Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Streik vor dem Brexit
Alle Räder stehen still, wenn der Zöllner arbeiten will

Kommt es zum Brexit, werden in Calais plötzlich viele Zöllner gebraucht - und neue Abfertigungsgebäude. Doch es passiert zu wenig, meinen Gewerkschafter und haben mit einer ungewöhnlichen Aktion auf mögliche Folgen aufmerksam gemacht.

Von Andreas Noll | 19.03.2019
Lkw-Stau vor dem Kanaltunnel von Frankreich nach Großbritannien
Lkw-Stau vor dem Kanaltunnel (Deutschlandradio / Andreas Noll)
Im Kampf mit den Mächtigen ziehen sie häufig den Kürzeren, aber an diesem Nachmittag könnte die Stimmung bei den vier Gewerkschaftsführern kaum besser sein. Zu einem Briefing haben sich die Männer im historischen Rathaus von Calais versammelt. Doch erst einmal muss das Tagesresümee warten. Pausenlos klingeln die Handys:
"Le Monde", der Nachrichtensender BFM TV oder auch die Regionalpresse: Die Medien wollen wissen, was da eigentlich los ist im Norden Frankreichs.
"Wir sind mitten in einer sozialen Auseinandersetzung. Wir zeigen der Politik sehr deutlich, dass es großen Stau auf der Straße gibt, wenn wir die Vorschriften zur Zollkontrolle hier penibel einhalten."
Der Gegenteil-Streik
David-Olivier Caron ist der Chef der Zollsparte der gemäßigten CFDT-Gewerkschaft. Statt die Arbeit wie bei einem Streik niederzulegen, machen die Zöllner das Gegenteil: Sie kontrollieren. Jeden Lastwagen, der Calais und Dünkirchen verlassen will. "Verstärkte Kontrollen" haben sie ihre Maßnahme genannt, über die die Medien landesweit berichten.
Die verstärkten Kontrollen haben spürbare Folgen. Kilometerlang staut sich der Lastwagenverkehr vor den Häfen und vor der Einfahrt zum Kanaltunnel. Einige Autobahnausfahrten muss die Polizei zeitweise ganz sperren. Ganz nach dem Geschmack von Gewerkschaftsführer Caron:
"Wenn es zum Brexit kommt, müssen noch mehr Vorschriften eingehalten werden. Und wenn man uns nicht die Mittel dafür gibt, dann gibt es eben Stau. Das ist die Botschaft, die auch der Minister hören soll, damit er endlich Verhandlungen mit uns führt."
Brexit wertet Zöllner auf
Die Kollegen der anderen Gewerkschaften am Tisch nicken. Denn eigentlich laufe derzeit gar nichts.
"Die Vorbereitungen für den Brexit sind hier an der Grenze völlig unzureichend. Und die Wut der Zöllner ist sehr groß, weil diese fehlenden Vorbereitungen noch zu den Problemen hinzukommen, die ohnehin schon existieren. Wir verlangen schon lange Ausgleich für die immer härter werdende Arbeit und die Gefahren, die gestiegen sind."
CFDT-Chef Caron (ganz links) und Eimann (2.v.r.) mit Kollegen
CFDT-Chef Caron (ganz links) und Eimann (2.v.r.) mit Kollegen (Deutschlandradio / Andreas Noll)
CFDT-Frontmann Caron ist der Wortführer in der Vierergruppe. Die 700 von der Regierung zugesagten neuen Zoll-Beschäftigten für ganz Frankreich sind aus seiner Sicht völlig unzureichend:
"Der Zoll hat in mehr als zehn Jahren rund 6.000 Stellen abbauen müssen. Jetzt fängt man wieder an, Arbeitsplätze zu schaffen, aber nicht genug für die Aufgaben, die auf uns zukommen."
Dieser Beitrag gehört zur Reportagereihe "Lost in Brexit – Französisch-britische Trennungsgeschichten" in der Sendung "Gesichter Europas".
