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Steinbrück für Verlängerung der Lebensarbeitszeit

Burkhard Birke: Ermutigende Signale kamen in der vergangenen Woche von der Konjunkturfront: Das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik könnte sich nach Auffassung einiger Experten beschleunigen. Vom Arbeitsmarkt wird allerdings nicht die erhoffte Entspannung vermeldet. Herr Steinbrück, sollten die Menschen in Deutschland wieder länger, womöglich bis zu 50 Stunden pro Woche arbeiten, wie es DIW-Chef Klaus Zimmermann angeregt hat?

Moderation: Burkhard Birke |
    Peer Steinbrück: Nein, ich bin für flexible Lösungen. Die Frage, ob mehr gearbeitet werden soll - ja oder nein - ist in Abhängigkeit von Standorten von konkreten Betrieben zu sehen, auch vor dem Hintergrund der Nachfrage beziehungsweise der Fragestellung, ob sie denn die Güter und die Dienstleistungen wirklich absetzen können. Insofern bin ich gegen eine pauschale Diskussion dieses Themas. Wir führen ohnehin zu viele dieser Debatten, auch zum Beispiel die Frage, ob die Pensionseintrittsgrenze einfach pauschal von 65 oder 67 erhöht werden soll. Die richtige Antwort wäre, es den Menschen selber zu überlassen, ob sie mit 60 oder 61 oder mit 67, mit 68 aus dem Erwerbsleben austreten sollen. Und in dieser Frage bleibt es einer Unternehmensführung, einem Betriebsrat und einer Gewerkschaft überlassen, eine angepasste, örtlich gewollte Lösung zu erarbeiten.

    Birke: Nun rechnen Ökonomen allerdings vor, dass zum Beispiel der Verzicht auf einen Urlaubstag im Jahr durch alle Arbeitnehmer ein zusätzliches Wachstum von 0,1 Prozent des Bruttosozialproduktes bedeuten würde. Wäre es in dem Fall nicht sinnvoll, zum Beispiel auch über eine Verkürzung der Urlaubstage nachzudenken?

    Steinbrück: Ja, da will ich nun keine wie das Irrlicht eine Debatte einfach von Zaune brechen. Richtig ist: Wir haben uns in Deutschland mit der Frage zu beschäftigen, ob die Lebensarbeitszeit nicht erhöht werden muss. Dann reden wir auch über das Berufseintrittsalter, wir reden über flexible Lösungen, wir reden darüber, dass insbesondere bei der Generation der 55- bis 65jährigen das Know-how nicht viel besser genutzt werden kann - die Erfahrung, die sie haben. Wir haben eine zu geringe Erwerbsquote bei den 55- bis 65-Jährigen. Das heißt, es setzt sich aus einem Strauß von Maßnahmen oder von Initiativen zusammen. Darüber wäre zu erreichen - oder müsste auch erreicht werden eine Stabilisierung unseres sozialen Sicherungssystems.

    Birke: Das heißt, wenn ich Sie richtig interpretiere, Herr Steinbrück, plädieren Sie durchaus für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, oder ist das nur im Sinne einer generellen Flexibilisierung zu verstehen?

    Steinbrück: Nein, ich glaube, dass wir in Deutschland eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit brauchen. Das hat ja nun auch zu tun mit den Aspekten, die ich genannt habe. Mich beschäftigt sehr die Tatsache, dass zum Beispiel meine 27-28-jährige Tochter, eine von beiden, sehr gut qualifiziert, erkennbar auf einem inzwischen internationalen Arbeitsmarkt mit jungen Frauen und Männern konkurriert - aus den Niederlanden, aus den skandinavischen Ländern -, die drei bis vier Jahre jünger sind als sie. Das ist zum Beispiel ein Punkt, der uns beschäftigen muss.


    Birke: Herr Steinbrück, 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich - Sie haben es ja praktisch Ihren Beamten schon aufs Auge gedrückt. Warum soll das in der Wirtschaft nicht möglich sein?

