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Superreiche, Bittsteller und Belämmerte

"Was sind das für Typen, die Islands Volksvermögen und Infrastruktur an windige Spekulanten verscherbelt haben?" Das will wohl nicht nur Einar Már Gudmundsson wissen, der am häufigsten übersetzte isländische Autor und Lyriker.

Von Philipp Boerger | 10.05.2010
    Isländer haben weder die Korruption noch die Finanzkrisen erfunden, meint der Autor Einar Már Gudmundsson. Und doch sei sein Land ein Mikrokosmos. Ein Laboratorium, in dem sowohl die Mechanismen der Krise als auch die Folgen beispielhaft beobachtet und nachvollzogen werden können. Denn Islands Bevölkerungsgröße ist winzig, nicht einmal 320.000 Menschen leben auf der Insel im Nordatlantik.

    "Wir sind zu einer Art neoliberalem Labor geworden. Zuerst haben die größenwahnsinnigen Banker hier experimentiert. Und jetzt sind wir das Labor dafür, wie man aus dem Schlamassel wieder rauskommt. Wie die Menschen die Krise bewältigen. Oder mit anderen Worten: wie die Verluste auf die ganze Nation verteilt werden."

    Für den 55-jährigen Gudmundsson sei die isländische Gesellschaft ruiniert. Sie befinde sich in Auflösung, schreibt er, und meint damit nicht nur materielle Probleme, sondern auch den Zusammenhalt und die Moral. Wie konnte es zu Islands Ruin kommen? Für den Autor gibt es keinen Hauptschuldigen. Vielmehr sieht er den Kern der Problematik darin, dass die Wirtschaft gewissermaßen die Macht in Island übernommen habe. Dazu bedurfte es keines Militärputsches. Es gab zu wenig Kontrolle, zu wenige Regeln, schreibt er. Stattdessen Gier und Größenwahn. Und zu viel Korruption, das Grundübel des Landes. Zur Jahrtausendwende sei die konservativ-liberale Regierung, unterstützt vom einflussreichen Wirtschaftsrat, auf die Idee gekommen, dass Island das reichste Land der Welt werden soll.

    Die Expansionswikinger, die Finanzbarone, die isländischen Kapitalisten, die familiär eng untereinander verbundenen Herren oder wie man sie auch nennen mag, taten nichts anderes, als dem Markt – oder Mammon – zu opfern. Die Spielregeln waren vereinbart, sie nutzten sie. Dazu kamen astronomische Gehälter, Vorkaufsrechte, Bonuszahlungen und andere nette Sachen. In Island entstand eine neue Schicht der Superreichen und machte die Mittelschicht zu Bittstellern und die Unterschicht zu Belämmerten. Die ganze Wertvorstellung verrutschte. Normale Berufe, Lehrer beispielsweise, erschienen als bedauernswerte Tröpfe. Niemand nahm mehr den Bus. Alle bestiegen nagelneue Autos, sogar solche, die ihnen nicht gehörten, die nicht auf Reifen, sondern auf Wechseln liefen."

    Binnen weniger Jahre wurden die drei wichtigsten Banken und viele Unternehmen des Landes privatisiert. Die neuen Chefs und Direktoren, aber auch viele Politiker hätten sich gefühlt und aufgespielt wie russische Oligarchen, wie große Gönner, die vordergründig Gutes tun, hauptsächlich allerdings ihr eigenes Vermögen und Ansehen vergrößern wollten. Weil sie auch einen Großteil der Zeitungen und Fernsehsender besaßen, hätten sie sich allmächtig gefühlt und alle kritischen Stimmen ignoriert, sagt Gudmundsson.

    "Die neoliberale Philosophie funktioniert wie eine Religion. Sie benutzt die gleichen religiösen Formulierungen, nur dass anstelle von Gott der Markt angebetet wird. Der Markt soll herrschen. Wir sollten das dem Markt überlassen. Und so weiter."

    Detailliert beschreibt Gudmundsson den Rausch, in den die herrschende Klasse verfiel. Die neuen Superreichen verzockten die Altersvorsorge und Sparguthaben der isländischen Bürger. Sie eröffneten im Ausland Bankfilialen mit unhaltbaren Zinsversprechen, kauften sich in internationale Hotelketten und Modelabels ein. Und luden Elton John und Duran Duran nach Island ein, damit sie auf ihren Geburtstagspartys auftraten. Sie übertrumpften sich gegenseitig mit ihren Eitelkeiten, analysiert Gudmundsson.

    Die Politiker befinden sich somit in der Rolle Frankensteins und die Neureichen in der Rolle des Monsters, das dem Wirtschaftssystem völlig über den Kopf wuchs. Die Politiker verschuldeten das Land in einem Maße, das nur den Begriff "Landesverrat" zulässt. Die Milliardäre werden keine Verantwortung tragen, weil sie davon ausgehen, dass das nicht ihre Sache ist. Sie sagen in einem fort: Ich habe nichts Ungesetzliches getan. In ihrer Begriffswelt hat das Wort Verantwortung keine soziale oder sittliche Dimension. So ist die Welt des Geldes. Die Gier, die ihr folgt, führt zu Geisteskrankheit.

    Gudmundsson entlarvt nicht nur die Fehler, die in Island gemacht wurden. Um seine These zu belegen, dass Island ein Mikrokosmos der Welt sei, dass die Fehler und Probleme hier also besonders deutlich zu beobachten, im Grunde aber immer und überall die Gleichen sind, nimmt er den Leser mehrere Male mit auf Reisen in die Vergangenheit. Es geht etwa nach Spanien, Mexiko und die Färöer-Inseln. Hier zeigt der Autor anhand konkreter Beispiele auf, wie Misswirtschaft und Machtmissbrauch, Korruption und Gier das jeweilige Land in einen Schuldensumpf rutschen ließen. Zum Teil noch verbunden mit Einschränkungen der Bürgerrechte. In den Augen Gudmundssons hat in den letzten Jahrzehnten ein unglaublicher Wertewandel stattgefunden. Überall seien die Finanzmärkte von höchster Bedeutung, die Demokratie aber immer nebensächlicher geworden. Die Hauptursache des globalen Wertewandels sei das Ende des Kalten Krieges vor etwa 20 Jahren, schreibt Gudmundsson.

    Dieser Rechtsruck beruht nicht auf einem plötzlichen Meinungsumschwung. Seine Wurzeln liegen in historischen Ereignissen wie dem Fall der Berliner Mauer und der darauf folgenden Realität, die gerne als Postmodernismus bezeichnet wird. Da ist nichts mehr eindeutig, alles ist relativ, links und rechts sind veraltet und so weiter. Diese Situation geht mit dem Abstieg der Gewerkschaftsbewegung, Solidaritätsverlust und schwindendem gesellschaftlichen Zusammenhalt einher.

    Obwohl Gudmundsson konsequent aus der subjektiven, also voreingenommenen Perspektive erzählt und sich seine Argumente des Öfteren wiederholen, sind seine Schilderungen und seine Wut nachvollziehbar. Sein Bericht ist kein neutrales Sachbuch, aber auch kein Roman, sondern eine gut erzählte, wahre Geschichte; polemisch, aber informativ. Wer sich für Island, seine Gesellschaft und ihre Persönlichkeiten interessiert, dem wird diese Lektüre Gewinn bringen.

    Einar Már Gudmundsson: Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin. Hanser Verlag, 208 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-446-23510-6