Ghulam Butt schaut auf den Dal-See und die Lotus-Blätter, die obenauf schwimmen. Im Hintergrund schnee-bedeckte Berge des Himalaja. Ghulam Butt ist Besitzer von 4 Hausbooten in Srinagar, der Sommerhauptstadt im Kaschmir-Tal. Zwanzig Meter messen seine Boote aus Zedern-Holz. Schlaf- und Wohnzimmer mit Kronleuchter im Inneren, der Holzofen ermöglicht eine warme Dusche. Früher hatten wir 9 Boote, sagt er, als noch Touristen kamen.
Das ist das zweite Hausboot, das mein Vater gebaut hat. George Harrison, einer der berühmten Beatles, hat hier 1966 übernachtet, viele Botschafter der USA und andere ehrwürdige Gäste. Das Boot da hinten, das ist außer Betrieb. Das funktioniert nicht mehr.
Wer in diesen Tagen auf Hausbooten übernachtet, ist vermutlich ein Journalist. Die meisten Hotels in Srinagar haben längst indische Streitkräfte in Beschlag genommen. 500-Tausend Soldaten, so wird geschätzt, sind in Kaschmir stationiert. Armee, Grenz-Truppen, Spezial-Einheiten. Eine halbe Million Gewehr-Läufe mit einem Auftrag: Extremisten auszumerzen, die für die Loslösung Kaschmirs von Indien kämpfen.
Kaschmir gehört zu Indien, soviel steht fest.
Gulpreet Singh Gill, Befehlshaber der Border Security Force in Srinagar, Grenz-Truppen die längst auch im Inneren Kaschmirs operieren. Gill verweist auf das Jahr 1947. Als die Briten damals abzogen, wollten der hinduistische Maharadscha Kaschmirs, Hari Singh, und die überwiegend moslemische Bevölkerung unabhängig bleiben. Doch als ein paar marodierende pakistanische Banden in den Fürstenstaat einfielen, rief Singh die indische Armee zur Hilfe. Kaschmir ging einen Pakt mit Indien ein, die UNO vermittelte eine Waffenstillstandslinie zwischen Indien und Pakistan und die Bevölkerung Kaschmirs erhielt das Versprechen einer Volksabstimmung über seine politische Zukunft. Bis heute hat keine der beteiligten Seiten dieses Versprechen eingelöst.
Umfrage: Wir wollen endlich, dass Inder, Pakistanis und Kaschmiris sich an einen Tisch setzen und über unsere Unabhängigkeit abstimmen, wie es in der UN-Resolution von 1947 steht.
Viele Menschen in den Straßen von Srinagar sprechen so wie dieser Mann. Allein: die strategischen Interessen Neu Delhis und Islamabads sind andere. Im Gegensatz zu Indien versteht sich Pakistan als Heimat aller Muslime des Subkontinents. Es beansprucht Kaschmir mit seiner muslimischen Mehrheit als natürlichen Erbteil.
Freitagsgebet in der Jama Masjid, der großen Moschee von Srinagar. Die Predigt - ein erster Teil religiös, ein zweiter Teil politisch - ist ein Ventil für angestauten Unmut. "Nieder mit dem Staats-Terrorismus - Freiheit für Kaschmir", skandieren die Gläubigen. Vor der Moschee wird gestritten, ob Unabhängigkeit das Ziel ist oder die Zukunft im Verbund mit Pakistan liegt:
O-Ton Menge vor Moschee
We want freedom.... Pakistan, Pakistan!
Eines wird spätestens hier klar: Indien das Vertrauen der Muslime im Kaschmir-Tal verloren. 1986 manipulierte Neu Delhi mit Hilfe der Kongresspartei von Rajiv Ghandi Wahlen in Kaschmir. Vier der verhinderten Abgeordneten gingen in den Untergrund, führten das Gewehr als Mittel der Politik ein. Seitdem kommt das 'Tal der Glücklichen' nicht zur Ruhe. Täglich kommen 10 bis 15 Zivilisten und Soldaten zu Tode, 30-Tausend sind es seit 1989, offiziell geschätzt, die Rebellen sprechen von 80-Tausend Opfern.
Die Rebellen rekrutieren sich zu einem guten Teil aus Pakistan. Islamabad, so sagen nicht nur indische Beobachter, fördert ihre Aktivitäten mit Geld, Waffen und Hilfe des pakistanischen Geheimdienstes. Seit Anfang der 90er Jahre werden so genannte "Jehadi" auf der anderen Seite der Grenze, im pakistanischen Teil von Kaschmir, ausgebildet, bewaffnet und über die Berge, an den indischen Posten vorbei eingeschleust.
