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Syrien
Kriegsverletzte kämpfen um Anerkennung

Aufgrund des anhaltenden Krieges in Syrien gibt es inzwischen zahlreiche Kriegsverletzte mit bleibenden Behinderungen. Internationale Hilfsorganisationen versuchen, möglichst vielen Betroffenen zu helfen. Die Herausforderung ist so groß wie noch nie. Denn in der syrischen Gesellschaft muss sich auch der Umgang mit Behinderten ändern.

Von Martina Sabra | 23.04.2014
    Helfer des Roten Halbmonds evakuieren in Syrien weitere Menschen aus der vom Bürgerkrieg stark betroffenen Stadt Homs Zwei Männer tragen eine Bahre in einen Rettungswagen.
    Inoffizielle Schätzungen gehen von 500.000 Kriegsverletzten und 180.000 Amputierten im Syrienkonflikt aus. (picture alliance / dpa / Str)
    Eine ärmliche Bauernfamilie im ländlich geprägten Hauran, in Südsyrien. Es war ein kühler Frühlingsmorgen. Die drei Kinder waren schon in der Schule. Randa und ihr Ehemann wollten zu ihrem Feld, mit dem Moped. Der Motor tuckerte geräuschvoll, als die beiden die Straße entlangfuhren. Dann war er plötzlich da - der Querschläger.
    "Ich habe das Geschoss erst wahrgenommen, als es schon ganz nah war. Ein Granatsplitter hat mein Bein durchschlagen. Ich bin direkt vom Moped heruntergefallen. Die Schmerzen waren furchtbar, aber zum Glück habe ich relativ schnell ein Schmerzmittel bekommen. Ich dachte zuerst, mein Mann wäre tot. Aber er war fast unverletzt, bis auf das Gehör. Er kann noch immer nicht richtig hören."
    "Du kommst sicher ins Paradies"
    Randa wurde in ein Krankenhaus im benachbarten Jordanien gebracht. Ihr musste ein Bein oberhalb des Knies amputiert werden. Das andere Knie war ebenfalls schwer verletzt, doch die Ärzte konnten es retten. Mittlerweile ist die Krankenhausbehandlung abgeschlossen und Randa ist in das medizinische Rehabilitationszentrum der Organisation "Syrian Women Across Borders" umgezogen, wo Kranke und Verletzte aus Syrien kostenlos Reha-Maßnahmen erhalten. Randa sieht gut aus, sie wirkt zupackend und optimistisch. Direkt nach der Amputation war das anders:
    "Als ich aufwachte, dachte ich: Wäre ich doch gestorben! Dann kamen die Leute und meinten, das ist dein Nasib, dein Schicksal. Du bist eine gute Frau, du kommst sicher ins Paradies. Denk dir einfach, dein Bein sei vor dir ins Paradies gegangen! Als ich das hörte, dein Bein ist nun im Paradies, und du musst Gott danken, dass du überlebt hast, da hat sich mein Herz etwas beruhigt."
    Der Glaube an Gott hilft vielen Menschen in Extremsituationen
    Der Glaube an Gott, an das Paradies ist in Extremsituationen für viele Menschen ein Trost. Aber damit die Verletzten und Kranken wieder eine Lebensperspektive bekommen, brauchen sie nicht nur geistlichen Beistand, sondern vor allem Medikamente, kompetente Physiotherapie und qualitativ hochwertige Hilfsmittel. Den meisten syrischen Opfern fehlt dafür das Geld. Internationale Nichtregierungsorganisationen wie Handicap International, Ärzte ohne Grenzen und andere helfen Hunderttausenden. Dennoch erreichen auch sie längst nicht alle Bedürftigen.
    Eine kleine Gruppe engagierter syrischer Frauen im Exil beschloss deshalb Anfang 2013, private Spender zu mobilisieren und in Amman kostenlose Rehabilitation für besonders Bedürftige anzubieten - stationär und ambulant. Das Zentrum, in dem auch die beinamputierte Randa behandelt wird, befindet sich in einem großen Gebäude in einem Mittelklasseviertel der jordanischen Hauptstadt. Zu den Gründerinnen des Vereins "Syrian Women Across Borders" (Syrische Frauen über Grenzen hinweg) gehört Samaara Al Atassi. Die 31jährige Apothekerin, die in Syrien und in England aufwuchs, ist Mutter zweier Kinder und zur Zeit Hausfrau. Wir sitzen auf einem Sofa im Empfangsraum, ein Helfer bringt Kaffee, es wirkt gemütlich.
    "In anderen Zentren gibt es vielleicht mehr Technik, mehr Apparate. Bei uns ist die Atmosphäre sehr wichtig. Wir wollen, dass die Patienten sich hier geborgen und geschützt fühlen. Wir wollen ihnen das Gefühl geben, dass wir eine Familie sind, und dass wir ihre Schmerzen teilen."
    Respekt und Rechte für Behinderte gefordert
    Die meisten Patienten im Reha-Zentrum sind Zivilisten. Da Syriens medizinische Infrastruktur weitgehend zerstört ist, gibt es in weiten Teilen des Landes keine Erstversorgung mehr. So kommt es zu überdurchschnittlich vielen Amputationen und Lähmungen. Die Nichtregierungsorganisation Handicap International (HI) sieht aktuell rund 60.000 syrische Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon mit dauerhaften körperlichen Einschränkungen. Inoffizielle Schätzungen gehen von 500.000 Kriegsverletzten und 180.000 Amputierten im Syrienkonflikt aus. Angesichts dieser Dimension hält Samaara Al Atassi ein Umdenken in der syrischen Gesellschaft für unausweichlich. Mitleid und Almosen reichten nicht aus - es müsse um Respekt gehen und um Rechte:
    "Ich mag diese Begriffe nicht: Behinderte, oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Das sind Schubladen. Wir sind Menschen wie sie, und sie sind wie wir. Wenn wir etwas zum Positiven verändern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Gesellschaft allen Bürgern ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht."
    Ein selbstbestimmtes Leben - etwas anderes möchte sich auch die Bäuerin Randa nicht vorstellen. Nach dem ersten Schock macht sie jetzt Physiotherapie, um das verbliebene Bein zu kräftigen. Sie wird nicht mehr so hart arbeiten können wie früher. Aber wenn mit der Prothese alles gut läuft, wird sie im Sommer wieder bei ihrer Familie sein, morgens die Kinder für die Schule fertigmachen und mit ihrem Mann auf dem Moped zum Feld fahren.