Stoiber: Also, man muss natürlich jetzt das aktuelle Vermittlungsverfahren trennen von der Notwendigkeit, auch unseren Staat neu aufzustellen – also nicht nur die Reform der sozialen Sicherungssysteme, die wir gegenwärtig leidenschaftlich diskutieren und auch entscheiden, sondern es geht auch darum, die Bundesrepublik Deutschland, diesen föderalen Staat, das Abstimmungsverhältnis, die Abstimmung zwischen den Ländern und dem Bund, das muss neu austariert werden.
Detjen: Sie sind ja involviert als Mitglied. Sie haben am Freitag die Föderalismuskommission, die sich damit beschäftigt, geleitet.
Stoiber: Ja, wir sind auf der Ebene der Ministerpräsidenten seit vielen, vielen Jahren immer wieder in dem Versuch stecken geblieben, eine wirklich neue Reform der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den Staatsaufbau zustande zu bringen. Wir haben eine zu starke Mischkompetenz – wir haben Mischfinanzierungen, wir haben Mischzuständigkeiten. Und um jetzt auf das Vermittlungsverfahren noch mal einzugehen, was Sie gerade angesprochen haben: Wir haben in der Zwischenzeit etwa 60 Prozent der Bundesgesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes sind 1949 davon ausgegangen, dass es etwa zehn Prozent sein sollten, und so hat sich das auch eingependelt. Der Grund liegt aber weniger bei den Ländern, sondern er liegt eindeutig bei den Bundesregierungen und bei den Bundestagen. Sie haben praktisch die sogenannte ‚konkurrierende Gesetzgebung’, die beinhaltet, dass eigentlich beide zuständig sind – die Bundesrepublik Deutschland kann es lösen, die Länder können es lösen. Wenn aber der Bundestag diese Materie gelöst hat, können es die Länder nicht mehr lösen. Das heißt also konkurrierende Gesetzgebung. Im Grunde genommen ist aber diese konkurrierende Gesetzgebung voll von der Bundesebene ausgeschöpft worden, so dass für die Landtage nichts mehr übrig geblieben ist.
Detjen: Aber die Länder, namentlich die Ministerpräsidenten, haben an diesem Prozess ja im Laufe einer fünfzigjährigen Verfassungsentwicklung aktiv mitgewirkt. Auch die Länder haben auf Kompetenzen verzichtet, haben sie abgegeben und haben sie sich bezahlen lassen, zum einen natürlich in Geld, aber eben zum anderen in Mitspracherechten der Ministerpräsidenten. Und heute muss man doch feststellen, faktisch: Sie, die Ministerpräsidenten, sind zu mächtig auf der Bühne des Bundes.
Stoiber: Nein, das würde ich nicht so sagen. Die Hauptursache, dass so viele Gesetze der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, liegt darin, dass der Bund zu detailliert die Verfahren und die Organisation, wie ein Gesetz durchgeführt werden soll, regelt. Denn im Zustimmungsartikel des Grundgesetzes, da steht einfach drin, dass die Länder für die Durchführung der Bundesgesetze zuständig sind. Und wenn der Bund eben das Verfahren regelt, wie sein Gesetz vollzogen werden soll, dann braucht er die Zustimmung der Bundesländer. Und dann gibt es dazu noch die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung, die gesagt hat: Und wenn nur ein ganz kleines Zustimmungserfordernis gegeben ist . . .
Detjen: . . . ist das ganze Gesetz infiziert, sozusagen . . .
Stoiber: . . . praktisch das ganze Gesetz durch den Bundesrat zugestimmt werden muss . . .
Detjen: . . . also auch das Bundesverfassungsgericht könnte hier korrigierend eingreifen, indem es seine eigene Rechtssprechung korrigiert.
Stoiber: Richtig, das Bundesverfassungsgericht hat also die Zustimmungserfordernis noch gewaltig ausgedehnt, und damit ist natürlich die Bedeutung, die Macht des Bundesrates und der Ministerpräsidenten gestiegen. Das müssen wir letzten Endes ändern. Aber ich sage ja auch ganz deutlich: Das Vermittlungsverfahren wird es immer geben müssen, denn wir haben ein Zwei-Kammern-System. Und wenn nun mal die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und im Bundesrat divergieren, dann gibt es natürlich häufiger Vermittlungsverfahren.
Detjen: Sie haben das Bundesverfassungsgericht angesprochen. Dessen Präsident Hans Jürgen Papier hat sich vielleicht da mit Bedacht jetzt im Vorfeld dieses Vermittlungsverfahrens, geäußert zur föderalen Ordnung. Papier hat einen radikalen Vorschlag gemacht. Er hat gesagt, im Grunde müsste man den Bundesrat ganz abschaffen und durch einen Senat nach amerikanischem Vorbild ersetzen.
Stoiber: Das ist eine interessante wissenschaftliche Diskussion. Aber die hat keinen realen politischen Hintergrund, will sagen: Keine Aussicht auf irgendeine Realisierung. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist nun mal ein föderaler Staat, wie es ihn in Europa in dieser Struktur nirgendwo gibt. Das heißt – das darf man nie vergessen . . .
Detjen: . . . Hat sich diese Tradition nicht verschoben? Das ist doch auch das, was der Präsident des Bundesverfassungsgerichts meint und was den Kern des Problems auch jetzt, im jetzigen Vermittlungsverfahren, das wir in diesen Tagen erleben, auszeichnet, dass eben der Bundesrat nicht mehr ein Organ ist, in dem es originär allein um Interessen der Länder gegen die des Bundes geht, sondern dass sich auch hier im Bundesrat zwei Lager gegenüber stehen – die werden A- und B-Lager genannt -, ein Regierungslager, ein Koalitionslager auf der Bundesebene und ein Oppositionslager, das völlig über die Ländergrenzen hinweg läuft.
Stoiber: Nein, da muss ich Ihnen widersprechen, denn es werden gerade jetzt in hohem Maße ja unterschiedliche Länderinteressen vertreten. Denken Sie jetzt mal an das Vorziehen der Steuerreform. Dieses Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform, was ja gegenwärtig jetzt im Vermittlungsausschuss liegt und jetzt entschieden werden muss, das kostet ja nicht nur den Bund Geld – das heißt, nicht nur der Bund hat damit knapp sieben Milliarden Steuerausfälle –, sondern auch die Länder haben in ähnlicher Größenordnung Steuerausfälle. Und nun ist das natürlich klar, die Länder haben unterschiedliche Schuldenstände. Bayern könnte theoretisch eine höhere Schuldenlast verkraften als zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, die viel mehr verschuldet sind als Bayern oder – nehmen Sie andere Länder, ich will das jetzt nicht gegenseitig ausspielen . . .