    Steinbrück: Es findet ja in der Wirtschaft statt. Sie haben recht, wir haben es hier im öffentlichen Dienst in Nordrhein-Westfalen gemacht. Es hat uns keine Populismuspunkte eingehandelt, im Gegenteil. Die Demonstration hier vor dem Landtag war ziemlich massiv. Ich stehe trotzdem dazu. Anders werden wir den der Personalausgabenproblematik in den öffentlichen Haushalten nicht gerecht. Aber das findet ja auch in der gewerblichen Wirtschaft statt. Gucken Sie sich den Chemiebereich an, gucken Sie sich die jüngste Lösung, die getroffen worden ist - Siemens an den Standorten Bocholt und Kamp Lindfort in Nordrhein-Westfalen - an, zusammen mit einem Gesamtbetriebsrat, zusammen mit einer IG Metall, da finden diese Prozesse statt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sagen: Geht mir bitte nicht an mein Portemonnaie, ich will den Gürtel nicht enger schnallen, aber die Ärmel aufkrempeln tue ich schon.

    Birke: Das heißt, Sie wären durchaus dafür, dass man auch pauschal wieder die 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich einführt?

    Steinbrück: Nein, das bin ich nicht, weil ich glaube, dass ganz generell die Einführung der 40-Stundenwoche den spezifischen Bedürfnissen oder Situationen von vielen Betrieben nicht Rechnung trägt, sondern ich bin dafür, dass dies vor Ort gelöst und ausgehandelt wird.

    Birke: Wie kann man es denn schaffen, die Lohnkosten so zu senken, wie es etwa ifo-Chef Werner Sinn auch angeregt hat, der gesagt hat: 10 Prozent weniger Lohnkosten würden ja praktisch bis zu vier Millionen Arbeitsplätze schaffen können? Wie kann man es schaffen, diese Lohnkosten ...

    Steinbrück: ... ja, da müssen wir genauer unterscheiden. Wir müssen unterscheiden zwischen den Nettolöhnen und - gehältern, die die Menschen haben. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten abhängig Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren keine großen Sprünge gemacht haben bei den Nettolöhnen und Gehältern - obwohl vor dem Hintergrund der Lebenshaltungskosten der Bundesrepublik Deutschland einen Abstrich bei dem, was die - hier in Nordrhein-Westfalen würde man sagen, was die 'cash in de Täsch‘ haben -, dass das nicht möglich ist. Dann haben wir darüber hinaus die Brutto- Arbeitskosten. Ja, da bin ich in der Tat auch der Auffassung, diese Brutto-Arbeitskosten sind in Deutschland extrem hoch im internationalen Wettbewerbsverhältnis. Das ist eines unserer Hauptprobleme. Und diese Brutto-Arbeitskosten werden wesentlich geprägt durch die sogenannten Lohnzusatzkosten. Und dann sind wir bei einem Kernproblem dieser Republik, nämlich die Art und Weise, wie wir unser Sozialsystem finanzieren. Und wir finanzieren es im Augenblick durch eine Abgabe auf den Produktionsfaktor Arbeit, das sind die Sozialversicherungsabgaben - jedenfalls zu 70, 75 Prozent. Und die eigentliche Debatte über eine Reform - eine weit reichende Reform - muss darauf gerichtet sein, hier zu einer anderen Finanzierung zu kommen.

    Birke: Eine Steuerfinanzierung, Herr Ministerpräsident?

    Steinbrück: Ja, ich scheue mich nicht, zu sagen, dass Systeme, wie zum Beispiel in Dänemark oder in anderen skandinavischen Ländern mich faszinieren. Dort haben Sie ungefähr 75 Prozent oder 70 Prozent eine Steuerfinanzierung, nur zu 30 oder 25 Prozent eine Abgabenfinanzierung. In Deutschland ist es exakt umgekehrt.

    Birke: Das hieße aber, dass wir die Sozialabgaben oder die Sozialversicherungsbeiträge der Beschäftigten zwar verringern, aber die Steuerlast erhöhen müssten. Wo sollte man dann an der Steuerschraube drehen?

    Steinbrück: Ja, da bin ich vorsichtig, weil ich weiß, dass jedes Wort auch wieder einem aus dem Mund purzeln kann und dann zu wahnsinnigen Irritationen führt. Aber im Kern noch einmal: Wenn Sie die Sozialversicherungsabgaben senken können, dann bedeutet dies, dass die Brutto-Arbeitskosten für den Arbeitgeber geringer werden und das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmer erhöht wird. Die haben dann ja mehr. Zugegebenermaßen würde dann - nehmen wir mal an - eine indirekte Steuer einspringen müssen, um diese Absenkung der Sozialversicherungsabgaben zu finanzieren ...

