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Stinner hält Überdenken der EU-Kompetenzen für richtig

Rainer Stinner (FDP) stimmt Großbritanniens Premier David Cameron zu, dass die Aufgabenverteilung zwischen Brüssel und den EU-Mitgliedern überdacht werden sollte. Kein Verständnis hat Stinner für den Tenor der britischen Konservativen, die EU nur als Freihandelszone zu sehen - sie sei wesentlich mehr.

Das Gespräch führte Tobias Armbrüster | 24.01.2013
    Tobias Armbrüster: David Cameron hat Ernst gemacht gestern und seinen Kollegen in Europa gedroht: Reformiert die Europäische Union oder Großbritannien verlässt den Klub. Die Rede des britischen Premierministers ist auch heute, 24 Stunden danach, ein heißes Debattenthema in vielen europäischen Ländern, aber natürlich vor allem auf der britischen Insel selbst.
    Am Telefon ist jetzt Rainer Stinner, der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Schönen guten Morgen, Herr Stinner.

    Rainer Stinner: Hallo, guten Morgen!

    Armbrüster: Herr Stinner, hat David Cameron da gestern ausgesprochen, was viele Menschen in Europa denken, aber sich nicht zu sagen trauen?

    Stinner: Nun, einiges von dem, was er ausgesprochen hat, denken sicherlich eine ganze Reihe von Leuten, zum Beispiel, dass die EU sich in einer Weise entwickelt hat, dass Bürokratie und Einzelregelungen in einer Weise rüberkommen in die einzelnen Länder, die Fragezeichen aufrufen, ob so viel Zentralismus richtig ist. Das ist sicherlich ein Thema, und von daher sage ich auch, dass diese Forderung von David Cameron, sich nach einigen Jahrzehnten der Gemeinsamkeit in Europa zurückzulehnen und zu fragen, ob die Architektur, die Statik richtig ist, auch die Aufgabenverteilung zwischen Brüssel und den Ländern, dass das ein berechtigtes Anliegen ist. Aber ich glaube, der Kern der Sache ist ja, es war zumindest primär eine innenpolitische Rede von David Cameron. Er musste versuchen, seine eigene Partei einzufangen. Er hat mit der Verschiebung des Referendumsdatums, was ja bisher 2015 angekündigt war, ein zweischneidiges Schwert gezogen, nämlich auf der einen Seite gibt es ihm mehr Zeit und Großbritannien zu argumentieren, und auf der anderen Seite ist richtig, was Nick Clegg auch gerade eben gesagt hat, das lässt fünf Jahre Unsicherheit über Großbritanniens Politik erscheinen, und das kann natürlich auch nicht im Interesse Großbritanniens sein.

    Armbrüster: Aber es war ja doch eine sehr konkrete Rede mit sehr konkreten Forderungen. Und wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, haben Sie zumindest für einiges, was er gesagt hat, Sympathie. Deshalb würde ich gerne wissen: Würden Sie der EU raten, jetzt auf Cameron zuzugehen und tatsächlich so einige Dinge noch mal neu zu verhandeln in der EU?

    Stinner: Ja ich meine, es ist ja so, dass auch deutsche Politiker, die Kanzlerin und der deutsche Außenminister, ja auch gesagt haben, dass jetzt durchaus die Zeit ist, um noch mal über ein neues europäisches Vertragswerk nachzudenken.

    Armbrüster: Das heißt, die europäischen Verträge auch noch mal neu aufschnüren?

    Stinner: Jedenfalls zu überlegen, welche Veränderungen eventuell angenommen werden können. Von daher ist das ein Petitum von Cameron, was andere ja auch in anderer Weise und mit anderer Intention – das ist ja das Entscheidende – schon angesprochen haben. Dafür habe ich Verständnis, aber ich habe kein Verständnis für einen grundsätzlichen Tenor, den Cameron angesprochen hat und den die konservative Partei in letzter Zeit anspricht, nämlich so zu tun, als hätte sich Großbritannien immer nur dazu verpflichtet, dass die Europäische Union eine Freihandelszone ist. Das ist eine falsche Legende und die wird von konservativen Politikern verbreitet. Ich hatte im Dezember eine Diskussion mit einer britischen Europaabgeordneten der konservativen Partei und ich bin fast vom Stuhl gefallen, als sie uns erzählt hat, dem ganzen Auditorium, Großbritannien hätte ja sowieso immer nur einer Freihandelszone zugestimmt. Ich habe sie daran erinnert, dass Großbritannien die Verträge von Maastricht, von Amsterdam, die Vereinbarung von Nizza und den Lissabon-Vertrag unterschrieben hat, und da ist völlig klar, dass nach Ansicht aller derjenigen, die unterschrieben haben, Europa wesentlich mehr ist als eine Freihandelszone. Das muss man in Großbritannien zur Kenntnis nehmen und das müssen wir Herrn Cameron und den Briten auch sehr, sehr deutlich sagen. Der europäische Weg, den Großbritannien vertragsgemäß mitgegangen ist bis hierher, ist wesentlich mehr als eine Freihandelszone.

