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Streng historisch

Die Geschichte, die der Hamburger Politologe Volker Matthies schildert, liegt über 140 Jahre zurück. Äthiopien wurde zum Schauplatz einer Geiselnahme mitsamt der nachfolgenden ebenso spektakulären wie gigantischen Befreiungsaktion: England gegen den Äthiopischen Kaiser.

Von Oliver Ramme | 25.10.2010
    Ihre Majestät die Königin von England hat mir befohlen, zu verlangen, dass die Gefangenen, welche Eure Majestät unrechtmäßiger Weise in Gefangenschaft hält, sofort freigelassen und sicher in das britische Lager übergeführt werden. Sollte Eure Majestät ermangeln, diesem Befehle nachzukommen, so bin ich weiter beauftragt, Euer Majestät Land an der Spitze einer Armee zu betreten, um die Ausführung eines Befehls zu erzwingen, und nichts wird mein Vordringen aufzuhalten vermögen, bis dieser Zweck erreicht ist.

    Äthiopien anno 1867. Der britische General Napier droht dem äthiopischen Kaiser. Es ist der Vorabend einer der merkwürdigsten und größten Militärexpeditionen in der Geschichte Afrikas. Die britische Armee und Marine wird 60.000 Mann in Äthiopien aufmarschieren lassen, um etwa 60 europäische Geiseln – darunter der englische Konsul Charles Cameron – aus der Bergfestung Magdala zu befreien.

    Minutiös schildert der Hamburger Politologe Volker Matthies auf 190 Seiten diese aufwendige Befreiungsaktion. Vom geschichtlichen Kontext des damaligen Äthiopiens, über die Gründe der Geiselnahmen bis hin zur aufwendigen Logistik der Militärexpedition. Matthies nutzt dazu ausgiebig Berichte damaliger Augenzeugen, hier ein österreichischer Arzt:

    In der Rhede ankerten majestätisch bald 200 Fahrzeuge – wahre Pracht-Modells der englischen Marine. Am meisten jedoch überraschte das rege Leben auf den soeben angekommenen Schiffen; die riesige Anzahl Kamele, Pack- und Zugochsen, Pferde, Maultiere etc., die fortwährend auf Charlands und Lighters heruntergelassen wurden, um die dann am Damme zu landen.

    Volker Matthies: "Ich habe mich seit 30 Jahren mit kriegerischen Konflikten am Horn von Afrika beschäftigt und stieß in der Sekundärliteratur auf die Magdala-Expedition und fand sie so faszinierend und interessant, dass ich mich entschloss, dort etwas vertieft zu recherchieren. Der technische Aufwand und die Logistik, die betrieben wurde, ist doch im Vergleich einzigartig für europäisch-afrikanische Konflikte und Expeditionen des 19. Jahrhunderts."

    Auslöser dieser Expedition war ein Brief. England und Äthiopien im 19. Jahrhundert – eine weitestgehend friedliche, fast freundschaftliche Beziehung. 1862 schickt Kaiser Theodor von Abessinien einen Brief an die englische Königin.

    Durch [Gottes] Macht habe ich die Galla vertrieben, und den Türken habe ich angekündigt, dass sie das Land meiner Vorfahren verlassen sollen. Sie weigern sich. Ich bin jetzt in Begriff mit ihnen in den Kampf zu treten.
    Der Kaiser ersucht in London militärische Hilfe bei seinem Kampf gegen die Türken. Doch in England stößt diese Bitte auf Unbehagen. Schließlich ist das Osmanische Reich ein wichtiger Handelspartner Englands. Der Brief wird verwahrt und nie beantwortet. Die Folge: Kaiser Theodor misstraut zunehmend dem britischen Empire und nimmt schließlich den britischen Konsul und weitere Briten und Festlandeuropäer als Geiseln. Etwa 60 an der Zahl.

    Aus äthiopischer Sicht stand die Geiselnahme durchaus mit den landesüblichen Gepflogenheiten in Einklang, bei politischen Streitigkeiten Angehörige und Verwandte der gegnerischen Partei als Geiseln zu nehmen.