    Birke: ... etwa die Mehrwertsteuer? ...

    Steinbrück: ... das ist Ihr Wort, ja. Und dann haben Sie es damit zu tun, dass die Menschen über ihr Konsumverhalten natürlich selber entscheiden, wieviel von diesem gestiegenen verfügbaren Einkommen ihnen dann wieder durch eine gegebenenfalls erhöhte Mehrwertsteuer abfließt.

    Birke: Da möchte ich noch mal nachhaken. Es gibt ja nun auch Vorschläge Ihrer Ministerpräsidenten-Kollegin Heide Simonis, gerade die Mehrwertsteuer zu benutzen, um über eine Erhöhung dieser Steuer eben die Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Könnten Sie sich mit so einer Idee anfreunden?

    Steinbrück: Nun, Sie versuchen, mich jetzt zu einer Festlegung zu bringen, von der ich weiß, dass die sofort wieder Beine bekommt und in der sehr aufgeregten Diskussionslandschaft der Bundesrepublik Deutschland mit allen Verkürzungen den Effekt hat, den ich vermeiden möchte. Und dieser Effekt lautet, dass wir zu einer weiteren Verunsicherung kommen. Wofür ich plädiere ist, dass wir uns die nötige Reifezeit, die notwendige Solidität geben, um diese Fragen intern aufzuarbeiten und dann in einer geordneten Kommunikation auch öffentlich zu diskutieren, aber nicht im Schnellschuss und nicht aus der Hüfte.

    Birke: Nun gibt es ja auch verschiedene Konzepte und Vorschläge, die Sozialversicherung zu reformieren und eben auch dann über die Steuern zumindest entlastend für Familien und eben Kinderreiche etwas zu tun. Es gibt das Kopfprämienmodell zum Beispiel der Union. Wäre das denn der geeignete Weg, auch hier die Arbeitskosten zu senken?

    Steinbrück: Nein, dieses Modell präferiere ich nicht, aus mehreren Gründen. Der erste und wichtigste Grund ist: Es widerspricht dem Solidaritätsprinzip. Ich glaube, dass wir an dem Prinzip festhalten müssen, dass in der Tat nach der Leistungsfähigkeit beigetragen wird, um kollektive Sicherungssysteme in Deutschland zu finanzieren.

    Birke: Das würde doch eigentlich für eine Bürgerversicherung sprechen?

    Steinbrück: Bürgerversicherung ist das andere Modell, ja, aber ich rate dort so lange zur Vorsicht, wie ich nicht genau weiß, wie denn diese Bürgerversicherung im einzelnen aussehen soll und welche Konsequenzen sie hat. Ich bin dagegen, dass man einfach nur aus der Hüfte sagt: Na ja, dann erweitere ich mal den Personenkreis, der einzahlungspflichtig ist und ich ziehe weitere Einkunftsarten hinzu, zum Beispiel Zinsen und dergleichen, und dafür mache ich auf der Ausgabenseite keinerlei Strukturveränderungen und überlege mir nicht, ob ich nicht auch auf der Ausgabenseite Veränderungen herbeiführen kann, oder ich weiß nicht mehr, wie das Verhältnis zwischen privaten Krankenversicherungen und gesetzlichen Krankenversicherungen organisiert wird. Solange dies nicht klar ist, und wie ich hoffe, auch in der notwendigen Reife, in der notwendigen Ernsthaftigkeit durchleuchtet worden ist und erarbeitet worden ist, rate ich Politikern davon ab, mit halbseidenen Vorschlägen an die Öffentlichkeit zu gehen.

    Birke: Nun ist ja auch eine Reform der Pflegeversicherung im Gespräch. Zunächst einmal wurde ja entsprechend den Auflagen des Bundesverfassungsgerichtes jetzt ein Vorschlag unterbreitet, für Kinderlose den Beitrag anzuheben. Würden Sie denn auch dafür plädieren, dass man die Pflegeversicherung mit der Krankenversicherung integriert?

