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Tänzerische Auseinandersetzung mit der RAF

Füße begegnen sich oder weichen einander aus. Sie trippeln, latschen, trampeln. Sie stecken in feinem Leder auf flacher Sohle wie auf hohem Absatz oder robust in Turnschuhen. Nur den Schlitz bis zum Wadenansatz gibt der Vorhang frei während sich das Publikum setzt. Der Rest ist Fantasie. Was hat dieses Vorspiel mit dem Tanztheaterabend über die lebenslängliche Haft einer als RAF Mitglied verurteilten Frau zu tun? Er gibt das zentrale Thema vor: Hier geht es um die Kraft zu leben, die aus der Vorstellungskraft rührt. Im Darmstädter Theater erfährt man wenig über die Lebensstationen der Eva Haule, die das Stück inspiriert hat. Kindheit, Jugend, ihre Mitgliedschaft in der RAF, ihre Beteiligung an Gewalttaten - das alles bleibt so ausserhalb des Theaters wie es Eva Haule 1986 außerhalb ihrer Gefängniszelle gelassen hat. Die Choreographin Birgitta Trommler und ihre Mitarbeiterin Regina Heidecke haben nicht die Aufarbeitung eines Kapitels deutscher Zeitgeschichte im Sinn. Ihre Frage ist: Wie kann man als Gefangene psychisch intakt bleiben? Sie interessiert die ungewöhnliche Frau, die nach 17 Jahren Haft ohne Aussicht auf ein Ende mental ungebrochen nicht am Sinn ihres Lebens zweifelt.

Ein Beitrag von Christina-Maria Purkert |
    Zu Beginn windet sie sich allein auf der leeren Bühne, auf deren rechter Seite ein Gitter das Gefängnis markiert. Erst als grelle Scheinwerfer aus dem Boden fahren, scheint ihr die Einsicht der Ausweglosigkeit zu kommen. Die Choreographin läßt ihrer Figur Zeit für das Begreifen der Lage und das Ergreifen der verbliebenen Möglichkeiten. Tief dringt man ein in dieses Innenleben im Lauf der Zeit.

    Die veränderte Wahrnehmung von Zeit im Zustand des von der Welt ausgeschlossen Seins spielt eine grosse Rolle im Konzept der Inszenierung. Sie zeigt neben der gleichförmigen Zeit der Gefangenen auch die Echtzeit der Zuschauer auf einer Bahnhofsuhr, die über dem Bühnengeschehen schwebt und die Zeit, die draußen vorbeizieht während der nunmehr 17 Haftjahre.

    Eine Chronik der wichtigsten Ereignisse seit 1986 läuft wie eine Simultanübersetzung in der Oper auf einem Textband über der Bühne. Vorläufiges Ende der Zeitgeschichte: der Ausbruch des Irakkrieges. Drinnen hinter Gittern lernt eine Frau zunächst mit dem wenigen, das die Wärterinnen hereinbringen, zu leben. Bücher, Stoffbündel, Notizbücher und Blumen. Blumen spielen im Zellenleben der Eva Haule eine besondere Rolle: Sie waren für die frisch Inhaftierte 1986 das einzig Schöne, das ihr zu senden erlaubt war. Sie bedeuteten ihr die Verbindung zu einem Leben, in dem es auch Liebe gab. Und sie sind einer der wenigen möglichen Gegenstände ihrer fotografischen Arbeit, die 1993 begonnen hat. Das Programmheft druckt schwarz-weiße Nahaufnahmen von weißen Callas, die schon mehrfach in Ausstellungen zu sehen waren.

    Auf der Bühne werden von der Tänzerin weiße Callas an den Körper gepresst als könnten sie die Liebe ersetzen, an die vielleicht der Absender erinnern wollte. Ein Paar tanzt neben und hinter der Gefangenen in inniger Zuneigung. Ohne grosse bühnentechnische Tricks gelingt es der Inszenierung die Figur, ihre Gedanken und ihre Gefühle gleichzeitig zu zeigen. Eva Haule, das sind auf der Bühne drei Menschen: eine junge Tänzerin, eine Schauspielerin näher dem realen Alter der 1954 geborenen Haule und der Musiker David Moss. Moss von tiefen männlichen bis hohen weiblichen Lagen changierende Stimme gibt der psychischen Selbstbehauptung einen Ausdruck. Die Schauspielerin schildert Wahrnehmungen. Die zerfallende Zeit zum Beispiel in der jede Zeitangabe nur noch ein vielleicht ist. Gestern, heute, morgen ? Vielleicht. Oder das Gefühl den Körper zu verlieren. Zwischen Knochen und Muskel ein immer größerer Spalt diagnostiziert die Gefangene. Alle Kraft scheint zu entweichen.

    Alle drei Anteile der Figur finden zusammen zu einem Crescendo der Selbstbehauptung nach dem sich die junge und die ältere dem grauen Kleiderzwang widersetzt haben und barbusig in farblos verwaschenen Liebestötern ihr 'Ich bin" herausbrüllen.

    Birgitta Trommler und ihr Ensemble haben einfache und eindrückliche Bilder gefunden, die den bedrückenden Zustand des Gefangenseins und die Behauptung der inneren Freiheit gegen diesen äußeren Umstand durch geistige Kraft nahe bringen. "Wenn der Körper eine Stummheit ist..." verzichtet auf plakative Aussagen. Das war auch nie Birgitta Trommlers Verständnis von politischem Tanztheater. Für sie ist das Politische am Theater, Zustände von Menschen zu erkunden, die sie nicht gern preisgeben. Ihr Tanztheater betreibt Ausgrabungen in der Psyche, die sehr viel mit gesellschaftlichen Zuständen zu tun haben. Seit über zwanzig Jahren erkundet sie so oft mit literarischer Vorlage und meist mit potenter musikalischer Kooperation wie in diesem Fall David Moss und Ali N. Askin vor allem anhand von Frauenfiguren Schichten des kollektiven Unbewußten, die bewußt betrachtet Unbehagen erzeugen. Am Ende aber steht immer wieder die Kraft, die aus der Konfrontation des Unangenehmen gewonnen werden kann. So auch hier: "Ich bin meine eigene Bedingung" sagt die dreifache Eva Haule zu ihrem scheinbar sinnlosen Leben. Ihre Darstellerinnen tragen ein rotes Samtkleid. Im Hintergrund hängt das Tanzensemble Stoff oder Papierstücke auf einen Rahmen, der aussieht wie der Trockenrahmen in einer Dunkelkammer. Die Produktivität der Fotografin wächst ins Unendliche während das Bühnenlicht verlischt.

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