    Armbrüster: Aber, Herr Stinner, ist das nicht vielleicht ein Gefühl, das heute viele Menschen in Europa haben, dass sie sich denken, hoppla, was haben unsere Politiker denn in den letzten Jahrzehnten so alles unterzeichnet, eigentlich wollten wir so weit doch nie gehen?

    Stinner: Nein, ich bin nicht der Meinung. Ich glaube, dass das neue europäische Narrativ, was für uns ja ganz wichtig ist, dass wir uns überlegen, wie sieht die Welt im Jahre 2040, 2050 aus, und dass die Welt so aussieht, dass wir eine multipolare Welt haben, und in dieser multipolaren Welt hat kein einziges europäisches Land, auch Deutschland nicht, die Chance, dann noch am Tisch der Entscheider zu sitzen, und das können wir nur, wir können nur die Weltpolitik beeinflussen, wenn wir als Europäer zusammenhalten und zusammen arbeiten, zusammen agieren können und dieses zusammen agieren geht eben über eine reine Freihandelszone weit hinaus.

    Armbrüster: Und warum verstehen das die Briten nicht?

    Stinner: Das ist die große Frage. Dieses Argument, was die Briten bringen, was Cameron gestern auch gebracht hat, fälschlicherweise in seiner Rede - wie gesagt, die britische Regierung hat ja zugestimmt -, ist, in der Tat sind die Bürger Großbritanniens in einem Referendum tatsächlich nur zu dem Thema Freihandel befragt worden vor langer, langer Zeit und zu den weiteren Schritten hat es keine Volksabstimmung gegeben. Die hat es bei uns aber auch nicht gegeben. Aber in Großbritannien gibt es seit geraumer Zeit eine ganz klar europafeindliche Partei, das ist die UKIP, vor der Cameron sehr große Angst hat - und deshalb muss man auch einige seiner Einlassungen verstehen, um die Leute einzufangen -, und diese UKIP ist eine Partei, die ganz offen sagt, wir Briten sollten die EU verlassen. Die UKIP hat durchaus Anhänger, aber sie ist keine dominierende Partei in Großbritannien. Das heißt, die Wahl war für Briten bisher auch schon möglich, eine streng antieuropäische Partei zu wählen, und das ist bisher nicht in großem Maße erfolgt.

    Armbrüster: Was wäre denn eigentlich so schlimm daran für uns in Deutschland und für uns im Rest der EU, wenn die Briten tatsächlich austreten würden?

    Stinner: Für uns Deutsche wäre der Austritt Großbritanniens ein großer Verlust und für uns Liberale, sage ich als FDP-Mann, besonders. Der britische Pragmatismus und die britische Art, das Thema Freihandel als ein wohlfahrtsförderndes Element eines Staates zu sehen, das liegt uns sehr und das unterstützen wir sehr und wir haben in Großbritannien einen Partner auch bei einer ganzen Reihe von kritischen Fragen in Brüssel. Von daher wäre das ein großer Verlust. Ich sage aber auch, nach meinem Dafürhalten hat sich auch in Deutschland die Einstellung zu dieser Frage in den letzten 24 Monaten verändert. Vor 24 Monaten hätten wir überwiegend gesagt, fast um jeden Preis müssen wir Großbritannien an Bord halten; heute sagen wir, die Tür ist offen, wir wollen sie an Bord behalten, aber nicht um jeden Preis, und wir werden Großbritannien nicht erlauben, dass sie selektiv aus einzelnen Integrationsbereichen einseitig aussteigen, wie das Ansinnen ja jetzt schon ist, den ganzen Bereich Innen und Justiz nach Großbritannien zurückzuholen. Eine solche einseitige Zurückholung von Kompetenzen kann es nicht geben. Sehr wohl kann es geben und sollte es geben eine gemeinsame, eine gemeinschaftliche Überprüfung der Kompetenzverteilung zwischen Brüssel und den Nationalstaaten, denn ich sage, auch ich mache mir Sorgen über einige Entwicklungen in Brüssel, und ich stelle fest, ...

    Armbrüster: Können Sie da ein Beispiel nennen, Herr Stinner?

    Stinner: Ja, gerne!

    Armbrüster: Welches denn?

