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Steigendes Aids-Risiko

Vergangene Woche hat das Robert-Koch-Institut seinen Halbjahresbericht zur Entwicklung von HIV und AIDS veröffentlicht. Die Zahlen sind alarmierend. Immer mehr Menschen infizieren sich neu. Gleichzeitig geht der Gebrauch von Kondomen zurück. Der gefährliche Trend wird vor allem durch die Hauptrisikogruppe verursacht: homosexuelle Männer. Neue Therapiemöglichkeiten und weniger Präsenz in den Medien vermitteln eine trügerische Sicherheit vor dem Killervirus. Und zunehmende Globalisierung sowie Osterweiterung lassen auch für Deutschland schlimmes befürchten.

Von William Vorsatz |
    Wenn Kai Köhler einschlägige Kontakte sucht, weiß er, wo er hin muss. In den Schöneberger Kiez. In die Szeneläden rund um die Motzstraße. Hier geht es schnell zur Sache. Alle suchen das Gleiche und wenn sie sich einig sind, machen sie hinten im Darkroom weiter oder auf dem Klo. Man kennt sich nicht. Eigentlich wären solche Begegnungen nur mit Schutz denkbar. Aber der Trend geht in eine andere Richtung.

    Ja es ist schon in den letzten Jahren festzustellen, dass die Verwendung von Kondomen deutlich abgenommen hat, es hat sich ne eigene Szene entwickelt, die grundsätzlich keine Kondome verwendet, was mir aufgefallen ist, dass es einfach leichfertiger ist, es wird weniger im Vorfeld gedacht. Also schockiert hat mich schon die Erzählung eines Freundes, mit dem ich vor ein paar Tagen unterwegs war, in der Szene, und er im nachhinein sagte, dass er auf der Toilette war, dort Sex mit jemandem hatte, das ganze ohne Kondom ablief, wissend, dass er positiv ist.

    Köhlers Erfahrungen decken sich mit den neuesten Daten. Die Infektionen durch den AIDS-Erreger HIV haben im letzten Jahr deutlich zugenommen. Auch Reinhardt Kurth, Chef des Robert-Koch-Institut in Berlin, muss das bestätigen. Während das Institut vor zwei Jahren nur 1700 Neuansteckungen registrierte, waren es im vergangenen Jahr bereits 2000.

    Wir haben heute die höchsten Neuinfektionsraten zu verzeichnen seit zehn Jahren, hier ist eine Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung offenbar aufgetreten, insbesondere in der Risikogruppe, die am stärksten gefährdet ist, nämlich die Gruppe der schwulen Männer, hier wird eine falsche Sicherheit antizipiert durch die Medikamente, die gegen HIV entwickelt wurden, die zweifellos sehr gut sind, die aber die Infektion nicht beseitigen können, und diese Veränderung im Bewusstsein der Risikogruppen führt dazu, dass wir heute höhere Neuinfektionen haben als früher, und dieser Trend muss gestoppt werden.

    Schon seit zwei Jahren befürchten die Seuchenwächter eine solche Verschlimmerung und warnen davor. Denn seit dieser Zeit steigt die Syphilisrate in Deutschland an, gerade unter homosexuellen Männer. Ein untrügliches Indiz für mehr ungeschützten Verkehr.
    Und das ist für uns ein Indikator, dass HIV, dessen Infektionen man ja nicht einfach merkt, nachziehen wird, und das genau sehen wir jetzt.

    Die meisten Neuansteckungen kommen aus Großstädten wie Berlin, Hamburg und München. Haben noch vor sechs Jahren unter den homosexuellen Männern 76 Prozent angegeben, sie hätten in den letzten 12 Monaten keine Risikokontakte gehabt, sind es jetzt nur noch 70 Prozent. So das Ergebnis einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus Köln. Aber die Warnungen der Direktorin Elisabeth Pott gehen auch an Heteros, deren Schutz mittlerweile ebenso zu wünschen übrig lässt:

    Und zwar bei den Personen, denen wir gerade Schutzverhalten ganz besonders anempfehlen, die sich auch in Risikosituationen begeben, also gerade auch Singles, junge Leute unter 45 Jahren, hier ist ein deutlicher Rückgang sowohl beim Kennen lernen neuer Partner als auch bei denen, die wechselnder Partner haben, als auch bei denen, die auf Reisen neue sexuelle Kontakte eingehen, zu beobachten.

    Für den neuen Leichtsinn sieht Pott mehrere Gründe. Zum einen ist "AIDS" ein Dauerthema. Da lässt die Beachtung nach und neue Bedrohungen wie BSE, SARS oder Vogelgrippe ziehen die Aufmerksamkeit ab. HIV wird heute eher als ein Problem Afrikas oder Südostasiens gesehen, obwohl neuen Risiken drohen, direkt vor der Haustür. Osteuropa verzeichnet die höchsten Zuwächse weltweit. Und die offenen Grenzen erhöhen auch bei uns die Ansteckungsgefahr.
    Experten und Kenner der Szene wie Kai Köhler vermuten aber noch einen weiteren Grund für die neue Ignoranz:

    Vielleicht wird auch zu wenig Öffentlichkeitsarbeit gemacht für präventives Verhalten. Das war ja wohl auch schon mal stärker. Dass da mehr gearbeitet wurde, mehr geworben wurde für Safersex. Heute wird vielleicht mehr geworben für die Medikamente. Was ja nicht Sinn der Sache sein, dass man die Menschen damit beruhigt, dass man, wenn man krank wird, dann lebenslang therapiert werden kann. Das mag der Pharmaindustrie sehr gut tun, aber dem einzelnen Menschen mit Sicherheit nicht.

    Hoffen lassen momentan nur zwei Gruppen. Alleinstehende Frauen, die für den Fall der Fälle immer selbstverständlicher Kondome bei sich haben, ebenso wie Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren. Auch sie machen es immer öfter "mit...".