Die veränderte Wahrnehmung von Zeit im Zustand des von der Welt ausgeschlossen Seins spielt eine grosse Rolle im Konzept der Inszenierung. Sie zeigt neben der gleichförmigen Zeit der Gefangenen auch die Echtzeit der Zuschauer auf einer Bahnhofsuhr, die über dem Bühnengeschehen schwebt und die Zeit, die draußen vorbeizieht während der nunmehr 17 Haftjahre.
Eine Chronik der wichtigsten Ereignisse seit 1986 läuft wie eine Simultanübersetzung in der Oper auf einem Textband über der Bühne. Vorläufiges Ende der Zeitgeschichte: der Ausbruch des Irakkrieges. Drinnen hinter Gittern lernt eine Frau zunächst mit dem wenigen, das die Wärterinnen hereinbringen, zu leben. Bücher, Stoffbündel, Notizbücher und Blumen. Blumen spielen im Zellenleben der Eva Haule eine besondere Rolle: Sie waren für die frisch Inhaftierte 1986 das einzig Schöne, das ihr zu senden erlaubt war. Sie bedeuteten ihr die Verbindung zu einem Leben, in dem es auch Liebe gab. Und sie sind einer der wenigen möglichen Gegenstände ihrer fotografischen Arbeit, die 1993 begonnen hat. Das Programmheft druckt schwarz-weiße Nahaufnahmen von weißen Callas, die schon mehrfach in Ausstellungen zu sehen waren.
Auf der Bühne werden von der Tänzerin weiße Callas an den Körper gepresst als könnten sie die Liebe ersetzen, an die vielleicht der Absender erinnern wollte. Ein Paar tanzt neben und hinter der Gefangenen in inniger Zuneigung. Ohne grosse bühnentechnische Tricks gelingt es der Inszenierung die Figur, ihre Gedanken und ihre Gefühle gleichzeitig zu zeigen. Eva Haule, das sind auf der Bühne drei Menschen: eine junge Tänzerin, eine Schauspielerin näher dem realen Alter der 1954 geborenen Haule und der Musiker David Moss. Moss von tiefen männlichen bis hohen weiblichen Lagen changierende Stimme gibt der psychischen Selbstbehauptung einen Ausdruck. Die Schauspielerin schildert Wahrnehmungen. Die zerfallende Zeit zum Beispiel in der jede Zeitangabe nur noch ein vielleicht ist. Gestern, heute, morgen ? Vielleicht. Oder das Gefühl den Körper zu verlieren. Zwischen Knochen und Muskel ein immer größerer Spalt diagnostiziert die Gefangene. Alle Kraft scheint zu entweichen.
Alle drei Anteile der Figur finden zusammen zu einem Crescendo der Selbstbehauptung nach dem sich die junge und die ältere dem grauen Kleiderzwang widersetzt haben und barbusig in farblos verwaschenen Liebestötern ihr 'Ich bin" herausbrüllen.
Birgitta Trommler und ihr Ensemble haben einfache und eindrückliche Bilder gefunden, die den bedrückenden Zustand des Gefangenseins und die Behauptung der inneren Freiheit gegen diesen äußeren Umstand durch geistige Kraft nahe bringen. "Wenn der Körper eine Stummheit ist..." verzichtet auf plakative Aussagen. Das war auch nie Birgitta Trommlers Verständnis von politischem Tanztheater. Für sie ist das Politische am Theater, Zustände von Menschen zu erkunden, die sie nicht gern preisgeben. Ihr Tanztheater betreibt Ausgrabungen in der Psyche, die sehr viel mit gesellschaftlichen Zuständen zu tun haben. Seit über zwanzig Jahren erkundet sie so oft mit literarischer Vorlage und meist mit potenter musikalischer Kooperation wie in diesem Fall David Moss und Ali N. Askin vor allem anhand von Frauenfiguren Schichten des kollektiven Unbewußten, die bewußt betrachtet Unbehagen erzeugen. Am Ende aber steht immer wieder die Kraft, die aus der Konfrontation des Unangenehmen gewonnen werden kann. So auch hier: "Ich bin meine eigene Bedingung" sagt die dreifache Eva Haule zu ihrem scheinbar sinnlosen Leben. Ihre Darstellerinnen tragen ein rotes Samtkleid. Im Hintergrund hängt das Tanzensemble Stoff oder Papierstücke auf einen Rahmen, der aussieht wie der Trockenrahmen in einer Dunkelkammer. Die Produktivität der Fotografin wächst ins Unendliche während das Bühnenlicht verlischt.
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