    Stinner: Ich empfinde, dass sich in Brüssel Elemente eines paternalistischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses einnisten und durchsetzen. Das Beispiel ist zum Beispiel das gegenwärtige Ansinnen, dass europaweit auf Zigarettenpackungen die Bilder von Lungenkranken abgebildet werden sollen. Jeder weiß, dass Rauchen gefährlich ist, das ist keine Frage, das braucht uns keiner zu erzählen. Aber das ist eine paternalistische Art, Bürger zu zwingen und zu befehlen. Ich übertreibe wie üblich und sage, das wird dazu führen, dass wir in einiger Zeit an Motorradtanks die Bilder von Gehirnquetschungen haben und auf Bierflaschen auch etwas unappetitliche Bilder sehen. Das ist eine Weise von Europa, die ich überprüfungswürdig halte, und darüber sollten wir gemeinsam noch mal nachdenken.

    Armbrüster: Und sind kleine Zigarettenpackungen da vielleicht nur der Anfang?

    Stinner: Das ist der Anfang, das ist meine Meinung. Das ist ja das, was ich sage.

    Armbrüster: Wo könnte es weitergehen?

    Stinner: Wenn dieses paternalistische Staatsverständnis, was ja in Deutschland einige Parteien auch haben – aber wir Liberale haben es eben ausdrücklich nicht und deshalb bin ich und sind wir Liberale besorgt über solche Geschichten -, das könnte eben darin enden, dass tatsächlich ein europäischer Zentralstaat den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben haben, und das ist eine Vision, die auch mir nicht gefällt. Von daher müssen wir hier den Anfängen wehren.

    Armbrüster: Dann ganz konkret: Was können wir dagegen tun, wir in Deutschland?

    Stinner: Nun, ich habe ja gesagt, dass ich bereit bin – und das ist ein ganz normaler Prozess, ohne jede Dramatik nach meinem Dafürhalten -, dass wir nach 20, 30 Jahren der Zusammenarbeit in Europa, wie wir es gestaltet haben, noch mal überlegen, ob die Statik und die Verteilung von Kompetenzen zwischen Brüssel und den Nationalstaaten richtig ist. Das kann man ohne jede Aufregung und ohne jedes antieuropäische Sentiment machen. Ich bin total proeuropäisch, ich weiß, dass wir Europa brauchen und Europa wollen, gerade als Deutsche, weil wir von Europa sehr stark profitieren. Aber diese Überprüfung des Kompetenzgefüges halte ich für ein sinnvolles Ansinnen.

    Armbrüster: Und muss man da vielleicht ab und zu auch hier bei uns in Deutschland mal die Bevölkerung fragen mit einem Referendum?

    Stinner: Wir haben bisher in Deutschland das Prinzip der repräsentativen Demokratie und das halte ich vom Prinzip her auch für richtig. Aber wenn es dazu führen würde, dass wir im Rahmen einer europäischen Integration über die bisherigen Regelungen weit hinausgehen, was den integrativen Ansatz angeht, dann hat das Verfassungsgericht ja auch schon gesagt, dann kann es sein, dass wir eine Verfassungsänderung brauchen, und für die könnte dann ein Referendum notwendig werden. Aber das, was ich jetzt gerade angesprochen habe, eventuell einige Integrationsschritte zurückzudrehen oder einige Integrationsprozesse zu überprüfen, das, glaube ich, können wir machen, ohne dass wir eine Verfassungsänderung brauchen in Deutschland.

    Armbrüster: Herr Stinner, dann habe ich ganz zum Schluss noch eine kurze Frage zu einem ganz anderen Thema. Im "Stern" werden heute schwere Vorwürfe laut gegen Ihren Fraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle. Er soll sich einer Journalistin gegenüber anzüglich verhalten haben. Was sagt man dazu in der FDP-Fraktion?

    Stinner: Also zunächst einmal sage ich persönlich dazu, dass ich es für völlig unprofessionell halte und für abwegig halte, dass eine junge Dame, die sich vor über einem Jahr belästigt gefühlt hat, nach einem Jahr diese Belästigung auskramt, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, wo derjenige, von dem sie sich belästigt gefühlt hat, eine neue herausragende Position in einer Partei, die der Zeitung, in der sie schreibt, deutlich nicht gewogen ist, macht. Das ist so durchsichtig und das ist so primitiv, dass ich sage, das fällt eher auf den Journalismus des "Stern" zurück als auf Herrn Brüderle.

    Armbrüster: Live hier bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk war das Rainer Stinner, der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Besten Dank, Herr Stinner, dass Sie sich die Zeit genommen haben heute Morgen.

    Stinner: Vielen Dank! Auf Wiedersehen!

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