    Steinbrück: Nun, Sie fragen nach Dingen, wo ich nicht bereit bin, auch auf solchen Gebieten, wo ich gerne zugebe, dass ich das im Detail noch nicht überlegt habe, mit irgendwelchen Wasserstandsmeldungen komme. Richtig ist: Wir haben erhebliche Probleme bei der Pflegeversicherung, einige reden davon, dass dieses Jahr bis zu einer Milliarde Euro fehlen könnten. Ich bin jedenfalls definitiv für eine Lösung nicht, und die lautet, dass ad infinitum die verschiedenen Sozialversicherungsbeiträge immer weiter erhöht werden - Rentenversicherungsbeitrag von 19,5 auf 20, auf 21, Pflegeversicherungsbeitrag von 1,7 auf 2,0, auf 2,1, Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Das ist die falscheste Entwicklung, die es gibt, weil darüber insgesamt die Sozialversicherungsabgabenbelastung noch höher wird in Deutschland und damit die von uns vorhin diskutierten Brutto-Arbeitskosten auch. Das heißt, wir brauchen hier strukturelle Veränderungen, eindeutig strukturelle Veränderungen. Das jetzige System ist so nicht zukunftsfähig, und das muss man den Menschen sagen. Ihnen muss man aber gleichzeitig die Gewähr geben, dass man daran arbeitet, solche strukturellen Veränderungen vorzunehmen und dann nicht im 14-Tages-Rhythmus immer versucht, mit neuen Ideen auf den Markt zu gehen.

    Birke: Sie haben ja einen wichtigen Punkt angesprochen, nicht alle 14 Tage mit neuen Vorschlägen auf den Markt zu gehen. Aber die ganze Diskussion um längere, flexiblere Arbeitszeiten, um höhere Beteiligung der Arbeitnehmer an den Krankenversicherungskosten, der Absenkung des Transferniveaus jetzt durch Hartz IV, also die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe, gleichzeitig womöglich ein steuerrechtlicher Coup, dass Vodafone 20 Millionen Euro Steuern sparen könnte - Herr Steinbrück, können Sie verstehen, dass die Menschen die soziale Schieflage der SPD-Grünen-Politik hier im sozialen Bereich bei den Reformen anprangern?

    Steinbrück: Ich kann verstehen, dass es eine 'gefühlte Temperatur‘ gibt, die darauf hinaus läuft: Um Himmels Willen, was kommt da auf mich zu. Die Fakten sehen teilweise anders aus, und einfach nur - wenn Sie mir erlauben - die verschiedenen Stichworte miteinander zu verschwurgeln, das führt uns ja auch nicht weiter. Richtig ist, dass wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Bundesrepublik Deutschland vor einer Reihe tiefgreifender Herausforderungen stehen, und ich glaube, die meisten Menschen wissen es. Sie wissen - wenn ich das mal beziehe auf Anfang 2002 , wenige Wochen vor der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, der Agenda 2010 -, sie wissen, dass die Rente eben nicht so sicher war, wie Herr Blüm, und von mir aus auch Teile meiner Partei in den 90er Jahren noch behauptet haben, dass wir nicht zukunftsfest davon ausgehen können, dass die Altersversorgung so gewährleistet ist vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung. Sie wussten zweitens, dass das Gesundheitssystem reformiert werden muss, und drittens: Die meisten Menschen wussten auch, dass die Arbeitsmarktpolitik der letzten 25 Jahre nicht erfolgreich war. Und viertens: Die meisten Menschen sagen auch: Um Himmels Willen, dieses Verschuldenstempo, das ist mir zu hoch, weil ich eine Vorstellung darüber habe, dass meine Kinder, meine Enkelkinder eines Tages den Kapitaldienst dafür übernehmen müssen. Das heißt, an dem 'ob notwendige Veränderungen und Reformen‘ kann es in Deutschland keinen Zweifel geben. Die SPD ist in einem bestimmten Spagat, weil sie diese Botschaft den Menschen mitteilen muss, dass es Veränderungen geben muss, dass das alte Wohlstands-paradigma in Deutschland vielleicht auch so nicht mehr Gültigkeit hat, und dass das zum ersten mal in der Geschichte der Republik nicht mehr mit der Perspektive ewiger Aufwächse verbunden ist, sondern gegebenenfalls auch mit Zumutungen oder Einschnitten. Will sagen: Die meisten Menschen müssen mit Mühe wahrscheinlich konstatieren, dass sie für Alter, Pflege und Gesundheit von ihren verfügbaren Einkommen mehr Geld ausgeben müssen - relativ gesehen - als bisher. Und dafür wird natürlich eine Partei, die dies als Regierungspartei zu vertreten hat, im Augenblick nicht belohnt, sondern erkennbar - erkennbar mit schlechten Umfragen und mit schlechten Wahlergebnissen - eher malträtiert oder bestraft.

