Findige Popmusiker vertonen dieses Versprechen später.
Aller Franzosen - außer Nicolas Sarkozy. Drei Jahre lang wird er geschnitten und ausgepfiffen. Seine Rückkehr in die aktive Politik hat mit Chiracs größtem politischen Fehler zu tun. Der Präsident folgt der Empfehlung Dominique de Villepins, des Generalsekretärs des Elysée, und kündigt 1997 die Auflösung der Nationalversammlung an.
Die Erwartung: eine stabile Mehrheit für die Bürgerliche Rechte. Das Ergebnis: ein Wahlsieg der Linken. Die Folge: die sogenannte Kohabitation. Denn: Der konservative Präsident muss den Sozialisten Lionel Jospin zum Premierminister ernennen. Die Chirac-Anhänger zweifeln am politischen Geschick des Präsidenten und sind bereit, mit den Abtrünnigen von 1995 wieder zusammenzuarbeiten. Sarkozy wird Generalsekretär und Interimsvorsitzender der Gaullistischen Partei und - trotz einer weiteren Niederlage als Spitzenkandidat bei der Europawahl 1999 - nach Chiracs Wiederwahl im Jahr 2002 Innenminister. Sein Programm: Kampf gegen die Kriminalität. Sein Einsatz: mehr Geld für die Sicherheitskräfte und eine bessere Motivation der Polizisten und Gendarmen. Sein Mittel: das Fernsehen. Kein Tag ohne Schlagzeile, ohne Fernseh-Bilder. Wenn der Innenminister nachts mit Polizisten im Streifenwagen unterwegs ist, ist bestimmt eine Kamera dabei. "Sarkozy beherrscht die Medien wie kein Zweiter", meint der Journalist Nicolas Domenach:
Er glaubt, ohne Medien kann man nicht handeln. Die Medien sind sein Objekt und nicht umgekehrt er das Thema der Medien. Er ist der einzige, der sich von Journalisten nicht einwickeln lässt. Er gibt den Ton an. Er ist Regisseur und Darsteller. Man könnte fast sagen: er trägt die Kamera auf den Schultern.
"Herr Minister, Ihre Ambitionen auf das höchste Staatsamt sind bekannt, inwiefern wären Sie ein besserer Staatschef als der gegenwärtig amtierende?", wollte eine irische Journalistin wissen und löste damit Heiterkeit im überfüllten Pressesaal des Innenministeriums aus.
"Endlich kommt in diese Pressekonferenz etwas frischer Wind", antwortet Nicolas Sarkozy.
Sarkozy ist allgegenwärtig und er hat Erfolg: die Kriminalitätsrate sinkt. Sarkozy geht sogleich vor die Presse: - Nach jahrelanger Flucht wird Yvann Colonna, der mutmaßliche Mörder von Claude Erignac, des Präfekten von Korsika, gefasst. Sarkozy verkündet die Festnahme persönlich.
Dass am Tag danach die von ihm geplante Verwaltungsreform auf der Insel in einem Referendum scheitert, schadet Sarkozys Popularität nicht.
Die Sozialisten und Lionel Jospin haben 2002 auch deshalb verloren, weil sie gesagt haben, der Staat könne nichts mehr bewirken. Die Franzosen wollen aber Politiker, die ihnen das Gefühl oder die Illusion vermitteln, dass der Staat handlungsfähig ist und dass er sie schützt. Nicolas Sarkozy wiederholt ständig, dass Politiker noch über Macht verfügen. Dafür sind die Menschen ihm dankbar. Viele Politiker sind eher Technokraten. Er handelt gern und er schätzt das, was er tut.
Kaum war Nicolas Sarkozy in diesem Frühjahr zum Wirtschafts- und Finanzminister im Rang eines Staatsministers ernannt, legte er sich mit der deutschen Bundesregierung an. Der Minister unterstützte offen die Übernahmepläne des Pharma-Unternehmen Sanofi-Synthelabo und sorgte dafür, dass aus dem deutsch-französischen Aventis-Konzern ein rein französisches Unternehmen wurde. Die Proteste von Bundeskanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement störten Sarkozy nicht. Die deutsch-französischen Beziehungen scheinen für ihn ohnehin zweitrangig zu sein.
"Nicolas Sarkozy ist auch deshalb untypisch in der französischen Politik, weil ihn Geschichte nicht interessiert", meint Christophe Barbier vom Nachrichtenmagazin L´Express.
