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Tabu auf dem Campus

In Europa leiden etwa zwei Millionen junge Menschen an psychischen Störungen. Doch Depressionen, Magersucht oder Schizophrenie sind immer noch Tabuthemen, auch in der Uni. Psychisch kranke Studenten in Leipzig versuchen nun in einer Selbsthilfegruppe mit der Situation klar zu kommen.

Von Antje Hoffmann |
    Vorlesungen und Seminare besuchen, nachmittags in der Bibliothek büffeln und am Abend eine gute Party. Studentenalltag. Für die meisten ganz normal, für einige nur schwer zu meistern. Vor allem für Studierende, die an Bulimie, Depressionen oder einer Psychose leiden. In Leipzig treffen sich Studenten, die trotz psychischer Krankheit ihr Studium meistern wollen, in einer Selbsthilfegruppe. Darunter Michael, Sebastian und Anja.
    "M: Bei mir ist es eine Mischung aus Depressionen, Angst und vielleicht Wahnvorstellungen.
    S: Borderline, Persönlichkeitsstörungen haben sie mir vor Jahren diagnostiziert.
    A: Also ich hatte im letzten Jahr eine schwere depressive Episode und bin jetzt glücklicherweise durch Klinikaufenthalt aus allem raus gekommen."
    In der Klinik wurde Anja wieder gesund. Auch Michael und Sebastian geht es im Moment gut, obwohl sie zu den chronisch Erkrankten zählen. Alle drei suchten sie Kontakt zu Kommilitonen, die ähnliches erlebt haben. Bei der Selbsthilfegruppe Hopes fanden sie diesen Kontakt. Die Gruppe trifft sich seit einiger Zeit regelmäßig in Leipzig. Hopes - das heißt Hilfe und Orientierung für psychisch erkrankte Studierende. Aber Hopes heißt vor allem Hoffnung. Das Ziel aller, die hierher kommen, ist der erfolgreiche Studienabschluss. Dabei hilft ihnen Cornelia Jurak vom Bafögamt, eine der Gründerinnen von Hopes.

    "Es gibt bisher in Leipzig keine Möglichkeit, dass die jungen Leute sich treffen können, austauschen können. Sowohl über ihre Probleme, die mit der psychischen Erkrankung verbunden sind und natür-lich dann auch die damit verbundenen Probleme beim ganz normalen Studienalltag. Denn es ist oft so, dass wenn man psychisch krank ist, dass man ganz große Probleme hat, den Tag zu strukturieren und die einfachsten Dinge, wie aufstehen, waschen, Essen zubereiten bewältigen kann und dann noch einen Studienalltag dazu. Das ist oft eine sehr schwierige Situation."

    Kaum zu glauben, dass die 21-jährige Anja mit dem ansteckenden Lachen unter ihren blonden Struppelhaaren solche Probleme kennt. Doch Anja war ein halbes Jahr schwer krank, kam in die Psychiatrie und musste ihr Studium unterbrechen. Heute geht es ihr wieder gut und sie freut sich auf das neue Semester. Doch ein bitterer Nachgeschmack bleibt - sie weiß nicht, wie sie die Lücke in ihrem Lebenslauf erklären soll. Für ihre Praktikums-Bewerbung hat sie als Notlüge ein Urlaubssemester erfunden, aber wohl fühlt sie sich dabei ganz und gar nicht. Bei Hopes kann sie offen über ihre Sorgen sprechen.

    "A: Ich kann ja nicht sagen, ich hatte einen Beinbruch oder so. Ich kann ja nix lügen. Will ich ja auch nicht. Und ein halbes Jahr Urlaubssemester, da fragen die ja sicher ‚Wieso ham Sie denn Urlaubsse-mester gemacht.
    M: Wer fragt das?
    A: Na der Arbeitgeber, wenn das Lebenslauf steht.
    C: Wenn Du Dich bewirbst, ne…
    A: Also Urlaubssemester wollte ich rein schreiben und dann wollte ich sagen: ‚Aus familiären Grün-den’.
    M: Na sag doch einfach, Du hattest ein Bein gebrochen, oder so was.
    A: Will ich aber nicht. Ich will die Arbeitgeber och nicht anlügen.
    S: Du musst die aber anlügen, wenn du so was hast. Das ist einfach mal ein Fakt."

    Für viele, die eine psychische Krise erlebt haben, gehört die Lüge zum Alltag. Denn gegenüber ihren Krankheiten gibt es noch unzählige Vorurteile. Auch an der Uni Leipzig. Zwar gibt es vom Deutschen Studentenwerk einen Katalog zur Gleichstellung sowohl körperlich als auch seelisch chronisch kranker Studenten. Die Betroffenen können beispielsweise Prüfungsleistungen verschieben. Sie haben außerdem Anspruch auf spezielle Beurlaubungsregeln oder auf finanzielle Zusatzhilfen. Eine leitende Mitarbeiterin des Leipziger Studentenwerks schien von diesen Eckpunkten allerdings nichts zu wissen. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, dass psychisch Kranke überhaupt studieren. Die hätten doch sowieso keine Chance, einen Job zu finden, meint sie. Kein Einzelfall weiß Patrick Pfeil zu berichten. Er ist der Sozialreferent des Studentenrates der Universität Leipzig:

    "Ja also der Umgang der ist hochschulintern leider richtig so. Man akzeptiert die psychische Erkrankung bei den Studierenden meistens nicht und hält ihnen vor, sie würden wohl simulieren. Aber ansonsten wird das Problem, denk ich mal, unterschätzt zurzeit. Sowohl von den Lehrenden als auch vom Studentenwerk."

    Wie viele Studenten von psychischer Krankheit betroffen sind, kann niemand zuver-lässig beantworten. Bei Hopes meldeten sich immerhin in nur drei Monaten bereits 25 Studenten an. Sie haben den Mut gefunden, sich zu outen. Zumindest unter Gleichgesinnten. Für das kommende Semester hat nun der Studentenrat seine Hilfe für die Gruppe zugesagt. Vielleicht ein weiterer kleiner Schritt dafür, im Studienbetrieb anerkannt und gefördert zu werden.
    Anja beantwortet die Frage nach ihrer persönlichen Hoffnung, die sie mit Hopes verbindet so:

    "Dass Studenten da mehr Unterstützung bekommen. Weil es ja wirklich eine Krankheit ist. Und nicht irgendwie eine Verrücktheit oder so."