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Steve-McQueen-Retrospektive
Unsichtbares sichtbar gemacht

US-Werte, Grubenarbeiter-Leid, Rassismus: Steve McQueen gehört mit seinen filmischen Arbeiten zu den einflussreichsten Künstlern der vergangenen Jahre. Ausgezeichnet mit dem Turner Prize und einem Oscar kehrt er jetzt mit einer großen Werkschau in seine Heimatstadt zurück - die Tate Modern in London.

Von Friedbert Meurer | 13.02.2020
Der Künstler Steve McQueen vor von ihm angefertigten Portraits von Schulklassen
Gewalt, Schönheit, Tod – das sind die Themen von Steve McQueen (©Tate, Jessica McDermott)
Aus einem Hubschrauber heraus wird die Freiheitsstatue in New York in Großaufnahme gefilmt. Die Aufnahme fängt an zu wackeln, so dass der Eindruck einsteht, als gerate die Freiheitsstatue ins Schwanken. Immer wieder umfliegt der Helikopter das berühmte Symbol der US-amerikanischen Freiheit. Wind, Wasser und Wetter haben der Statue zugesetzt. "Static" aus dem Jahr 2009 ist eine visuelle Antwort auf die Frage, wie es um die Gründungswerte der USA bestellt ist.
Fokus
Steve McQueen liebt es, den Fokus auf Details zu legen. Im Jahr 2002 fuhr er mit seiner Super-8-Kamera in die tiefste Goldmine der Welt ein, "Western Deep" in Südafrika. McQueen zeigt die schwitzenden Gesichter der schwarzen Grubenarbeiter, die man im Dunkeln, 3500 Meter tief unter der Erde, nur schemenhaft sieht.
Eine rote Lampe blinkt, die Arbeiter machen nach Dienstende gemeinsam Gymnastik, hüpfen im Takt auf eine Betonstufe herauf und wieder herunter. Dann wird ihre Temperatur gemessen wie bei Fieberkranken. In der Grube kann es bis zu 90 Grad heiß werden.
Die Retrospektive von Steve McQueen in der Tate Modern illustriert, wie intensiv und dicht der Künstler mit seiner Videokunst zum Teil unglaubliche Geschichten erzählt. McQueens Cousin Marcus hat vor 20 Jahren versehentlich in der Küche seinen eigenen Bruder erschossen. In dem abgedunkelten Kinoraum berichtet der Cousin von dem schrecklichen Ereignis. Aber man sieht die ganze Zeit nie sein Gesicht, nur konstant seinen kahl rasierten Hinterkopf.
Unschärfe
Achim Borchardt-Hume ist der Kurator der Ausstellung. Für ihn ist der 20 Minuten lange Film ein ausgeprägtes Beispiel dafür, wie innovativ Steve McQueen die Perspektive zu wählen vermag: "Man sieht den Kopf von oben, weil dieser Mann liegt. Man sieht das rasierte Haar und die Narbe. Man bekommt nicht das Gesicht zu sehen, was man gerne als Lösung hätte. Zu wissen, wie er aussieht, diese Information wird zurückgehalten. Daher wird er auch zu einer Art Chiffre für eine bestimmte Art von nicht so ungewöhnlicher Lebenserfahrung für junge schwarze Männer."
Die Ausstellung beschränkt sich weitgehend auf die Videoinstallationen Steve McQueens. Seine Filme wie "12 Years a Slave", für den er den Oscar erhielt, oder "Hunger" über den IRA-Häftling Bobby Sands bleiben außen vor. Die Kunstvideos stehen für ein innovativeres Vorgehen, meint Borchardt-Hume.
"Wenn man ‚Hunger‘ oder ‚12 Years a Slave‘ sieht im Kino, dann akzeptiert man die Kinokonvention. Man sitzt fest und unbeweglich im Stuhl. Der Film spielt sich vor einem ab. Die Arbeiten für die Galerie haben räumliche Dimensionen und spielen mit Fragen wie der Größe des Bildschirms. Oft wird der Bildschirm von zwei Seiten projiziert, so dass man um den Bildschirm herumgeht."
Weitwinkel
"Caribs‘ Leap" von der Documenta 2002 wird sogar an die Außenfassade des Museums projiziert. Der Außenbildschirm fängt den scheinbar idyllischen Alltag auf der Karibikinsel Grenada ein. Auf dem zweiten Bildschirm im Museum stürzt ein Mensch in die Tiefe – nur ganz klein ist der Körper im freien Fall zu sehen. Im 17. Jahrhundert sprangen die Ureinwohner Grenadas lieber in den Tod, als sich von den Franzosen versklaven zu lassen.
Gewalt, Schönheit, Tod – das sind die Themen Steve McQueens, die den Ausstellungsbesuch zu einem beklemmenden, aber auch zutiefst humanistischen Erlebnis machen. Der Künstler animiert den Betrachter zum genauen Hinschauen, umso mehr als die Super-8-Aufnahmen in der Vergrößerung effektvoll unscharf und körnig werden.
Zoom
Wer will, kann anschließend in London von der Tate Modern zur Tate Britain die Themse aufwärts mit dem Schiff fahren. Auch hier gibt es Steve McQueen zu sehen: mit Klassenfotos von insgesamt 76.000 im Schnitt achtjährigen Londoner Schülerinnen und Schülern. Die große Diversität der verschiedenen Ethnien und Kulturen an Londoner Schulen verspricht für Steve McQueen die Hoffnung, dass unsere Zukunft durchaus besser werden kann.