Dienstag, 16. April 2024

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Sure 24 Vers 35
Der Lichtvers - atemlose Gleichnisse

Nicht nur für viele mystisch orientierte Muslime stößt Vers 35 aus Sure 24 mitten ins Herz des Islams vor. Er trägt einen eigenen Namen: Lichtvers. Dieser sprachgewaltige Vers ist nicht nur einer der berühmtesten, er ist auch einer der rätselhaftesten, voller Gleichnisse und Symbolik. Generationen von Korangelehrten zerbrachen sich den Kopf über seine Bedeutung.

Von Prof. em. Dr. Stefan Wild, Universität Bonn | 23.10.2015
    "Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis von seinem Lichte: Das Licht ist wie eine Nische, in der eine Leuchte. Die Leuchte ist in einem Glas. Das Glas gleicht einem Stern, einem funkelnden. Angezündet von einem Baum, einem gesegneten. Einem Ölbaum, nicht östlich, nicht westlich, dessen Öl leuchtet beinahe, ohne dass es berührt hätte das Feuer. Licht über Licht. Gott leitet zu Seinem Licht wen Er will."
    Viele Suren sind klar strukturiert. Andere, besonders die längeren, wurden offensichtlich zusammengesetzt, ohne dass man genau sagen kann, warum verschiedene Themen zu einer Sure verschmolzen sind. Die Sure 24 ist ein solcher Fall. Sie beginnt mit ausführlichen Geboten und Verboten über Heirat, Sklaverei, Ehebruch, Kastration und Prostitution.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Ohne Vorwarnung erscheint dann ein Vers, der formal und inhaltlich vollkommen Neues bringt: der "Lichtvers" – ein dunkler, atemloser Vers. Er beginnt mit: "Gott ist das Licht der Himmel und der Erde". Diese göttliche Selbstaussage scheint dem koranischen Satz zu widersprechen: "Nichts ist Gott gleich" (Sure 42:11).
    Islamische Theologen hatten oft davor gewarnt, Gott menschliche Attribute zu geben. Dies wurde ein zentraler Streitpunkt der islamischen Frühzeit. Wenn Gott Licht ist und "wie eine Nische, in der eine Leuchte steht", hatte man dann nicht bereits Gott unzulässig mit irdischen Kategorien beschrieben? War das alles noch Vergleich oder Metapher? Oder musste man den Vers "ohne nach dem ‚Wie' " zu fragen, also erklärungslos hinnehmen?
    Stefan Wild sitzt in einem Sessel vor Bücherregalen. 
    Stefan Wild ist emeretierter Professor für Semitische Sprachen und Islamwissenschaft an der Universität Bonn. (Deutschlandradio / Thorsten Gerald Schneiders)
    Das koranische Licht-Gleichnis führt von einem ungelösten Rätsel zum anderen: Die Leuchte ist in einem Glas wie ein funkelnder Stern, angezündet von einem gesegneten Olivenbaum, weder östlich noch westlich... Der Koran entwirft hier Elemente einer Lichtmystik, welche die Aussage des nicäanischen Glaubensbekenntnisses "Gott von Gott, Licht vom Lichte" bei weitem übertrifft.
    Gelehrte und Fromme schrieben dicke Bücher über diesen Vers. Manche lehrten, dass mit der "Nische" der Prophet Mohammed gemeint sei, da er in Sure 33 Vers 46 eine "leuchtende Lampe" genannt wird.
    Andere sahen im Lichtvers, insbesondere in dem Satz "Licht über Licht", einen Hinweis auf das so genannte "Licht Mohammeds". Gott soll dieses noch vor den Menschen erschaffen und alle Propheten damit erleuchtet haben. In Mohammed schließlich hat sich dieses Licht dann der Vorstellung zufolge manifestiert.
    Spätere Mystiker entwarfen ganze "Licht- und Illuminations-Philosophien". Hier tat sich besonders die schiitische Richtung hervor: Für sie bedeutete etwa die Aussage, der Ölbaum sei weder westlich noch östlich, dass die Religion Abrahams weder jüdisch noch christlich, sondern eben muslimisch sei.
    Man übertreibt nicht, wenn man in diesem Vers eine wesentliche Wurzel der islamischen Mystik sieht. Osmanische Prachtmoscheen in Istanbul verewigen in ihren lichtdurchfluteten Fenstern bis heute kalligraphisch diesen Vers.
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.