    Birke: Und im Gegenzug kommt dann hinzu, dass alte Verbündete, wie die Gewerkschaften, sich auch auf Anti-Kurs begeben. Jetzt ist Ihr Parteivorsitzender Franz Müntefering unter anderem mit den Worten zitiert worden: 'Ein Bruch mit den Gewerkschaften kann uns die Regierungsmehrheit kosten und Euch die Mandate‘, - also dann auch zu den Abgeordneten gesprochen - 'wir wollen beide miteinander etwas zu tun haben‘. Die Frage, Herr Steinbrück: Besteht die Gemeinsamkeit mittlerweile nur darin, dass beide Organisationen ihre Mitglieder verlieren - massiv?

    Steinbrück: Nein, beide Organisationen, die SPD wie die Gewerkschaften, haben ähnliche Probleme, das ist richtig. Ich bin auch gegen einen Bruch mit den Gewerkschaften, das ist eindeutig. Ich glaube, dass übrigens die Qualität der Sozialpartnerschaft, die diese Bundesrepublik Deutschland maßgeblich geprägt hat, auch nicht zur Disposition gestellt werden sollte. Umgekehrt mache ich keinen Hehl daraus, dass ich mit vielen Bewertungen von Gewerkschaftsführern mich da wenig Sympathie und wenig Zustimmung prägt. Ich glaube, dass viele Adjektive, viele Bewertungen, viele Übertreibungen und Verzeichnungen von führenden Gewerkschaftern nicht dazu beigetragen haben, den Menschen deutlich zu machen, dass wir - jedenfalls in den jetzigen Strukturen - unser Wohlstandsniveau und das Ausmaß an sozialer Wohlfahrt werden nicht aufrecht erhalten können. Das heißt, eine klare Realitätsbeschreibung erwarte ich auch von Gewerkschaftsführern, und ich erwarte im Zweifelsfall, wenn sie denn die Bundesregierung kritisieren oder von mir aus auch die Landesregierung, hier konkrete Alternativen. Und die liegen nicht vor.

    Birke: Alternativen wollen sich dem Wähler stellen, unter anderem bei der Kommunalwahl hier in Nordrhein-Westfalen Ende September. Da soll es ja einige Gruppierungen links von den Sozialdemokraten geben - die alternative Liste für soziale Gerechtigkeit, Arbeit und Demokratie etwa. Bricht der SPD gerade in ihrem Stammland hier die Basis weg?

    Steinbrück: Nein, der SPD gehen im Augenblick Wähler verloren - nicht, indem die nach links gehen, nicht einmal, dass sie zur CDU gehen, sondern indem sie in den Wartesaal gehen. Die Wähler, die uns 2000 bei der letzten Landtagswahl gewählt haben und auch bei der Bundestagswahl im Herbst 2002, die warten ab. Und so lange wir die nicht mobilisieren und wieder gewinnen können, so lange werden wir es schwer haben, in der Tat. Das muss man zugeben, sonst würde man ja die Urteilsfähigkeit aller Beobachter eher beleidigen. Im Übrigen, ich glaube, dass diese Meldungen über Parteigründungen links von der SPD ziemlich hochgejazzt werden, so ein bisschen auch auf einen medialen Resonanzboden, der das Ganze verfolgt wie ein Sportereignis. Ich selber gebe dem keine Chance.

    Birke: Auch nicht hier diesem auf Bundesebene ja jetzt formierten Wahlalternativ-Bündnis Arbeit und soziale Gerechtigkeit, das ja auch überlegt, in NRW bei der Landtagswahl im Mai anzutreten?

    Steinbrück: Ja gut, das sollte man verstehen als Drohung - tue ich nicht. Im Übrigen muss man sich die Leute angucken. Einige von denen sind, glaube ich, ,über Jahre auch außerhalb der SPD - ich weiß nicht, ob bei der PDS oder bei anderen - immer politisch eher am äußeren linken Rand ohnehin angesiedelt gewesen. Die wittern jetzt etwas Morgenluft. Noch einmal: Ich finde, dass das Thema weit überbewertet wird. Richtig ist, dass die SPD sich selber konzentrieren, disziplinieren muss, dass sie einen Erklärungshintergrund liefern muss für diese Reformmaßnahmen. Ich mache die Erfahrung in den Veranstaltungen, in denen ich auftrete, dass das gelingen kann.