In Traal, 40 Kilometer südlich von Srinagar erschossen Extremisten vor wenigen Tagen zwei indische Sicherheitskräfte aus dem Hinterhalt. Es kam zur Vergeltung, erinnert sich ein Augenzeuge:
Händler stürzten aus ihren Geschäften. Dann haben die Soldaten Benzin vergossen und alle Geschäfte hier in Brand gesteckt. In einem war ein 11-jähriger Junge, er kam nicht mehr raus, verbrannte in den Flammen.
Die Mutter des Jungen trägt auch am neunten Tag nach dem Tod ihres Sohnes noch Trauer:
Ich hatte Said geschickt, um Medikamente für mich zu holen, aber er ist nie zurückgekommen. Er kam in die 6.Klasse, war fleißig und intelligent.
Die indischen Sicherheitskräfte in Kaschmir werden mittlerweile als Besatzer empfunden. Ein Ladenbesitzer:
Die indische Armee verhält sich nicht ordnungsgemäß. Sie vergewaltigen, schlagen Leute mit dem Gewehr, nur weil sie die Macht haben.
Auf dem Lal Chowk, dem zentralen Platz von Srinagar, demonstriert ein Dutzend Frauen mit Kopftüchern gegen die Festnahme eines Ladenbesitzers. Die Frauen bedrängen drei, vier Soldaten mit Gewehren, die versuchen, zu beruhigen. Eine Frau fällt in Ohnmacht.
Der festgenommene Ladenbesitzer soll eine Handgranate bei sich gehabt haben. Explodiert ist sie nicht. Aber der Mann wurde abtransportiert. Einige Ladenbesitzer haben aus Protest gegen diese Festnahme ihr Geschäft geschlossen. Sie waren Augenzeugen. Andere Menschen verschwinden in Kaschmir, ohne dass es Zeugen gibt: Fünf- bis Sechstausend. Von ihnen fehlt jede Spur. Männer zwischen 17 und 34 Jahren:
Indische Spezial-Kräfte suchen sie meist gegen Mitternacht in ihren Häusern auf. Sie nehmen fest, wer ihnen verdächtig vorkommt. Manchmal reicht es, einen Bart zu tragen. Sie werden verhört, der ein oder andere mag Kontakte haben, aber die meisten, bin ich sicher, sind unschuldig. Trotzdem werden viele von ihnen getötet oder zu Tode gefoltert, ihre Körper findet man später im Wald oder in Flussläufen wieder.
Pervez Imroz leitet eine Vereinigung, die sich um das Schicksal der Verschwundenen kümmert und um die Hinterbliebenen. Regelmäßig gibt er Informationen an Amnesty International weiter:
Die indische Armee geht mit klassischen Foltermethoden vor: Elektrische Schocks, Menschen werden über Öfen gelegt, bei lebendigem Leib, Schläge mit Eisenstangen, oder zum Verhör gehängt, die Füße in der Schlaufe, den Kopf nach unten.
Die politischen Führer in Kaschmir sprechen vor diesem Hintergrund von "Staats-Terrorismus". Abdul Ghani-Bhat ist Chef der Hurriyat-Conference, eines Bündnisses aus über 20 Gruppen, von denen einige die Unabhängigkeit, andere den Anschluss an Pakistan wollen:
Ich war Professor für persische Sprachen und Literatur. 23 Jahre lang habe ich Jungen und Mädchen unterrichtet. In meinem Verständnis gehörte dazu auch, über den politischen Konflikt in Kaschmir zu reden, als Bedrohung für den Frieden auf dem indischen Subkontinent. Das führte, so vermute ich, zu meiner Abberufung 1986.
Bhat ging in die Politik, agitierte gegen die Präsenz indischer Truppen, wurde mehrfach verhaftet.
Die indische Regierung kam mit Gewalt über uns alle nieder. Wir, die etwas Älteren, wurden hinter Gitterstangen geschlossen, lange Monate im Gefängnis vor uns hinsiechend. Sehen sie, in Kaschmir ist vieles anders. Jedes Kind hier wird geboren mit einem Gefühl nach Freiheit, nach Würde und Ehre. Jedes Kind in Kaschmir kommt mit Politik zur Welt.