Detjen: . . . das wäre ja jetzt auch wieder die Opposition – A-Länder – B-Länder, Bayern – Nordrhein-Westfalen, SPD- – Unionsländer . . .
Stoiber: Nein, nein, das hat mit A und B nichts zu tun, sondern wenn zum Beispiel ein Land wie Niedersachsen, der Kollege Wulff, wenn der seinen Haushalt ansieht und beklagt, was er eigentlich an Erbe von Schröder als Ministerpräsident von Niedersachsen oder von Gabriel übernommen hat, einen total überschuldeten Haushalt, und er sagt: ‚Ich kann keinen Euro Schulden schultern in meinem Landeshaushalt für diese vorgezogene Steuerreform’, wie das Bayern theoretisch könnte, weil Bayern weniger Schulden hat, dann fließen hier natürlich in eine solche Entscheidung gerade die Länderinteressen ein. Und wer sollte sie eigentlich besser vertreten als der gewählte Ministerpräsident? Das heißt also, gerade das Beispiel, das Sie nennen, spricht gerade nicht für eine Senatslösung.
Detjen: Also darf ich aber aus dem, was Sie jetzt gesagt haben, doch schließen, dass es durchaus vorstellbar ist, dass am Ende dieses Vermittlungsverfahrens Bayern auch anders abstimmt als andere unionsregierte Länder? Sie haben ja damit Schlagzeilen gemacht in der hinter uns liegenden Woche, und das wurde sofort dementiert . . .
Stoiber: . . . nein, ich habe keine Schlagzeilen gemacht, sondern es sind völlig falsche Schlagzeilen fabriziert worden . . .
Detjen: . . . es wurde berichtet, um das noch mal zu rekapitulieren . . .
Stoiber: . . . nein, nein, nein, die Schlagzeile ist . . .
Detjen: . . . dass Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen dafür stimmen könnten.
Stoiber: Die Schlagzeile ist falsch gewesen. Ich weiß nicht, woher die Kollegen ihre Informationen hatten, nur sie beruhten nicht auf Wahrheit, denn es gibt keine Entscheidung Bayerns, abzuweichen von dem, was die Unions-Ministerpräsidenten verabredet haben. Und wir haben eine ganz klare Verabredung, dass wir sagen: Wir haben alle unsere Schwierigkeiten in den Haushalten, aber wir wollen dieses Vorziehen der Steuerreform ermöglichen, allerdings unter ganz konkreten Voraussetzungen, dass allenfalls 25 Prozent der Steuerausfälle durch neue Schulden auf Länderebene kompensiert werden. Der Rest muss durch anderweitige Einsparungen von der Bundesregierung übernommen werden. Und an der Position hat sich nie etwas verändert.
Detjen: Aber wenn ich noch mal aufnehme, was Sie vorhin gesagt haben, wäre es dann ein Drama, wenn die Parteilager – das muss ja nicht nur für die Union gelten, das kann auch für die SPD-regierten Länder gelten –, wenn die am Ende nicht entlang der Parteizugehörigkeiten entscheiden?
Stoiber: Ja gut, zunächst gibt es ja eine allgemeine Einschätzung, welche Bedeutung hat für Deutschland, welche Bedeutung hat für die Bevölkerung in Deutschland, in der jetzigen wirtschaftlichen Situation: Das Vorziehen einer Steuerreform – was letztlich bedeutet, dass die Menschen wesentlich weniger Steuern zahlen im Jahre 2004, als sie nach der jetzigen Gesetzeslage zahlen müssen. Und da gibt es natürlich jetzt eine grundsätzliche Einschätzung, dass davon sicherlich ein positives Reformsignal ausgehen würde. Dieses Vorziehen der Steuerreform hat sich ja fast schon von seiner wirklichen volkswirtschaftlichen Bedeutung gelöst, weil es als eine Art Synonym für die Entscheidungsfähigkeit der Politik und Reformfreudigkeit der Politik angesehen wird. Und deswegen bin ich ja auch der Meinung, dass es notwendig ist, dass wir in diesen entscheidenden Fragen auch zu einer Übereinkunft mit der Bundesregierung kommen. Das bedeutet . . .
Detjen: . . . die dann ein Vorziehen ermöglicht . . .
Stoiber: . . . die dann ein Vorziehen ermöglicht. Das bedeutet aber, dass die Bundesregierung sich hier bewegen muss und eine andere Finanzierung – eine andere Kompensation – vorschlagen muss als das, was sie bisher vorgeschlagen hat. Wir haben seit dem Sommer immer wieder gesagt: Mit Schulden sind wir nicht bereit, das Vorziehen der Steuerreform zu finanzieren. Das weiß die Bundesregierung seit August, und deswegen habe ich das sehr bedauert, dass auf unsere Vorstellungen, auf unsere Kritik, auf unsere Einwendungen – mit ‚uns’ meine ich jetzt die Länder – keinerlei Signal gekommen ist bis jetzt vor ein paar Tagen, als der Bundeskanzler gesagt hat, er könne sich auch eine andere Finanzierung vorstellen, als das, was vorgeschlagen worden ist.
Detjen: Aber es bleibt damit – etwa dem sächsischen Ministerpräsident Milbradt – die Freiheit, nach dem, was Sie vorhin gesagt haben, sich am Ende anders zu entscheiden, um zu sagen: Ich kann es mir nicht leisten, ich werde dagegen stimmen.
Stoiber: Ja, selbstverständlich bleibt jedem Ministerpräsidenten diese Freiheit, aber das ist dann eine Frage, die sicherlich auch mit den Freunden und den Kollegen der CDU/CSU immer erörtert wird. Am Ende bleibt dann immer für jeden Ministerpräsidenten die Verantwortung, ja oder nein zu sagen. Er ist niemandem verpflichtet außer seinem Land und seinem Parlament.