    Birke: Das heißt, Sie plädieren nicht dafür, dass man hier den Linken in der Sozialdemokratie entgegenkommt, indem man Vorschläge aufgreift - Erbschaftssteuererhöhung und Vermögenssteuererhöhung, eben Anliegen, die gerade die Linke eben auch fordert?

    Steinbrück: Nun, das ist nicht einfach nur ein Links- Rechtsmuster, es macht zwar manches einfacher und simpler, aber nicht unbedingt zutreffender. Die SPD hat vor dem Hintergrund der derzeitigen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat keine Chance, eine Vermögenssteuer wieder einzuführen. Und ich rate dazu, mit Blick auf die Erbschaftssteuer abzuwarten, bis sich das Bundesverfassungsgericht damit beschäftigt hat. Da gibt es einen Vorlagebeschluss des - ich glaube - Bundesgerichtshofes. Das wird nächstes Jahr der Fall sein. Ich glaube, dass die SPD gut beraten ist, im Augenblick die Menschen nicht mit einer weiteren Steuererhöhungsdebatte weiter zu irritieren. Ich sage nur umgekehrt - und das ist dann meine Kritik an der CDU/CSU-Politik: Ein Potential für weitere Steuersenkungen gibt es auch nicht. Das heißt, die Vorstellungen, die einige CDU-Politiker vortragen, man könnte mal eben den Spitzensteuersatz von 42 Prozent auf 35 oder 36 Prozent senken, ist absolut illusionär.

    Birke: Herr Ministerpräsident Steinbrück, ich möchte Sie bitten, ein paar Halbsätze einfach zu ergänzen. "Die Tatsache, dass ich in der Meinungsgunst wieder vor meinem Herausforderer Jürgen Rüttgers von der CDU liege, bedeutet für mich ..."

    Steinbrück: ... ja, das ist eine durchaus erfreuliche Entwicklung, aber eine hinreichende Begründung dafür, dass wir die Wahlen in Nordrhein-Westfalen gewinnen, nicht. Im Übrigen sind auch solche Umfrageergebnisse hoch volatil.

    Birke: "Die Koalition mit den Grünen weitergeführt zu haben, war ..."

    Steinbrück: ... war richtig, und nach der Auseinandersetzung im Frühjahr des letzten Jahres hat sie sich als sehr stabil erwiesen. Seitdem gibt es nichts, was diese Koalition an Unsicherheit verbreitet hat. Sie ist handlungsfähig, sie ist entscheidungsfähig. Das hat sich insbesondere bei der Verabschiedung des sehr schwierigen Doppelhaushaltes 2004/2005 bewiesen.

    Birke: "Rot-Grün in NRW steht für .. ."

    Steinbrück: ... nach wie vor für soziale Gerechtigkeit, nach wie vor für die Integration auch für Minderheiten, nach wie vor Erfolge bei der Bildungspolitik und auch mit Blick auf Wissenschaft und Forschung, was wesentliche Voraussetzungen sind für den Wohlstand in Nordrhein-Westfalen in der Perspektive der nächsten Jahrzehnte.

    Birke: "Das Projekt METRORAPID beerdigt zu haben, war ..."

    Steinbrück: ... sehr, sehr schwierig und war sehr schmerzhaft, weil ich zu den Befürwortern gehörte - oder noch gehöre, weil ich es bedaure, dass wir in Deutschland einmal mehr nicht in der Lage gewesen sind, eine solche Technologie - auch in einem so großen Maßstab - zu realisieren. Aber die Freunde und Sympathisanten dieses Projektes die waren zu wenig. Einige von denen sind dann aus der Furche gekommen, nachdem es abgekürt worden ist. Was wir jetzt brauchen, ist, stattdessen auf der herkömmlichen Rad-Schiene-Technik eine bessere Verbindung zwischen Dortmund und Köln-Bonn.

    Birke: "Nach der Landtagswahl strebe ich eine Koalition an mit ..."

    Steinbrück: ... ja, mit den Grünen.