Inzwischen wächst in Kaschmir eine Generation heran, die in einem Klima von Angst und Gewalt groß wird. Die Biscoe-Schule ist eine christliche Lehr-Anstalt, 9 von 10 Schülern aber Muslime. Das Morgengebet wird aus der Bibel gelesen, am Nachmittag blättern die Schüler im Koran. Einer sagt:
Wir wissen nicht, ob wir morgens heil in die Schule und abends sicher nach Hause zurückkommen. Es kann immer etwas passieren.
Gulpreet Gill, der Befehlshaber der Grenz-Truppen in Srinagar, sieht sich dagegen als Garanten der Sicherheit in Srinagar. Seine Soldaten seien in der Stadt beliebt, ihn hätten in diesem Jahr lediglich zwei bis drei Beschwerden wegen willkürlicher Gewalt-Anwendung erreicht. Im übrigen gelte es einen Feind zu bekämpfen:
Ich habe letztes Jahr 29 meiner Männer verloren, dieses Jahr sind es 36. 128 Extremisten haben wir dieses Jahr getötet. Der Terror, den wir bekämpfen ist importiert aus Pakistan.
Zwei der bekanntesten Gruppen, die in Kaschmir operieren sind Lashkar-i-Taiba, zu deutsch "Die heilige Armee" und Jaish-e-Mohammed, übersetzt "Mohammeds Heer". Sie rekrutieren ihre Mitglieder in Koranschulen. Der Jaish-Organisation werden Verbindungen mit dem El-Kaida-Netzwerk von Osama Bin Laden nachgesagt. Lashkar-i-Taiba ist stolz auf seine pakistanischen Wurzeln und hat so genannte "fidayeen", junge Selbstmord-Attentäter, hervorgebracht. Beide Gruppen kämpfen für den Anschluss des indischen Teils von Kaschmir an Pakistan. Eine weitere Gruppe, die in Kaschmir aktiv ist, Herkat-ul-Mujahedin, zu deutsch "Bewegung der Gotteskrieger", spielte im Afghanistan-Krieg eine Rolle:
Die Niederlage der Taliban ist ohne Zweifel ein psychologischer Rückschlag für den Freiheitskampf in Kaschmir. Selbst wenn es keine direkten Kontakte dieser Organisationen zu den Taliban und El Kaida geben sollte, allein ihre Existenz war für die Kämpfer in Kaschmir eine Quelle der Inspiration. Es gibt Berichte, dass im Kampf um Mazar-i-Sharif, wo es mehr als 500 Tote gab, viele Opfer Mitglieder von Herkat-ul-Mujahedin waren.
Das sagt Shuschat Bukhari, Korrespondent in Srinagar der indischen Zeitung 'The Hindu'. Die Taliban sind besiegt, das Ende von El Kaida in Afghanistan besiegelt, wie es scheint. Indische Politiker und Medien sorgten sich noch vor Wochenfrist, überlebende Kämpfer, denen die Flucht gelungen ist, könnten die Saat des Krieges nach Kaschmir tragen. Gulpreet Gill, Befehlshaber der Grenztruppen in Srinagar meint:
Es ist schwer vorherzusagen, was nach dem Afghanistan-Krieg passieren wird. Die genannten Gruppen hatten ohne jeden Zweifel Beziehungen zu den Taliban. Sie operieren auch in Kaschmir. Zum Teil rekrutieren sie sich aus afghanischen Kämpfern, aber die Masse stammt aus Pakistan.
Man hat die Befürchtung, dass die unzufriedenen Kräfte, die jetzt die Niederlage hinnehmen müssen, eventuell Zuflucht nehmen in Kaschmir. Kaschmir ist ein klassisches Gebiet für terroristische Aktivitäten, das die Vergangenheit gezeigt. Man befürchtet, dass die extremistischen Organisationen an Zulauf gewinnen könnten.
Friedemann Schlender, der bei der Deutschen Welle über den Kaschmir-Konflikt arbeitet, fasst Ängste der Inder zusammen. Von Shujaat Bukhari werden sie nicht geteilt:
Die Vorstellung, dass sich jetzt Taliban oder El-Kaida-Kämpfer nach Kaschmir retten, um dort zu kämpfen, halte ich für wenig wahrscheinlich, die müssen erst einmal für ihr eigenes Überleben sorgen.