Detjen: Herr Stoiber, wir haben am Anfang über Entscheidungsverfahren gesprochen. Wenn am Ende dieses Vermittlungsverfahrens der Knoten sozusagen nur noch in einem Gipfeltreffen des Bundeskanzlers mit den Parteivorsitzenden der Union durchschlagen werden kann, wäre das nicht ein weiterer Beleg dafür, dass die von der Verfassung vorgesehenen parlamentarischen Entscheidungsverfahren versagt haben?
Stoiber: Nein, das kann man so nicht sagen. Das gibt es immer wieder. Bei ganz, ganz schwierigen Situationen muss es in einer Demokratie auch als möglich angesehen werden, dass dann die Parteivorsitzenden versuchen, mit ihrer Koordinierungsautorität, wenn ich das mal so sagen darf, oder mit ihrer Autorität dann den Knoten, der sich verhakt hat, zu durchschlagen. Das ist ja keine alltägliche Entscheidungsform in der Demokratie, aber es ist eine. Und wenn es nicht anders geht, dann muss das ausnahmsweise auch mal angestrebt werden, um dann bei dem einen oder anderen Punkt letzten Endes den Haken zu lösen.
Detjen: Lassen Sie uns den Blick noch mal über die Tagesordnung des jetzigen Vermittlungsverfahrens hinaus werfen. Der Reformbedarf ist ja mit dem, was jetzt auf dem Tisch liegt in Deutschland, noch nicht gestillt, das ist noch nicht alles. Was muss als nächstes geschehen?
Stoiber: Das, was jetzt vorliegt, also große Teile davon, sind ja Reformen unserer Sozialsicherungssysteme, unseres Arbeitsmarktes. Die sind notwendig, aber damit haben wir noch nicht die Grundlagen gelegt für das Wachstum der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Das Wachstum der nächsten Jahre liegt ja in der modernen Technologie. Wir brauchen in unserem Land eine positivere Einschätzung der guten Wirkungen von technologischen Entwicklungen und Erfindungen. Wir haben leider in Deutschland immer noch eine sehr kritische Einstellung zu der Biotechnologie, der Gentechnologie, der Medizintechnologie. Wir haben zu wenig Begeisterung für technologische Entwicklungen wie die Materialwissenschaften oder die Materialtechnik. Das sind aber alles Bereiche, die das Wachstum von heute schon und in besonderem Maße von morgen und von übermorgen eigentlich erzeugen. Und das bedeutet, dass wir natürlich einen anderen Stellenwert der Forschung und Entwicklung insgesamt einräumen müssen. Und deswegen müssen wir sicherlich auch unsere Haushalte etwas neu aufstellen. Denn wenn wir heute in unseren Haushalten 60 Prozent für sogenannte konstruktive Leistungen ausgeben, das heißt also für Sozialleistung im weiteren Sinne, und nur noch zehn Prozent für Forschung und Entwicklung und für Bildung, dann ist das einfach zu wenig. Hier haben sich die Gewichte im Laufe der letzten 30 Jahre zu Gunsten der Sozialleistungen verschoben.
Detjen: Trotzdem stehen Sie ja hier in Bayern auch als Ministerpräsident landespolitisch in der Verantwortung. Als ich vorhin in die Staatskanzlei kam, standen draußen Tausende von Studenten und haben gegen Kürzungen hier im Bildungsbereich demonstriert. Wie nehmen Sie das eigentlich hier als Ministerpräsident des Landes wahr? Das sind ja Härten, die Sie den Leuten da zumuten. Nehmen Sie das mit dem kühlen Verstand wahr, oder geht Ihnen das auch zu Herzen?
Stoiber: Jede Demonstration ist ja doch nicht etwas, was man so abhakt, sondern man prüft immer wieder: Ist das, was man will, immer so richtig? Nur, Sie müssen sich irgendwann mal generell entscheiden: Wollen Sie Probleme, die wir heute haben, mit Schulden lösen, oder wollen Sie mit dem auskommen, was wir gegenwärtig einnehmen? Wir haben uns eine Mentalität angeeignet, die bedeutet, öffentliche Schulden sind nicht so schlimm. Wenn ich etwas haben will, dann muss ich das auch finanzieren können. Wenn ich das Geld nicht habe, dann gehe ich zur Bank und hole mir Geld. Und so haben wir eine Situation, dass Deutschland heute ein ungeheuer überschuldeter Staat ist.
Detjen: Das ist dann natürlich auch noch einmal das stärkste Argument gegen ein Vorziehen der Steuerreform.
Stoiber: Ja, das wird ja auch von vielen eingewendet. Ich sage das aber jetzt an die Adresse der Studentinnen und Studenten, die Sie gerade hier zitieren oder mir entgegen halten. Die Schulden, die wir heute haben, muss die Generation, die Sie gerade genannt haben, morgen und übermorgen abtragen. Und deswegen müssen wir eine generelle Mentalitätsveränderung bekommen, dass wir unsere Haushalte sanieren, dass wir mittel- und langfristig von dieser Schuldenpolitik wegkommen. Und das geht natürlich nicht ohne Schmerzen. Sparen ist ja a priori etwas Gutes, das bedeutet ja auch, dass wir unsere Strukturen überprüfen. Und mir macht keiner vor, dass man nicht auch Effizienzreserven an den Hochschulen hat oder an den Schulen hat oder an den öffentlichen Einrichtungen hat.
Detjen: Herr Stoiber, wir haben bis jetzt darüber gesprochen, in welcher Verfassung sich Deutschland befindet. Zugleich – das macht ja schon fast die historische Dimension dieser Tage aus – steht in Brüssel eine neue, eine erste europäische Verfassung zur Entscheidung. Es hat auch von Ihrer Seite immer wieder Kritik am Entwurf dieser Verfassung gegeben. Wäre es aus Ihrer Sicht eigentlich schlimm, wäre es bedauerlich, wenn der Gipfel jetzt zu keinem Ergebnis kommt und zumindest Kernentscheidungen aufgeschoben werden?