    Birke: Herr Steinbrück, gemeinsam mit Ihrem Ministerpräsidenten-Kollegen von der CDU, Herrn Koch in Hessen, haben Sie sich einen Namen als 'Subventionskürzer nach der Rasenmähermethode‘ gemacht. Nach Umsetzung der Vorschläge kommen Klagen, dass sensible Bildungs- und Forschungsbereiche über Gebühr betroffen seien. Weshalb nicht statt Rasenmäher auch in einigen Bereichen radikale Entwurzelung?

    Steinbrück: Weil Sie immer sehen müssen, ob Sie zu bruchartigen Entwicklungen dabei beitragen. Und das nützt ja niemanden, sondern der Ansatz vom Kollegen Koch und mir war, mit einem Einstieg so zu beginnen, dass es zu Anpassungsprozessen kommen kann. Sie müssen den Menschen oder den betroffenen Gruppen - oder wem auch immer - die Möglichkeit geben, über zwei, drei Jahre sich selber neu zu justieren auf solche Veränderungen. Und da macht es keinen Sinn, die Bäume mit den Wurzeln rauszureißen, nur um den Menschen zu zeigen, dass da unten Wurzeln dran sind. Sondern das, was wir vorgelegt haben, ist ein Handwerkszeug, wo Sie systematisch über mehrere Jahre mit gewissen Prozentsätzen wirklich von den Subventionen herunterkommen, bei den direkten Finanzhilfen genau so, wie bei den Steuervergünstigungen.
    Birke: Rasenmäher bei Subventionskürzungen - Gießkanne bei der Verteilung der Subventionen. Spritzt die Gießkanne nicht längst nicht zu wenig im Westen? Anders ausgedrückt: Ist es denn gerechtfertigt, dass eine Stadt wie Duisburg in zwölf Jahren 433 Millionen Euro für den Aufbau Ost bezahlt hat, was praktisch zwei Drittel der Gesamtverschuldung dieser Stadt entspricht?

    Steinbrück: Ja, das ist - auf Deutsch gesagt - ein Hammer, und das wird, glaube ich, auch in den neuen Ländern zu wenig gewürdigt. Die haben, glaube ich, nicht richtig auf dem Bildschirm, dass die Verschuldung der meisten Ruhrgebietsstädte zu zwei Dritteln daraus besteht, dass diese Ruhrgebietsstädte in der notwendigen Solidarität mit für den Aufbau Ost und mit für den Solidarpakt finanziert haben ...

    Birke: ... das heißt, Sie fordern da eine Umverteilung der Fördermittel ...

    Steinbrück: ... nein, nicht ganz so schnell und auch nicht so konfrontativ und schon gar nicht aggressiv. Ich bin dafür, dass Verträge eingehalten werden oder dass Verabredungen eingehalten werden. Aber mit Blick auf weitere Entscheidungen - zum Beispiel mit Blick auf die Verteilung von Strukturhilfemittel der Europäischen Union - werde ich die Interessen des Landes Nordrhein-Westfalen deutlich vertreten in dem Zusammenhang. Da wird es keine Unwucht geben können, zum Beispiel in der Verteilung der Strukturhilfemittel, die in die neuen Länder gehen - zu Lasten möglicherweise von Strukturhilfemitteln hier in Nordrhein-Westfalen. Das wird nicht funktionieren. Das sage ich in der gebotenen Höflichkeit, aber auch Offenheit.

    Birke: Befürchten Sie, dass diese EU-Strukturfonds austrocknen - langsam jetzt mit der EU-Osterweiterung?

    Steinbrück: Die Mittel werden weniger, aber das habe ich den Menschen und vor allen Dingen auch denjenigen, die hier Bestandteil der Fördergebietskulisse sind, schon gesagt, als ich noch Wirtschaftsminister gewesen bin, also Ende der 90er Jahre. Das überrascht mich nicht. Die Volumina werden weniger. Aber es bahnt sich an, dass es ein neues operationelles Programm gibt, das heißt, dass weiter finanziert wird. Ich unterstütze die Bundesregierung darin, dass die Ein-Prozent-Regelung, in der wir einzahlen, beibehalten werden soll, weiß, dass umgekehrt die darüber absoluten Beträge heruntergehen werden. Was ich allerdings ablehnen werde, ist, dass es in dem relativen Verhältnis zwischen einem Fördergebiet in Nordrhein-Westfalen und den Fördergebieten in Ostdeutschland, in den neuen Ländern, zu einer Benachteiligung von Nordrhein-Westfalen kommen wird. Das wird mit uns nicht geschehen.