Die Entwicklung in Afghanistan hatte Pakistans Präsident Musharraf unter Zugzwang gebracht. Islamabad sah sich gezwungen, die Taliban, seine eigene Schöpfung, fallen lassen zu müssen. Wird Musharraf im Kampf gegen den Terror jetzt auch den Extremisten in Kaschmir die Unterstützung entziehen müssen ? Ohne die Hilfe aus Pakistan fiele der militärische Widerstand gegen die indische Präsenz in Kaschmir mit Sicherheit geringer aus. Aber, so Friedemann Schlender von der Deutschen Welle:
Eine direkte Verbindung zwischen der Staatsgewalt Pakistans und den militanten Aktivitäten herzustellen, das dürfte schwierig sein.
Wie es aussieht, steht Musharraf - der liberale muslimische General, der sich im Ausland viele Freunde gemacht hat, für den Afghanistan aber innenpolitisch ein Desaster ist, vor einer neuen Bewährungsprobe.
Der Angriff eines Selbstmord-Kommandos auf das indische Parlament in Neu Delhi letzte Woche, bei dem 13 Menschen getötet wurden, könnte den Brandherd Kaschmir neu entfachen. Friedemann Schlender:
Also, für Indien ist das schon ein sehr starker Schlag. Am 1.Oktober hat es bereits einen Anschlag auf das Parlament von Kaschmir gegeben in Srinagar. Das war schon ein empfindlicher Schlag auch für das Selbstbewusstsein der Inder. Und jetzt natürlich ein Anschlag auf das Zentrum der parlamentarischen Demokratie. Das ist schon eine neue Qualität und ich verstehe schon, dass sie harsch reagiert haben.
Indische Untersuchungen deuten auf Freiheits-Kämpfer aus Kaschmir als Täter, obwohl sich weder Lashkar-i-Taiba noch Jaish-e-Mohammed zu dem Anschlag bekannt haben.
Natürlich gibt es die üblichen Beschuldigungsrituale. Normalerweise reagiert dann Pakistan und sagt: das ist alles vom indischen Geheimdienst inszeniert, um unserem Ansehen zu schaden. Vielleicht wird das noch kommen.
Indien hat gedroht, Attentäter auch über die Grenze nach Pakistan hinein zu verfolgen. Premier Vajpayee wird von den Falken in seiner Regierung zum Überschreiten der Waffenstillstandlinie gedrängt. Für Friedemann Schlender würde das Krieg bedeuten:
Das würde schon Krieg bedeuten. Ich halte eine solche Drohung für sehr gefährlich. Das ist übrigens auch neu. Es hat eine solche Drohung noch nicht gegeben. Das hieße ein Überschreiten der Grenze mit militärischen Mitteln und das würde der Anfang eines Krieges sein.
Die ersten Schüsse sind bereits gefallen. Gestern. Es kam zu heftigen Artillerie-Gefechten entlang der Grenze. Indien evakuierte vier Dörfer. Ein Armee-Sprecher beschuldigt Pakistan, die Gefechte begonnen zu haben. Ein erneuter konventioneller Konflikt, wie zuletzt 1999 um Kargil, könnte unmittelbar bevorstehen. Im Mai vor 2 Jahren hatten pakistanische Patrouillen im kahlen Berg-Hochland die Waffenstillstands-Linie überschritten. Indien protestierte. Es gab Hunderte Tote. Präsident Musharraf hat sich gegenüber Neu Delhi zum Verbot terroristischer Organisationen bereit erklärt, sofern Indien überzeugende Beweise liefere. Ein Indiz, dass er einen bewaffneten Konflikt auf keinen Fall möchte? Es spricht einiges dafür, dass Pakistan nach dem außenpolitischen Fiasko in Afghanistan und dem Versuch der De-Islamisierung im Inneren zur Zeit wenig Interesse an einer Eskalation mit Indien hat. Innenpolitisch stellt sich die Situation für Musharraf anders da. Friedemann Schlender:
Die Frage ist, wie weit er Rückhalt hat in Bezug auf pan-islamisches Denken in der einfachen Bevölkerung. Die Mittelschicht ist immer neuen Regierungen gefolgt. Die Frage ist, wie stark ist die Affinität der einfachen Bevölkerung mit den anderen Muslimen ? Viele verstehen ja die Moslems in Kaschmir als entrechtete Muslime.
Insofern stellt sich vorerst die Frage nach den indischen und pakistanischen Nuklear-Arsenalen nicht. Wenn überhaupt, so darf vermutet werden, kämen sie am ehesten bei einem Streit um Kaschmir zum Einsatz.
Seit über zehn Jahren herrscht also ein unerklärter Krieg in Kaschmir. Die USA zögern, diplomatisch einzugreifen. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass in Kaschmir keine Öl- oder Gas-Reserven liegen. Aus Kaschmir kommen Äpfel, Safran und die weltbekannte Kaschmir-Wolle.