Stoiber: Also, ich hoffe, dass der Gipfel noch die Problemfälle löst. Auf der anderen Seite wäre eine Verfassung, die Fehler hat, natürlich schlecht. Und deswegen wäre es natürlich kein Beinbruch, wenn man sagt: Okay, wir haben noch einige Fragen, die nicht geklärt sind. Also, es gibt natürlich einige Fragen, die geklärt sein müssen, zum Beispiel die Mehrheitsverhältnisse. Wir werden zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommen müssen, wenn Europa mit 25 oder morgen 27 handlungsfähig sein will. Und jetzt kommt es natürlich darauf an, wie die Mehrheiten ausschauen sollen. Da glaube ich, diese doppelte Mehrheit, dass also zunächst die Mehrheit der Staaten vorhanden sein muss, und dann allerdings auch die Bevölkerungsstaaten die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert, also 60 Prozent, das halte ich für eine Position, die man eigentlich nicht gerechterweise in Frage stellen soll. Die muss mehr oder weniger so kommen, da gibt es nichts.
Detjen: Da gibt es ja auch eine Übereinstimmung zwischen der Opposition in Deutschland und der Bundesregierung, da sind die sich einig. Lassen Sie mich noch zum Schluss einen Punkt ansprechen. Die Union hat jetzt ganz am Ende in der zurückliegenden Woche noch mal einen Punkt in den Vordergrund gestellt, nämlich den Gottesbezug in der europäischen Verfassung. Ist das angesichts der großen Probleme, die jetzt in Brüssel anstehen, nicht ein Nebengleis?
Stoiber: Nein, das ist es nicht, denn wir müssen uns ja schon auf die Wurzeln eigentlich – die geistigen Wurzeln, auf denen sozusagen Europa entstanden ist - . . .
Detjen: . . . das tut der Verfassungsentwurf ja, er nimmt bezug auf die kulturellen, religiösen, historischen Wurzeln . . .
Stoiber: . . . ja, aber das ist meines Erachtens ganz eindeutig zu wenig. Aber ich glaube, dass der Gottesbezug sehr wichtig ist, aber sehr schwer wohl durchsetzbar. Ich will aber auf einen anderen Punkt aufmerksam machen, der an Dramatik in den letzten Tagen eigentlich zugenommen hat. Wir müssen einfach feststellen, dass in diesem Verfassungsentwurf eine wesentliche Voraussetzung für die Wirtschafts- und Währungsunion verändert wird, nämlich die Währungsstabilität wird nicht mehr als Ziel in diesem Verfassungsentwurf angesehen. Und im Hinblick auf die Diskussion über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, im Hinblick auf das Brechen dieses Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch Deutschland und Frankreich muss ich jetzt ganz deutlich sagen: In diesem Verfassungsvertrag dürfen die Grundlagen von Maastricht nicht verändert werden.
Detjen: Aber geändert werden kann der Verfassungsentwurf nach dem Gipfel nicht mehr. Wäre das dann ein Grund, ihm auf nationaler Ebene die Zustimmung zu verweigern?
Stoiber: Ich glaube, das muss man sehr ernsthaft überlegen, denn wir alle, die wir für den Euro votiert haben, für diese richtige Entscheidung, wir haben gesagt: Der Euro wird eher stabiler als die D-Mark. Wir haben gesagt, dass das inflationsfreie Wachstum zur Grundlage gehört, dass wir Deutschen mit Fug und Recht sagen können, wir wechseln die D-Mark in den Euro. Wenn jetzt diese Grundlagen verändert werden, dann hat das gewaltige Auswirkungen. Ich erinnere daran, dass das Bundesverfassungsgericht damals, 1993, Klagen gegen den Euro abgelehnt hat mit der Begründung, dass die Stabilitätskriterien von Maastricht so fest sind, dass es praktisch einen Wechsel von D-Mark in Euro als gerechtfertigt und nicht als einen Verstoß gegen die Verfassung ansieht. Wenn jetzt der europäische Verfassungsgesetzgeber diese Währungsstabilität in der Verfassung nicht mehr als Ziel ansieht und zwar ganz bewusst es verändert, nur noch von Wachstum spricht, aber nicht mehr von inflationsfreiem Wachstum, dann ist das meines Erachtens eine für Deutschland substantielle Veränderung.
Detjen: Und dann würden Sie – Sie müssen ja dem Verfassungsvertrag in Deutschland zustimmen – die Zustimmung verweigern?
Stoiber: Ich will jetzt nicht mit den Konsequenzen schon drohen, die man möglicherweise zieht, wenn etwas nicht passiert. Denn ich hoffe immer noch, dass in den entscheidenden Beratungen jetzt das verändert wird. Das hat ja auch die deutsche Bundesbank Einwendungen erhoben, es hat die Europäische Zentralbank Einwendungen erhoben.
Detjen: Also die Verfassungsdiskussion bleibt uns erhalten. Ganz zum Schluss, Herr Stoiber, zwei Zitate und eine Frage. Zitat Nr. 1 stammt von Franz Josef Strauß und wurde von Ihnen übernommen: "Eher werde ich Ananas-Züchter, als Kanzlerambitionen zu hegen". Das Copyright für das zweite Zitat liegt allein bei Ihnen: "Eher werde ich Fußballtrainer beim FC Bayern als Bundeskanzler". Und die Frage zum Schluss lautet: Wie steht es denn mit Ihren Ambitionen, Bundespräsident zu werden?
Stoiber: Also, ich kenne diese Zitate, die ja nun auch in einer ganz bestimmten Situation gesagt worden sind. Ich habe mich natürlich dann der Verantwortung, Kanzlerkandidat der CDU/CSU zu sein, aus einer Reihe von Gründen nicht entziehen können und stehe auch zu dieser Entscheidung, die zweifelsohne eine Korrektur früherer Überlegungen war. Das Bundespräsidentenamt ist das höchste Amt in Deutschland. Aber es ist kein politisch gestaltendes Amt, sondern ein Amt, das den repräsentativen Charakter für Deutschland besitzt. Und ich bin leidenschaftlich gestaltender Politiker, vor allen Dingen auch leidenschaftlicher Vorsitzender der CSU, also Parteivorsitzender. Und beides verträgt sich nicht.
Detjen: Würde es Sie denn reizen, EU-Kommissionspräsident zu werden? Es kann ja sein, dass dieses Amt frei wird, also dass Prodi gegen Berlusconi antreten wird, und da kann man prächtig gestalten . . .
Stoiber: Und da glaube ich, werden Sie demnächst noch fragen, ob ich Heiliger Vater werden will . . .
Detjen: Nein, das ist nur von der verlockenden Vorstellung getragen, den Kommissionspräsidenten Stoiber und den EU-Außenminister Fischer vor uns zu sehen.