    Birke: Was soll der Maßstab sein? Bruttosozialprodukt pro Einwohner - oder was nehmen Sie da als Maßstab?

    Steinbrück: Nein, das bisherige Verhältnis ist ungefähr 78 zu 22. Und dieses Verhältnis möchte ich aufrechterhalten sehen. Es wird sich nicht verschlechtern dürfen zu Lasten von Gebieten in Nordrhein-Westfalen, die einem Strukturwandel ausgesetzt sind und ökonomische Kennziffern, insbesondere eine Arbeitslosenquote aufzeigen wie viele Teile beklagenswerterweise in den neuen Ländern.

    Birke: Sie haben die Europapolitik kurz angesprochen mit den Strukturfonds. Ein Problem der Europapolitik wird ja immer darin gesehen, dass die Länder zu viel Mitspracherechte haben, also die Bundesländer. Sie sitzen ja auch in der Föderalismus-Kommission. Ist es nötig, dass man den Artikel 23 im Grundgesetz streicht, um eben hier die Position der Bundesrepublik auf europäischer Ebene nicht zusätzlich zu schwächen?

    Steinbrück: Nein, der Artikel 23 hat sich nach meiner Auffassung und, soweit ich das sehe, auch nach Auffassung der meisten anderen Ministerpräsidenten-Kollegen bewährt, der kann so bleiben, wie er ist. Richtig ist, dass wir uns intern - sprich, auch Bundesregierung und Bundesländer - besser abstimmen müssen. Das ist richtig. Das heißt, unsere Aufstellung in Brüssel ist vor dem Hintergrund des deutschen Föderalismus manchmal eher eine Schwächung - mit Blick auf die Gesprächspartner, die wir suchen, die wir brauchen, und wo wir uns einheitlich aufstellen müssen, um gemeinsame Interessen zu vertreten.

    Birke: Ein anderes Thema für die Föderalismus-Kommission: Sollte man nicht die Bildungspolitik zentralisieren, denn gerade das Gerangel um die Förderung der Eliteuniversitäten scheint doch zu belegen, dass hier der Föderalismus eher hemmend ist?

    Steinbrück: Nein, ich bin bereit, einige Kompetenzen an den Bund als Vollkompetenzen abzugeben ...

    Birke: ... welche?

    Steinbrück: Ja, das kommt darauf an, über welche Details man da im Einzelnen redet. Da werde ich nun meine Verhandlungsposition nicht von vornherein schwächen wollen. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass wir zu einer Entflechtung, zu einer klareren Zuordnung von Verantwortlichkeiten nur dann kommen, wenn die Länder auch bereit sind, dem Bund zu belassen, was des Bundes ist, und ihn nicht in jedem Fall in irgendwelche Bundesratsverfahren - egal ob zustimmungspflichtig oder nur einspruchsberechtigt - hineinziehen. Aber das bedeutet umgekehrt, dass die Länderparlamente auch ihre Zuständigkeiten haben, auch gestärkt werden. Sie sind diejenigen, die wahrscheinlich im Zuge der Entwicklung der letzten Jahrzehnte eher verloren haben, und da glaube ich in der Tat ist die so genannte Kulturhoheit - und damit auch die Bildungspolitik - eine klassische Aufgabe der deutschen Länder.

    Birke: Muss man die Gesetze, die den Bundesrat passieren, muss man die Zahl reduzieren?

    Steinbrück: Eindeutig 'ja‘. Wir haben jetzt Verfahren, wo man sich nur wundern kann, in welchem Ausmaß wir zusammenkommen im Bundesrat, über welche Tagesordnungspunkte, und auch das Schauspiel von manchen Vermittlungs-ausschuss-Sitzungen - siehe im Dezember des letzten Jahres - ist nicht sehr hilfreich, weil ich glaube, dass viele Menschen den Eindruck haben, das sind mehr 'Lagerfeuerpalaver‘ als ernsthafte Politik. Und vor allen Dingen: Es ist kein Beleg für die Entscheidungsfähigkeit der Politik,

    Birke: Herr Ministerpräsident Steinbrück, wir danken für dieses Gespräch.

    Steinbrück: Ich danke!