Link: (Ein indischer Soladat durchsucht einen Moslem aus Srinagar, Kaschmir (AP Foto/Aijaz Rahi)==>/ramgen/hintergrund/.ram)
Das ist das zweite Hausboot, das mein Vater gebaut hat. George Harrison, einer der berühmten Beatles, hat hier 1966 übernachtet, viele Botschafter der USA und andere ehrwürdige Gäste. Das Boot da hinten, das ist außer Betrieb. Das funktioniert nicht mehr.
Wer in diesen Tagen auf Hausbooten übernachtet, ist vermutlich ein Journalist. Die meisten Hotels in Srinagar haben längst indische Streitkräfte in Beschlag genommen. 500-Tausend Soldaten, so wird geschätzt, sind in Kaschmir stationiert. Armee, Grenz-Truppen, Spezial-Einheiten. Eine halbe Million Gewehr-Läufe mit einem Auftrag: Extremisten auszumerzen, die für die Loslösung Kaschmirs von Indien kämpfen.
Kaschmir gehört zu Indien, soviel steht fest.
Gulpreet Singh Gill, Befehlshaber der Border Security Force in Srinagar, Grenz-Truppen die längst auch im Inneren Kaschmirs operieren. Gill verweist auf das Jahr 1947. Als die Briten damals abzogen, wollten der hinduistische Maharadscha Kaschmirs, Hari Singh, und die überwiegend moslemische Bevölkerung unabhängig bleiben. Doch als ein paar marodierende pakistanische Banden in den Fürstenstaat einfielen, rief Singh die indische Armee zur Hilfe. Kaschmir ging einen Pakt mit Indien ein, die UNO vermittelte eine Waffenstillstandslinie zwischen Indien und Pakistan und die Bevölkerung Kaschmirs erhielt das Versprechen einer Volksabstimmung über seine politische Zukunft. Bis heute hat keine der beteiligten Seiten dieses Versprechen eingelöst.
Umfrage: Wir wollen endlich, dass Inder, Pakistanis und Kaschmiris sich an einen Tisch setzen und über unsere Unabhängigkeit abstimmen, wie es in der UN-Resolution von 1947 steht.
Viele Menschen in den Straßen von Srinagar sprechen so wie dieser Mann. Allein: die strategischen Interessen Neu Delhis und Islamabads sind andere. Im Gegensatz zu Indien versteht sich Pakistan als Heimat aller Muslime des Subkontinents. Es beansprucht Kaschmir mit seiner muslimischen Mehrheit als natürlichen Erbteil.
Freitagsgebet in der Jama Masjid, der großen Moschee von Srinagar. Die Predigt - ein erster Teil religiös, ein zweiter Teil politisch - ist ein Ventil für angestauten Unmut. "Nieder mit dem Staats-Terrorismus - Freiheit für Kaschmir", skandieren die Gläubigen. Vor der Moschee wird gestritten, ob Unabhängigkeit das Ziel ist oder die Zukunft im Verbund mit Pakistan liegt:
O-Ton Menge vor Moschee
We want freedom.... Pakistan, Pakistan!
Eines wird spätestens hier klar: Indien das Vertrauen der Muslime im Kaschmir-Tal verloren. 1986 manipulierte Neu Delhi mit Hilfe der Kongresspartei von Rajiv Ghandi Wahlen in Kaschmir. Vier der verhinderten Abgeordneten gingen in den Untergrund, führten das Gewehr als Mittel der Politik ein. Seitdem kommt das 'Tal der Glücklichen' nicht zur Ruhe. Täglich kommen 10 bis 15 Zivilisten und Soldaten zu Tode, 30-Tausend sind es seit 1989, offiziell geschätzt, die Rebellen sprechen von 80-Tausend Opfern.
Die Rebellen rekrutieren sich zu einem guten Teil aus Pakistan. Islamabad, so sagen nicht nur indische Beobachter, fördert ihre Aktivitäten mit Geld, Waffen und Hilfe des pakistanischen Geheimdienstes. Seit Anfang der 90er Jahre werden so genannte "Jehadi" auf der anderen Seite der Grenze, im pakistanischen Teil von Kaschmir, ausgebildet, bewaffnet und über die Berge, an den indischen Posten vorbei eingeschleust.