Stoiber: Ich bin bayerischer Ministerpräsident und bin mit Leidenschaft Parteivorsitzender der CSU. Und ich hoffe, das noch einige Zeit.
Detjen: Aus dem Dream-Team Stoiber/Fischer in Brüssel wird also nichts. Herr Stoiber, vielen Dank für dieses Interview.
Detjen: Sie sind ja involviert als Mitglied. Sie haben am Freitag die Föderalismuskommission, die sich damit beschäftigt, geleitet.
Stoiber: Ja, wir sind auf der Ebene der Ministerpräsidenten seit vielen, vielen Jahren immer wieder in dem Versuch stecken geblieben, eine wirklich neue Reform der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den Staatsaufbau zustande zu bringen. Wir haben eine zu starke Mischkompetenz – wir haben Mischfinanzierungen, wir haben Mischzuständigkeiten. Und um jetzt auf das Vermittlungsverfahren noch mal einzugehen, was Sie gerade angesprochen haben: Wir haben in der Zwischenzeit etwa 60 Prozent der Bundesgesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes sind 1949 davon ausgegangen, dass es etwa zehn Prozent sein sollten, und so hat sich das auch eingependelt. Der Grund liegt aber weniger bei den Ländern, sondern er liegt eindeutig bei den Bundesregierungen und bei den Bundestagen. Sie haben praktisch die sogenannte ‚konkurrierende Gesetzgebung’, die beinhaltet, dass eigentlich beide zuständig sind – die Bundesrepublik Deutschland kann es lösen, die Länder können es lösen. Wenn aber der Bundestag diese Materie gelöst hat, können es die Länder nicht mehr lösen. Das heißt also konkurrierende Gesetzgebung. Im Grunde genommen ist aber diese konkurrierende Gesetzgebung voll von der Bundesebene ausgeschöpft worden, so dass für die Landtage nichts mehr übrig geblieben ist.
Detjen: Aber die Länder, namentlich die Ministerpräsidenten, haben an diesem Prozess ja im Laufe einer fünfzigjährigen Verfassungsentwicklung aktiv mitgewirkt. Auch die Länder haben auf Kompetenzen verzichtet, haben sie abgegeben und haben sie sich bezahlen lassen, zum einen natürlich in Geld, aber eben zum anderen in Mitspracherechten der Ministerpräsidenten. Und heute muss man doch feststellen, faktisch: Sie, die Ministerpräsidenten, sind zu mächtig auf der Bühne des Bundes.
Stoiber: Nein, das würde ich nicht so sagen. Die Hauptursache, dass so viele Gesetze der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, liegt darin, dass der Bund zu detailliert die Verfahren und die Organisation, wie ein Gesetz durchgeführt werden soll, regelt. Denn im Zustimmungsartikel des Grundgesetzes, da steht einfach drin, dass die Länder für die Durchführung der Bundesgesetze zuständig sind. Und wenn der Bund eben das Verfahren regelt, wie sein Gesetz vollzogen werden soll, dann braucht er die Zustimmung der Bundesländer. Und dann gibt es dazu noch die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung, die gesagt hat: Und wenn nur ein ganz kleines Zustimmungserfordernis gegeben ist . . .
Detjen: . . . ist das ganze Gesetz infiziert, sozusagen . . .
Stoiber: . . . praktisch das ganze Gesetz durch den Bundesrat zugestimmt werden muss . . .
Detjen: . . . also auch das Bundesverfassungsgericht könnte hier korrigierend eingreifen, indem es seine eigene Rechtssprechung korrigiert.
Stoiber: Richtig, das Bundesverfassungsgericht hat also die Zustimmungserfordernis noch gewaltig ausgedehnt, und damit ist natürlich die Bedeutung, die Macht des Bundesrates und der Ministerpräsidenten gestiegen. Das müssen wir letzten Endes ändern. Aber ich sage ja auch ganz deutlich: Das Vermittlungsverfahren wird es immer geben müssen, denn wir haben ein Zwei-Kammern-System. Und wenn nun mal die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und im Bundesrat divergieren, dann gibt es natürlich häufiger Vermittlungsverfahren.
Detjen: Sie haben das Bundesverfassungsgericht angesprochen. Dessen Präsident Hans Jürgen Papier hat sich vielleicht da mit Bedacht jetzt im Vorfeld dieses Vermittlungsverfahrens, geäußert zur föderalen Ordnung. Papier hat einen radikalen Vorschlag gemacht. Er hat gesagt, im Grunde müsste man den Bundesrat ganz abschaffen und durch einen Senat nach amerikanischem Vorbild ersetzen.
Stoiber: Das ist eine interessante wissenschaftliche Diskussion. Aber die hat keinen realen politischen Hintergrund, will sagen: Keine Aussicht auf irgendeine Realisierung. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist nun mal ein föderaler Staat, wie es ihn in Europa in dieser Struktur nirgendwo gibt. Das heißt – das darf man nie vergessen . . .
Detjen: . . . Hat sich diese Tradition nicht verschoben? Das ist doch auch das, was der Präsident des Bundesverfassungsgerichts meint und was den Kern des Problems auch jetzt, im jetzigen Vermittlungsverfahren, das wir in diesen Tagen erleben, auszeichnet, dass eben der Bundesrat nicht mehr ein Organ ist, in dem es originär allein um Interessen der Länder gegen die des Bundes geht, sondern dass sich auch hier im Bundesrat zwei Lager gegenüber stehen – die werden A- und B-Lager genannt -, ein Regierungslager, ein Koalitionslager auf der Bundesebene und ein Oppositionslager, das völlig über die Ländergrenzen hinweg läuft.
Stoiber: Nein, da muss ich Ihnen widersprechen, denn es werden gerade jetzt in hohem Maße ja unterschiedliche Länderinteressen vertreten. Denken Sie jetzt mal an das Vorziehen der Steuerreform. Dieses Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform, was ja gegenwärtig jetzt im Vermittlungsausschuss liegt und jetzt entschieden werden muss, das kostet ja nicht nur den Bund Geld – das heißt, nicht nur der Bund hat damit knapp sieben Milliarden Steuerausfälle –, sondern auch die Länder haben in ähnlicher Größenordnung Steuerausfälle. Und nun ist das natürlich klar, die Länder haben unterschiedliche Schuldenstände. Bayern könnte theoretisch eine höhere Schuldenlast verkraften als zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, die viel mehr verschuldet sind als Bayern oder – nehmen Sie andere Länder, ich will das jetzt nicht gegenseitig ausspielen . . .