    Die englische Krone ist zunächst bemüht, den Konflikt diplomatisch zu lösen. Als aber alle Versuche scheitern und der Druck der britischen Öffentlichkeit zu groß wird, entscheidet sich London militärisch zu handeln und die Geiseln aus der Bergfestung Magdala, gelegen im äthiopischen Hochland, gewaltsam zu befreien.

    Drei Jahre nach Beginn der Geiselnahme stampfen die Briten im benachbarten Eritrea in einer bedeutungslosen Bucht ein gigantisches Basiscamp aus dem Boden. Ein Hafen entsteht, Lagerhäuser und Unterkünfte werden gebaut. Stallungen für die tausenden von Tieren, darunter 44 Elefanten, entstehen. Auch wird eigens eine Eisenbahnstrecke ins Landesinnere verlegt. Es ist die erste Eisenbahn in Nordafrika auch ein sichtbares Zeichen der Industrialisierung des Krieges.

    Matthies: "Es ging natürlich um das Prestige und die nationale Ehre Englands, der damaligen Weltmacht und Führungsmacht des Westens. Die Ehre schien gefährdet durch die Geiselnahme eines afrikanischen Potentaten. Es galt also die nationale Ehre und das Prestige Englands, den Weltmachtanspruch Ehre gerade in dieser wichtigen Region an Route nach Indien wieder herzustellen."
    Und um diesem Weltmachtanspruch gerecht zu werden, machen sich Anfang 1868 mehrere zehntausend Soldaten, Träger, Techniker auf den steinigen Weg ins Äthiopische Hochland nach Magdala. Drei Monate später, nach über 600 Kilometern beschwerlichen Marsches, trifft das britische Heer auf die Truppen des Kaisers. Volker Matthies gelingt es nicht nur, diese Schlacht spannend und authentisch darzustellen.

    Die Nacht verbrachten die englischen Soldaten aus Sicherheitsgründen kampfbereit auf dem Schlachtfeld. Es war eine miserable Nachtruhe. Denn die meisten von ihnen hatten den ganzen Tag noch nichts zu essen und trinken gehabt. Es durften keine Feuer angezündet werden, und Zelte waren infolge von Transportverzögerungen nicht verfügbar. So biwakierten die Soldaten im Freien und mussten in Nässe und Kälte auf dem nackten Boden schlafen. Zudem hörten sie in der Dunkelheit das Kreischen der Hyänen und Schakale sowie die jämmerlichen Schreie der verwundeten Äthiopier und sahen in der Ferne den Fackelschein der äthiopischen Suchtrupps, die ihre verwundeten und toten Kameraden bergen wollten.
    Matthies Unternehmen Magdala überzeugt durch seine sachlich recherchierte Form. Das Literaturverzeichnis des Buches zitiert aus über 150 Quellen. Außerdem nutzt es historisches Bildmaterial und zahllose originale Brief- und Tagebuchauszüge. Magdala ist ein gut erforschtes Thema, diese üppige Sekundärliteratur verarbeitet Matthies zu einem sehr gradlinigen und unprätentiösen Werk. Außerdem gelingt es dem Autor durch Exkurse und Personenporträts - unter anderem von zahlreichen Deutschen - interessante Seitenaspekte zu beleuchten.

    Matthies bleibt streng historisch. Er nimmt also keinen Bezug auf die gegenwärtige Lage in Afrika: Stichwort Piraterie und Geiselnahme am Horn von Afrika. Deshalb bleibt das Buch Unternehmen Magdala vor allem für Geschichtsinteressierte mit Schwerpunkt Afrika während der Kolonialzeit eine interessante Lektüre.

    Oliver Ramme über Volker Matthies: "Unternehmen Magdala. Strafexpedition in Äthiopien". Veröffentlicht im Christoph Links Verlag, 200 Seiten für 24 Euro und 90 Cent, ISBN: 978-3-86153-572-0.