In Traal, 40 Kilometer südlich von Srinagar erschossen Extremisten vor wenigen Tagen zwei indische Sicherheitskräfte aus dem Hinterhalt. Es kam zur Vergeltung, erinnert sich ein Augenzeuge:
Händler stürzten aus ihren Geschäften. Dann haben die Soldaten Benzin vergossen und alle Geschäfte hier in Brand gesteckt. In einem war ein 11-jähriger Junge, er kam nicht mehr raus, verbrannte in den Flammen.
Die Mutter des Jungen trägt auch am neunten Tag nach dem Tod ihres Sohnes noch Trauer:
Ich hatte Said geschickt, um Medikamente für mich zu holen, aber er ist nie zurückgekommen. Er kam in die 6.Klasse, war fleißig und intelligent.
Die indischen Sicherheitskräfte in Kaschmir werden mittlerweile als Besatzer empfunden. Ein Ladenbesitzer:
Die indische Armee verhält sich nicht ordnungsgemäß. Sie vergewaltigen, schlagen Leute mit dem Gewehr, nur weil sie die Macht haben.
Auf dem Lal Chowk, dem zentralen Platz von Srinagar, demonstriert ein Dutzend Frauen mit Kopftüchern gegen die Festnahme eines Ladenbesitzers. Die Frauen bedrängen drei, vier Soldaten mit Gewehren, die versuchen, zu beruhigen. Eine Frau fällt in Ohnmacht.
Der festgenommene Ladenbesitzer soll eine Handgranate bei sich gehabt haben. Explodiert ist sie nicht. Aber der Mann wurde abtransportiert. Einige Ladenbesitzer haben aus Protest gegen diese Festnahme ihr Geschäft geschlossen. Sie waren Augenzeugen. Andere Menschen verschwinden in Kaschmir, ohne dass es Zeugen gibt: Fünf- bis Sechstausend. Von ihnen fehlt jede Spur. Männer zwischen 17 und 34 Jahren:
Indische Spezial-Kräfte suchen sie meist gegen Mitternacht in ihren Häusern auf. Sie nehmen fest, wer ihnen verdächtig vorkommt. Manchmal reicht es, einen Bart zu tragen. Sie werden verhört, der ein oder andere mag Kontakte haben, aber die meisten, bin ich sicher, sind unschuldig. Trotzdem werden viele von ihnen getötet oder zu Tode gefoltert, ihre Körper findet man später im Wald oder in Flussläufen wieder.
Pervez Imroz leitet eine Vereinigung, die sich um das Schicksal der Verschwundenen kümmert und um die Hinterbliebenen. Regelmäßig gibt er Informationen an Amnesty International weiter:
Die indische Armee geht mit klassischen Foltermethoden vor: Elektrische Schocks, Menschen werden über Öfen gelegt, bei lebendigem Leib, Schläge mit Eisenstangen, oder zum Verhör gehängt, die Füße in der Schlaufe, den Kopf nach unten.
Die politischen Führer in Kaschmir sprechen vor diesem Hintergrund von "Staats-Terrorismus". Abdul Ghani-Bhat ist Chef der Hurriyat-Conference, eines Bündnisses aus über 20 Gruppen, von denen einige die Unabhängigkeit, andere den Anschluss an Pakistan wollen:
Ich war Professor für persische Sprachen und Literatur. 23 Jahre lang habe ich Jungen und Mädchen unterrichtet. In meinem Verständnis gehörte dazu auch, über den politischen Konflikt in Kaschmir zu reden, als Bedrohung für den Frieden auf dem indischen Subkontinent. Das führte, so vermute ich, zu meiner Abberufung 1986.
Bhat ging in die Politik, agitierte gegen die Präsenz indischer Truppen, wurde mehrfach verhaftet.
Die indische Regierung kam mit Gewalt über uns alle nieder. Wir, die etwas Älteren, wurden hinter Gitterstangen geschlossen, lange Monate im Gefängnis vor uns hinsiechend. Sehen sie, in Kaschmir ist vieles anders. Jedes Kind hier wird geboren mit einem Gefühl nach Freiheit, nach Würde und Ehre. Jedes Kind in Kaschmir kommt mit Politik zur Welt.
Inzwischen wächst in Kaschmir eine Generation heran, die in einem Klima von Angst und Gewalt groß wird. Die Biscoe-Schule ist eine christliche Lehr-Anstalt, 9 von 10 Schülern aber Muslime. Das Morgengebet wird aus der Bibel gelesen, am Nachmittag blättern die Schüler im Koran. Einer sagt:
Wir wissen nicht, ob wir morgens heil in die Schule und abends sicher nach Hause zurückkommen. Es kann immer etwas passieren.