Detjen: . . . das wäre ja jetzt auch wieder die Opposition – A-Länder – B-Länder, Bayern – Nordrhein-Westfalen, SPD- – Unionsländer . . .
Stoiber: Nein, nein, das hat mit A und B nichts zu tun, sondern wenn zum Beispiel ein Land wie Niedersachsen, der Kollege Wulff, wenn der seinen Haushalt ansieht und beklagt, was er eigentlich an Erbe von Schröder als Ministerpräsident von Niedersachsen oder von Gabriel übernommen hat, einen total überschuldeten Haushalt, und er sagt: ‚Ich kann keinen Euro Schulden schultern in meinem Landeshaushalt für diese vorgezogene Steuerreform’, wie das Bayern theoretisch könnte, weil Bayern weniger Schulden hat, dann fließen hier natürlich in eine solche Entscheidung gerade die Länderinteressen ein. Und wer sollte sie eigentlich besser vertreten als der gewählte Ministerpräsident? Das heißt also, gerade das Beispiel, das Sie nennen, spricht gerade nicht für eine Senatslösung.
Detjen: Also darf ich aber aus dem, was Sie jetzt gesagt haben, doch schließen, dass es durchaus vorstellbar ist, dass am Ende dieses Vermittlungsverfahrens Bayern auch anders abstimmt als andere unionsregierte Länder? Sie haben ja damit Schlagzeilen gemacht in der hinter uns liegenden Woche, und das wurde sofort dementiert . . .
Stoiber: . . . nein, ich habe keine Schlagzeilen gemacht, sondern es sind völlig falsche Schlagzeilen fabriziert worden . . .
Detjen: . . . es wurde berichtet, um das noch mal zu rekapitulieren . . .
Stoiber: . . . nein, nein, nein, die Schlagzeile ist . . .
Detjen: . . . dass Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen dafür stimmen könnten.
Stoiber: Die Schlagzeile ist falsch gewesen. Ich weiß nicht, woher die Kollegen ihre Informationen hatten, nur sie beruhten nicht auf Wahrheit, denn es gibt keine Entscheidung Bayerns, abzuweichen von dem, was die Unions-Ministerpräsidenten verabredet haben. Und wir haben eine ganz klare Verabredung, dass wir sagen: Wir haben alle unsere Schwierigkeiten in den Haushalten, aber wir wollen dieses Vorziehen der Steuerreform ermöglichen, allerdings unter ganz konkreten Voraussetzungen, dass allenfalls 25 Prozent der Steuerausfälle durch neue Schulden auf Länderebene kompensiert werden. Der Rest muss durch anderweitige Einsparungen von der Bundesregierung übernommen werden. Und an der Position hat sich nie etwas verändert.
Detjen: Aber wenn ich noch mal aufnehme, was Sie vorhin gesagt haben, wäre es dann ein Drama, wenn die Parteilager – das muss ja nicht nur für die Union gelten, das kann auch für die SPD-regierten Länder gelten –, wenn die am Ende nicht entlang der Parteizugehörigkeiten entscheiden?
Stoiber: Ja gut, zunächst gibt es ja eine allgemeine Einschätzung, welche Bedeutung hat für Deutschland, welche Bedeutung hat für die Bevölkerung in Deutschland, in der jetzigen wirtschaftlichen Situation: Das Vorziehen einer Steuerreform – was letztlich bedeutet, dass die Menschen wesentlich weniger Steuern zahlen im Jahre 2004, als sie nach der jetzigen Gesetzeslage zahlen müssen. Und da gibt es natürlich jetzt eine grundsätzliche Einschätzung, dass davon sicherlich ein positives Reformsignal ausgehen würde. Dieses Vorziehen der Steuerreform hat sich ja fast schon von seiner wirklichen volkswirtschaftlichen Bedeutung gelöst, weil es als eine Art Synonym für die Entscheidungsfähigkeit der Politik und Reformfreudigkeit der Politik angesehen wird. Und deswegen bin ich ja auch der Meinung, dass es notwendig ist, dass wir in diesen entscheidenden Fragen auch zu einer Übereinkunft mit der Bundesregierung kommen. Das bedeutet . . .
Detjen: . . . die dann ein Vorziehen ermöglicht . . .
Stoiber: . . . die dann ein Vorziehen ermöglicht. Das bedeutet aber, dass die Bundesregierung sich hier bewegen muss und eine andere Finanzierung – eine andere Kompensation – vorschlagen muss als das, was sie bisher vorgeschlagen hat. Wir haben seit dem Sommer immer wieder gesagt: Mit Schulden sind wir nicht bereit, das Vorziehen der Steuerreform zu finanzieren. Das weiß die Bundesregierung seit August, und deswegen habe ich das sehr bedauert, dass auf unsere Vorstellungen, auf unsere Kritik, auf unsere Einwendungen – mit ‚uns’ meine ich jetzt die Länder – keinerlei Signal gekommen ist bis jetzt vor ein paar Tagen, als der Bundeskanzler gesagt hat, er könne sich auch eine andere Finanzierung vorstellen, als das, was vorgeschlagen worden ist.
Detjen: Aber es bleibt damit – etwa dem sächsischen Ministerpräsident Milbradt – die Freiheit, nach dem, was Sie vorhin gesagt haben, sich am Ende anders zu entscheiden, um zu sagen: Ich kann es mir nicht leisten, ich werde dagegen stimmen.
Stoiber: Ja, selbstverständlich bleibt jedem Ministerpräsidenten diese Freiheit, aber das ist dann eine Frage, die sicherlich auch mit den Freunden und den Kollegen der CDU/CSU immer erörtert wird. Am Ende bleibt dann immer für jeden Ministerpräsidenten die Verantwortung, ja oder nein zu sagen. Er ist niemandem verpflichtet außer seinem Land und seinem Parlament.
Detjen: Herr Stoiber, wir haben am Anfang über Entscheidungsverfahren gesprochen. Wenn am Ende dieses Vermittlungsverfahrens der Knoten sozusagen nur noch in einem Gipfeltreffen des Bundeskanzlers mit den Parteivorsitzenden der Union durchschlagen werden kann, wäre das nicht ein weiterer Beleg dafür, dass die von der Verfassung vorgesehenen parlamentarischen Entscheidungsverfahren versagt haben?