Französische Politiker betrachten sich als Bestandteil der Historie. Er ist Kind von Einwanderern. Die französischen Könige, Jeanne d`Arc oder Chlodwig - das spielt für ihn keine Rolle. Er denkt nicht vertikal, sondern horizontal. Wichtig ist für ihn die Globalisierung, die Weltmacht USA, die ihn fasziniert. In einem Artikel, der ihm nicht besonders gefallen hat, habe ich ihn einmal mit einer Seerose verglichen. Er bedeckt eine große Oberfläche, aber er hat keine Wurzeln.
Wichtigste Beraterin des künftigen UMP-Vorsitzenden ist seine Ehefrau Cecilia. Für Sarkozy gehört auch das Privatleben, seine persönlichen Vorlieben und Schwächen, zum öffentlichen Amt.
Er hat einen gewaltigen Appetit, vor allem auf Schokolade. Aber er weiß, dass er zunimmt, wenn er zu viel isst, und dann mag er sich nicht. Er meint, Politiker müssten Athleten sein. Er kennt viele Sportler, fährt selbst Fahrrad und hält strikt Diät. Es gibt ein Problem: er mag keinen Wein. Kann man in Frankreich zum Präsidenten gewählt werden, wenn man keinen Wein mag und stattdessen Orangensaft trinkt? Ich bin nicht sicher, ob Frankreich heute schon so sehr einer nordeuropäischen Demokratie gleicht, dass jemand in das höchste Staatsamt gewählt wird, dem die Gesundheit wichtiger ist als die mediterrane Kultur des Weins. Da befindet er sich in einem Gegensatz zu Frankreich.
Bereits die bevorstehende Wahl Sarkozys zum Vorsitzenden der Regierungspartei UMP stelle eine Zäsur in der französischen Politik dar, meint Christophe Barbier: "Nach 25 Jahren verliert Jacques Chirac die Kontrolle über die Partei".
Das ist deshalb wichtig, weil in Frankreich drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, wenn man eine Präsidentschaftswahl gewinnen will: man braucht erstens eine Partei, deren Geld und den Apparat, zweitens die Popularität und den Kontakt mit dem Volk und drittens ein Reformprogramm. Das heißt: man muss als jemand erscheinen, der die Zeichen der Zeit erkannt hat. Jacques Chirac ist nicht mehr populär. Ob er die Menschen davon überzeugen kann, dass er Reformen voranbringt, steht nicht fest. Und jetzt verliert er auch noch die Partei. Ich bin sicher, dass er 2007 noch einmal kandidieren möchte, aber nicht um jeden Preis, sondern nur, wenn er Chancen hat. Chirac ist Realist. Er wird sich so spät wie möglich entscheiden. In der Zwischenzeit wird der Kleinkrieg zwischen beiden weitergehen. Sarkozy sollte Chirac aber nicht unterschätzen: das Chirac-Lager ist eine Maschine, die töten kann.
Eines Tages werden die Raketen abgefeuert. Irgendwelche Unterlagen kommen ans Tageslicht. Ein Gerücht wird in Umlauf gesetzt, oder irgendjemand behauptet irgendetwas. Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Im Augenblick ist Sarkozy dafür zu populär. Aber auch er wird Fehler machen, und darauf werden sich Chiracs Leute stürzen.
Dies wird Nicolas Sarkozys erste Aufgabe als Vorsitzender der Regierungspartei sein: Er wird den Präsidenten und die Regierung in der Debatte über die EU-Verfassung unterstützen müssen, über die das französische Wahlvolk im Herbst des kommenden Jahres abstimmen soll. Möglicherweise wird Jacques Chirac vor dem Referendum einen neuen Premierminister ernennen: die Namen des amtierenden Innenministers Dominique de Villepin sowie des Arbeits- und Sozialministers Jean-Louis Borloo sind in Paris bereits im Umlauf. Wenn die Franzosen die EU-Verfassung ablehnen - und das ist nicht auszuschließen - wäre dies eine schwere Niederlage für Jacques Chirac. Nicolas Sarkozy weiß das. Als UMP-Chef ist er nicht mehr in die Kabinettsdisziplin eingebunden. "Ich verspüre immer mehr Lust, das zu sagen, was ich denke, ohne dabei übervorsichtig zu sein", lässt er heute schon wissen. Das kann man auch als Drohung verstehen.