Gulpreet Gill, der Befehlshaber der Grenz-Truppen in Srinagar, sieht sich dagegen als Garanten der Sicherheit in Srinagar. Seine Soldaten seien in der Stadt beliebt, ihn hätten in diesem Jahr lediglich zwei bis drei Beschwerden wegen willkürlicher Gewalt-Anwendung erreicht. Im übrigen gelte es einen Feind zu bekämpfen:
Ich habe letztes Jahr 29 meiner Männer verloren, dieses Jahr sind es 36. 128 Extremisten haben wir dieses Jahr getötet. Der Terror, den wir bekämpfen ist importiert aus Pakistan.
Zwei der bekanntesten Gruppen, die in Kaschmir operieren sind Lashkar-i-Taiba, zu deutsch "Die heilige Armee" und Jaish-e-Mohammed, übersetzt "Mohammeds Heer". Sie rekrutieren ihre Mitglieder in Koranschulen. Der Jaish-Organisation werden Verbindungen mit dem El-Kaida-Netzwerk von Osama Bin Laden nachgesagt. Lashkar-i-Taiba ist stolz auf seine pakistanischen Wurzeln und hat so genannte "fidayeen", junge Selbstmord-Attentäter, hervorgebracht. Beide Gruppen kämpfen für den Anschluss des indischen Teils von Kaschmir an Pakistan. Eine weitere Gruppe, die in Kaschmir aktiv ist, Herkat-ul-Mujahedin, zu deutsch "Bewegung der Gotteskrieger", spielte im Afghanistan-Krieg eine Rolle:
Die Niederlage der Taliban ist ohne Zweifel ein psychologischer Rückschlag für den Freiheitskampf in Kaschmir. Selbst wenn es keine direkten Kontakte dieser Organisationen zu den Taliban und El Kaida geben sollte, allein ihre Existenz war für die Kämpfer in Kaschmir eine Quelle der Inspiration. Es gibt Berichte, dass im Kampf um Mazar-i-Sharif, wo es mehr als 500 Tote gab, viele Opfer Mitglieder von Herkat-ul-Mujahedin waren.
Das sagt Shuschat Bukhari, Korrespondent in Srinagar der indischen Zeitung 'The Hindu'. Die Taliban sind besiegt, das Ende von El Kaida in Afghanistan besiegelt, wie es scheint. Indische Politiker und Medien sorgten sich noch vor Wochenfrist, überlebende Kämpfer, denen die Flucht gelungen ist, könnten die Saat des Krieges nach Kaschmir tragen. Gulpreet Gill, Befehlshaber der Grenztruppen in Srinagar meint:
Es ist schwer vorherzusagen, was nach dem Afghanistan-Krieg passieren wird. Die genannten Gruppen hatten ohne jeden Zweifel Beziehungen zu den Taliban. Sie operieren auch in Kaschmir. Zum Teil rekrutieren sie sich aus afghanischen Kämpfern, aber die Masse stammt aus Pakistan.
Man hat die Befürchtung, dass die unzufriedenen Kräfte, die jetzt die Niederlage hinnehmen müssen, eventuell Zuflucht nehmen in Kaschmir. Kaschmir ist ein klassisches Gebiet für terroristische Aktivitäten, das die Vergangenheit gezeigt. Man befürchtet, dass die extremistischen Organisationen an Zulauf gewinnen könnten.
Friedemann Schlender, der bei der Deutschen Welle über den Kaschmir-Konflikt arbeitet, fasst Ängste der Inder zusammen. Von Shujaat Bukhari werden sie nicht geteilt:
Die Vorstellung, dass sich jetzt Taliban oder El-Kaida-Kämpfer nach Kaschmir retten, um dort zu kämpfen, halte ich für wenig wahrscheinlich, die müssen erst einmal für ihr eigenes Überleben sorgen.
Die Entwicklung in Afghanistan hatte Pakistans Präsident Musharraf unter Zugzwang gebracht. Islamabad sah sich gezwungen, die Taliban, seine eigene Schöpfung, fallen lassen zu müssen. Wird Musharraf im Kampf gegen den Terror jetzt auch den Extremisten in Kaschmir die Unterstützung entziehen müssen ? Ohne die Hilfe aus Pakistan fiele der militärische Widerstand gegen die indische Präsenz in Kaschmir mit Sicherheit geringer aus. Aber, so Friedemann Schlender von der Deutschen Welle:
Eine direkte Verbindung zwischen der Staatsgewalt Pakistans und den militanten Aktivitäten herzustellen, das dürfte schwierig sein.