Stoiber: Nein, das kann man so nicht sagen. Das gibt es immer wieder. Bei ganz, ganz schwierigen Situationen muss es in einer Demokratie auch als möglich angesehen werden, dass dann die Parteivorsitzenden versuchen, mit ihrer Koordinierungsautorität, wenn ich das mal so sagen darf, oder mit ihrer Autorität dann den Knoten, der sich verhakt hat, zu durchschlagen. Das ist ja keine alltägliche Entscheidungsform in der Demokratie, aber es ist eine. Und wenn es nicht anders geht, dann muss das ausnahmsweise auch mal angestrebt werden, um dann bei dem einen oder anderen Punkt letzten Endes den Haken zu lösen.
Detjen: Lassen Sie uns den Blick noch mal über die Tagesordnung des jetzigen Vermittlungsverfahrens hinaus werfen. Der Reformbedarf ist ja mit dem, was jetzt auf dem Tisch liegt in Deutschland, noch nicht gestillt, das ist noch nicht alles. Was muss als nächstes geschehen?
Stoiber: Das, was jetzt vorliegt, also große Teile davon, sind ja Reformen unserer Sozialsicherungssysteme, unseres Arbeitsmarktes. Die sind notwendig, aber damit haben wir noch nicht die Grundlagen gelegt für das Wachstum der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Das Wachstum der nächsten Jahre liegt ja in der modernen Technologie. Wir brauchen in unserem Land eine positivere Einschätzung der guten Wirkungen von technologischen Entwicklungen und Erfindungen. Wir haben leider in Deutschland immer noch eine sehr kritische Einstellung zu der Biotechnologie, der Gentechnologie, der Medizintechnologie. Wir haben zu wenig Begeisterung für technologische Entwicklungen wie die Materialwissenschaften oder die Materialtechnik. Das sind aber alles Bereiche, die das Wachstum von heute schon und in besonderem Maße von morgen und von übermorgen eigentlich erzeugen. Und das bedeutet, dass wir natürlich einen anderen Stellenwert der Forschung und Entwicklung insgesamt einräumen müssen. Und deswegen müssen wir sicherlich auch unsere Haushalte etwas neu aufstellen. Denn wenn wir heute in unseren Haushalten 60 Prozent für sogenannte konstruktive Leistungen ausgeben, das heißt also für Sozialleistung im weiteren Sinne, und nur noch zehn Prozent für Forschung und Entwicklung und für Bildung, dann ist das einfach zu wenig. Hier haben sich die Gewichte im Laufe der letzten 30 Jahre zu Gunsten der Sozialleistungen verschoben.
Detjen: Trotzdem stehen Sie ja hier in Bayern auch als Ministerpräsident landespolitisch in der Verantwortung. Als ich vorhin in die Staatskanzlei kam, standen draußen Tausende von Studenten und haben gegen Kürzungen hier im Bildungsbereich demonstriert. Wie nehmen Sie das eigentlich hier als Ministerpräsident des Landes wahr? Das sind ja Härten, die Sie den Leuten da zumuten. Nehmen Sie das mit dem kühlen Verstand wahr, oder geht Ihnen das auch zu Herzen?
Stoiber: Jede Demonstration ist ja doch nicht etwas, was man so abhakt, sondern man prüft immer wieder: Ist das, was man will, immer so richtig? Nur, Sie müssen sich irgendwann mal generell entscheiden: Wollen Sie Probleme, die wir heute haben, mit Schulden lösen, oder wollen Sie mit dem auskommen, was wir gegenwärtig einnehmen? Wir haben uns eine Mentalität angeeignet, die bedeutet, öffentliche Schulden sind nicht so schlimm. Wenn ich etwas haben will, dann muss ich das auch finanzieren können. Wenn ich das Geld nicht habe, dann gehe ich zur Bank und hole mir Geld. Und so haben wir eine Situation, dass Deutschland heute ein ungeheuer überschuldeter Staat ist.
Detjen: Das ist dann natürlich auch noch einmal das stärkste Argument gegen ein Vorziehen der Steuerreform.
Stoiber: Ja, das wird ja auch von vielen eingewendet. Ich sage das aber jetzt an die Adresse der Studentinnen und Studenten, die Sie gerade hier zitieren oder mir entgegen halten. Die Schulden, die wir heute haben, muss die Generation, die Sie gerade genannt haben, morgen und übermorgen abtragen. Und deswegen müssen wir eine generelle Mentalitätsveränderung bekommen, dass wir unsere Haushalte sanieren, dass wir mittel- und langfristig von dieser Schuldenpolitik wegkommen. Und das geht natürlich nicht ohne Schmerzen. Sparen ist ja a priori etwas Gutes, das bedeutet ja auch, dass wir unsere Strukturen überprüfen. Und mir macht keiner vor, dass man nicht auch Effizienzreserven an den Hochschulen hat oder an den Schulen hat oder an den öffentlichen Einrichtungen hat.
Detjen: Herr Stoiber, wir haben bis jetzt darüber gesprochen, in welcher Verfassung sich Deutschland befindet. Zugleich – das macht ja schon fast die historische Dimension dieser Tage aus – steht in Brüssel eine neue, eine erste europäische Verfassung zur Entscheidung. Es hat auch von Ihrer Seite immer wieder Kritik am Entwurf dieser Verfassung gegeben. Wäre es aus Ihrer Sicht eigentlich schlimm, wäre es bedauerlich, wenn der Gipfel jetzt zu keinem Ergebnis kommt und zumindest Kernentscheidungen aufgeschoben werden?
Stoiber: Also, ich hoffe, dass der Gipfel noch die Problemfälle löst. Auf der anderen Seite wäre eine Verfassung, die Fehler hat, natürlich schlecht. Und deswegen wäre es natürlich kein Beinbruch, wenn man sagt: Okay, wir haben noch einige Fragen, die nicht geklärt sind. Also, es gibt natürlich einige Fragen, die geklärt sein müssen, zum Beispiel die Mehrheitsverhältnisse. Wir werden zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommen müssen, wenn Europa mit 25 oder morgen 27 handlungsfähig sein will. Und jetzt kommt es natürlich darauf an, wie die Mehrheiten ausschauen sollen. Da glaube ich, diese doppelte Mehrheit, dass also zunächst die Mehrheit der Staaten vorhanden sein muss, und dann allerdings auch die Bevölkerungsstaaten die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert, also 60 Prozent, das halte ich für eine Position, die man eigentlich nicht gerechterweise in Frage stellen soll. Die muss mehr oder weniger so kommen, da gibt es nichts.