Der Binnenmarkt und der Wegfall der Grenzkontrollen haben den Beruf des Zöllners aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt. Doch Zöllner, das vermittelt die Runde, sind stolz auf ihren Job, der durch den Brexit auch noch aufgewertet wird:
"Es gibt dann eine Grenze zu einem sogenannten Drittstaat. Das ist natürlich einer der schönsten Spielplätze für einen Zöllner. Dieser Job wird interessant sein, doch wir werden diese Arbeit unter materiell und menschlich widrigen Umständen verrichten müssen. Aber die Grenze zu einem Drittstaat, das ist der Ort, wo der Zöllner am meisten Macht hat und wo er sich austoben kann."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Gewerkschafter: "Die Wut wächst schon lange"
Doch von Spaß ist bei der Besprechung nicht die Rede. Vielmehr von fehlender Anerkennung durch die Politik. Etwas mehr als den Mindestlohn bekommt ein Berufsanfänger beim Zoll – und auch nach vielen Jahren Dienst sind es kaum mehr als 2.000 Euro. Die Klagen der Kollegen in Calais gebe es seit Jahren, sagt der Chef der regionalen CFDT-Zweigstelle Laurent Eimann.
"Die Wut wächst schon lange. Die Leute haben die Schnauze voll. Das ist die Stimmung hier. Die Beschäftigten haben nicht den Eindruck, gehört zu werden. Der Brexit ist nun der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat."
Der heute 50-jährige Eimann hat 1993 beim Zoll angefangen. In einer Zeit, als die Grenzkontrollen in Europa abgebaut wurden. Jetzt also die Rolle rückwärts – deren Folgen die Gewerkschaftsfunktionäre vor Ort demonstrieren möchte.
Gruppenfoto ohne Präsident
Bevor er aber mit seinem Kollegen Richtung Grenze fährt, machen die Funktionäre noch ein Gruppenfoto. Aber nicht vor dem Foto des Staatspräsidenten an der Wand, ruft einer aus der Runde: "Nicht vor dem Präsidenten".
Macrons zuständiger Minister hatte erst vor wenigen Tagen die Region besucht. Man sei für den Brexit bestens gerüstet, sagte damals Budgetminister Gérald Darmanin.
Vor dem Rathaus pfeift der Wind kräftig. Stürmische Zeiten in Calais. "Bitte ruhig sein!" Bevor Eimann sein Auto startet, bittet er noch um Ruhe. Sein Kollege von der CGT gibt auf dem Rücksitz das nächste Telefoninterview.
Dann aber geht es los.
Zoll-Abfertigungsgebäude ist noch lange nicht fertig
Vom Rathaus fährt Eimann in Richtung Fährhafen. Dann taucht auf der linken Seite eine endlos scheinende Lastwagenschlage am Horizont auf. Die Lkw warten auf die Abfertigung für den Tunnel. Die Gewerkschafter freuen sich. Die verstärkten Kontrollen haben ihr Ziel erreicht:
"Da sehen Sie alle Lastwagen, die darauf warten für den Tunnel abgefertigt zu werden."
Kurz vor dem Tunnel-Gelände deutet Eimann auf eine grüne Wiese. Auf einem Bauplatz von der Größe von zwei Fußballfeldern stehen Maschinen, Bauarbeiter laufen hin und her. An einem Kreisverkehr stellt der Gewerkschafter das Auto ab.
Baustelle für neue Zollgebäude vor dem Kanaltunnel von Frankreich nach Großbritannien. Anfang März ist nichts außer Fundamenten sichtbar.
Baustelle für neue Zollgebäude: Anfang März ist nichts außer Fundamenten sichtbar. (Deutschlandradio / Andreas Noll)
"Da sollen später unsere Zollabfertigungsgebäude für den Kanaltunnel stehen. Für den Moment sieht man Presslufthämmer. Und die Bodenplatte ist fertig. Aber mehr nicht."
"Und das alles soll Ende des Monats fertig sein?"
Bis Ende März sollte eigentlich alles fertig sein. Die Zöllner müssten nur noch gucken, wo Steckdose und Kaffeemaschine seien, tönte gerade erst der Eurotunnel-Chef.
"Im Moment sehe ich viele Baustellenfahrzeuge, Kräne. Viele Arbeiter. Man sieht vor allem Erdhaufen. Außer den Baubüros von den Arbeitern sieht man keine Gebäude. Und das alles soll Ende des Monats fertig sein?"