Wie es aussieht, steht Musharraf - der liberale muslimische General, der sich im Ausland viele Freunde gemacht hat, für den Afghanistan aber innenpolitisch ein Desaster ist, vor einer neuen Bewährungsprobe.
Der Angriff eines Selbstmord-Kommandos auf das indische Parlament in Neu Delhi letzte Woche, bei dem 13 Menschen getötet wurden, könnte den Brandherd Kaschmir neu entfachen. Friedemann Schlender:
Also, für Indien ist das schon ein sehr starker Schlag. Am 1.Oktober hat es bereits einen Anschlag auf das Parlament von Kaschmir gegeben in Srinagar. Das war schon ein empfindlicher Schlag auch für das Selbstbewusstsein der Inder. Und jetzt natürlich ein Anschlag auf das Zentrum der parlamentarischen Demokratie. Das ist schon eine neue Qualität und ich verstehe schon, dass sie harsch reagiert haben.
Indische Untersuchungen deuten auf Freiheits-Kämpfer aus Kaschmir als Täter, obwohl sich weder Lashkar-i-Taiba noch Jaish-e-Mohammed zu dem Anschlag bekannt haben.
Natürlich gibt es die üblichen Beschuldigungsrituale. Normalerweise reagiert dann Pakistan und sagt: das ist alles vom indischen Geheimdienst inszeniert, um unserem Ansehen zu schaden. Vielleicht wird das noch kommen.
Indien hat gedroht, Attentäter auch über die Grenze nach Pakistan hinein zu verfolgen. Premier Vajpayee wird von den Falken in seiner Regierung zum Überschreiten der Waffenstillstandlinie gedrängt. Für Friedemann Schlender würde das Krieg bedeuten:
Das würde schon Krieg bedeuten. Ich halte eine solche Drohung für sehr gefährlich. Das ist übrigens auch neu. Es hat eine solche Drohung noch nicht gegeben. Das hieße ein Überschreiten der Grenze mit militärischen Mitteln und das würde der Anfang eines Krieges sein.
Die ersten Schüsse sind bereits gefallen. Gestern. Es kam zu heftigen Artillerie-Gefechten entlang der Grenze. Indien evakuierte vier Dörfer. Ein Armee-Sprecher beschuldigt Pakistan, die Gefechte begonnen zu haben. Ein erneuter konventioneller Konflikt, wie zuletzt 1999 um Kargil, könnte unmittelbar bevorstehen. Im Mai vor 2 Jahren hatten pakistanische Patrouillen im kahlen Berg-Hochland die Waffenstillstands-Linie überschritten. Indien protestierte. Es gab Hunderte Tote. Präsident Musharraf hat sich gegenüber Neu Delhi zum Verbot terroristischer Organisationen bereit erklärt, sofern Indien überzeugende Beweise liefere. Ein Indiz, dass er einen bewaffneten Konflikt auf keinen Fall möchte? Es spricht einiges dafür, dass Pakistan nach dem außenpolitischen Fiasko in Afghanistan und dem Versuch der De-Islamisierung im Inneren zur Zeit wenig Interesse an einer Eskalation mit Indien hat. Innenpolitisch stellt sich die Situation für Musharraf anders da. Friedemann Schlender:
Die Frage ist, wie weit er Rückhalt hat in Bezug auf pan-islamisches Denken in der einfachen Bevölkerung. Die Mittelschicht ist immer neuen Regierungen gefolgt. Die Frage ist, wie stark ist die Affinität der einfachen Bevölkerung mit den anderen Muslimen ? Viele verstehen ja die Moslems in Kaschmir als entrechtete Muslime.
Insofern stellt sich vorerst die Frage nach den indischen und pakistanischen Nuklear-Arsenalen nicht. Wenn überhaupt, so darf vermutet werden, kämen sie am ehesten bei einem Streit um Kaschmir zum Einsatz.
Seit über zehn Jahren herrscht also ein unerklärter Krieg in Kaschmir. Die USA zögern, diplomatisch einzugreifen. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass in Kaschmir keine Öl- oder Gas-Reserven liegen. Aus Kaschmir kommen Äpfel, Safran und die weltbekannte Kaschmir-Wolle.
Link: (Ein indischer Soladat durchsucht einen Moslem aus Srinagar, Kaschmir (AP Foto/Aijaz Rahi)==>/ramgen/hintergrund/.ram)