Detjen: Da gibt es ja auch eine Übereinstimmung zwischen der Opposition in Deutschland und der Bundesregierung, da sind die sich einig. Lassen Sie mich noch zum Schluss einen Punkt ansprechen. Die Union hat jetzt ganz am Ende in der zurückliegenden Woche noch mal einen Punkt in den Vordergrund gestellt, nämlich den Gottesbezug in der europäischen Verfassung. Ist das angesichts der großen Probleme, die jetzt in Brüssel anstehen, nicht ein Nebengleis?
Stoiber: Nein, das ist es nicht, denn wir müssen uns ja schon auf die Wurzeln eigentlich – die geistigen Wurzeln, auf denen sozusagen Europa entstanden ist - . . .
Detjen: . . . das tut der Verfassungsentwurf ja, er nimmt bezug auf die kulturellen, religiösen, historischen Wurzeln . . .
Stoiber: . . . ja, aber das ist meines Erachtens ganz eindeutig zu wenig. Aber ich glaube, dass der Gottesbezug sehr wichtig ist, aber sehr schwer wohl durchsetzbar. Ich will aber auf einen anderen Punkt aufmerksam machen, der an Dramatik in den letzten Tagen eigentlich zugenommen hat. Wir müssen einfach feststellen, dass in diesem Verfassungsentwurf eine wesentliche Voraussetzung für die Wirtschafts- und Währungsunion verändert wird, nämlich die Währungsstabilität wird nicht mehr als Ziel in diesem Verfassungsentwurf angesehen. Und im Hinblick auf die Diskussion über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, im Hinblick auf das Brechen dieses Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch Deutschland und Frankreich muss ich jetzt ganz deutlich sagen: In diesem Verfassungsvertrag dürfen die Grundlagen von Maastricht nicht verändert werden.
Detjen: Aber geändert werden kann der Verfassungsentwurf nach dem Gipfel nicht mehr. Wäre das dann ein Grund, ihm auf nationaler Ebene die Zustimmung zu verweigern?
Stoiber: Ich glaube, das muss man sehr ernsthaft überlegen, denn wir alle, die wir für den Euro votiert haben, für diese richtige Entscheidung, wir haben gesagt: Der Euro wird eher stabiler als die D-Mark. Wir haben gesagt, dass das inflationsfreie Wachstum zur Grundlage gehört, dass wir Deutschen mit Fug und Recht sagen können, wir wechseln die D-Mark in den Euro. Wenn jetzt diese Grundlagen verändert werden, dann hat das gewaltige Auswirkungen. Ich erinnere daran, dass das Bundesverfassungsgericht damals, 1993, Klagen gegen den Euro abgelehnt hat mit der Begründung, dass die Stabilitätskriterien von Maastricht so fest sind, dass es praktisch einen Wechsel von D-Mark in Euro als gerechtfertigt und nicht als einen Verstoß gegen die Verfassung ansieht. Wenn jetzt der europäische Verfassungsgesetzgeber diese Währungsstabilität in der Verfassung nicht mehr als Ziel ansieht und zwar ganz bewusst es verändert, nur noch von Wachstum spricht, aber nicht mehr von inflationsfreiem Wachstum, dann ist das meines Erachtens eine für Deutschland substantielle Veränderung.
Detjen: Und dann würden Sie – Sie müssen ja dem Verfassungsvertrag in Deutschland zustimmen – die Zustimmung verweigern?
Stoiber: Ich will jetzt nicht mit den Konsequenzen schon drohen, die man möglicherweise zieht, wenn etwas nicht passiert. Denn ich hoffe immer noch, dass in den entscheidenden Beratungen jetzt das verändert wird. Das hat ja auch die deutsche Bundesbank Einwendungen erhoben, es hat die Europäische Zentralbank Einwendungen erhoben.
Detjen: Also die Verfassungsdiskussion bleibt uns erhalten. Ganz zum Schluss, Herr Stoiber, zwei Zitate und eine Frage. Zitat Nr. 1 stammt von Franz Josef Strauß und wurde von Ihnen übernommen: "Eher werde ich Ananas-Züchter, als Kanzlerambitionen zu hegen". Das Copyright für das zweite Zitat liegt allein bei Ihnen: "Eher werde ich Fußballtrainer beim FC Bayern als Bundeskanzler". Und die Frage zum Schluss lautet: Wie steht es denn mit Ihren Ambitionen, Bundespräsident zu werden?
Stoiber: Also, ich kenne diese Zitate, die ja nun auch in einer ganz bestimmten Situation gesagt worden sind. Ich habe mich natürlich dann der Verantwortung, Kanzlerkandidat der CDU/CSU zu sein, aus einer Reihe von Gründen nicht entziehen können und stehe auch zu dieser Entscheidung, die zweifelsohne eine Korrektur früherer Überlegungen war. Das Bundespräsidentenamt ist das höchste Amt in Deutschland. Aber es ist kein politisch gestaltendes Amt, sondern ein Amt, das den repräsentativen Charakter für Deutschland besitzt. Und ich bin leidenschaftlich gestaltender Politiker, vor allen Dingen auch leidenschaftlicher Vorsitzender der CSU, also Parteivorsitzender. Und beides verträgt sich nicht.
Detjen: Würde es Sie denn reizen, EU-Kommissionspräsident zu werden? Es kann ja sein, dass dieses Amt frei wird, also dass Prodi gegen Berlusconi antreten wird, und da kann man prächtig gestalten . . .
Stoiber: Und da glaube ich, werden Sie demnächst noch fragen, ob ich Heiliger Vater werden will . . .
Detjen: Nein, das ist nur von der verlockenden Vorstellung getragen, den Kommissionspräsidenten Stoiber und den EU-Außenminister Fischer vor uns zu sehen.
Stoiber: Ich bin bayerischer Ministerpräsident und bin mit Leidenschaft Parteivorsitzender der CSU. Und ich hoffe, das noch einige Zeit.
Detjen: Aus dem Dream-Team Stoiber/Fischer in Brüssel wird also nichts. Herr Stoiber, vielen Dank für dieses Interview.