Wer als hessischer Genosse heute morgen zum Parteitag will, der kommt nicht nur an der roten Schlange mit dem SPD-Aufdruck vorbei. Mit stark gepresster Innenluft bläst die "Ich-will-an-die-Macht-Maschine" sich steil in Hessens Himmel hinein.
Er kommt auch an den Anderen, den Ungeliebten nicht vorbei.
Vor der Kongresshalle in Rotenburg an der Fulda machen die Nachwuchskräfte von FDP und CDU mobil. Mark Matthis vom Landesvorstand der Jungen Liberalen steht mit einer selbstgebastelten und aufgesteckten roten Y-Nase direkt am Eingang. Blaugelbe Texte in seinen Parteifarben sollen vor einer rotgrünen Minderheitsregierung mit dunkelroter Duldung warnen.
"Weil wir hier demonstrieren wollen mit Plakaten von Frau Andrea Ypsilanti, wie sie gesagt hat, sie wird es nie mit den Linken machen. Und wir wollen eben jetzt sagen, dass waren die Zitate, die Frau Ypsilanti gemacht hat, und wir wollen uns dagegen stellen und das eben heute klar machen, nicht zuletzt mit Ypsilanti-Nasen, die dem Pinocchio nachempfunden sind."
"Wir versuchen, die Partei, die Basis dazu zu bringen, noch einmal nachzudenken, ob das mit dem Linksbündnis wirklich das Wahre ist - und ob Links Hessen weiterbringt. Wir befürchten einfach, dass das Land Hessen bergab geht durch die Linken und dass der Verfassungsschutz verfällt und auch die Bildung bergab geht,"
sagt Patricia Kaiser nur ein paar Meter weiter. Sie verteilt Flugblätter der Jungen Union mit demselben Ziel. Auf den Blättern ist nun Andrea Ypsilanti mit einer Pinocchio-Nase karikiert; eine Mischung aus parteipolitischer Überzeugung und Angst vor einem Regierungswechsel, der Hessen in den Abgrund führen könnte, weht hier durch das Rotenburger Herbstlaub, das bunt auf den Pflastersteinen verfliegt.
Das Spießrutenlaufen nach erfolgter Wahlkampf-Lüge wollen die aus dem anderen Farbspektrum der SPD nicht ersparen.
Es scheint wie ein letztes Aufbäumen, bis Roland Koch, der jetzige, aber inzwischen machtlose Regierungschef abdanken muss.
"Stellt Frauen ein! Die Mischung zwischen Männer und Frauen ist das Beste, was uns passieren kann."
"Ja, wir sind belastbarer."
"Ja, und die Männer wollen hier eine Frau an die Spitze!"
"Gut, meinst Du?"
"Ja!"
"Ja, ich hab auch das Gefühl."
"Schön. Gefühl trügt nicht!"
Da stöckelt sie also im tiefschwarzen Anzug mit weißer Bluse durchs Foyer ins Plenum zu ihren Delegierten und smalltalkt über sich selbst und ihre Rolle als Frau.
Oder besser noch: Sie wird gesmall-talkt.
Die Lügnerin, die Standhafte, die Wiederauferstandene nach dem ersten Versuch an die Macht, die Abtrünnige der Bundes-SPD: Wie sonst sollen die Genossen an diesem "Tag der Wahrheit" das Gespräch auch mit ihr suchen, wenn nicht eher indirekt.
Und doch: Die Möchtegern-Ministerpräsidentin findet das vorab gesetzte Thema gar nicht so abwegig, wenn sie es vor unserem Mikrofon historisch vertieft.
"Natürlich werden Männer und Frauen, was sie politisch tun, unterschiedlich beurteilt. Ich denke, das ist auch nicht verwunderlich, wenn man weiß, dass fast nur Männer früher in der Politik waren. Die haben die Rituale gemacht, die haben die Maßstäbe gesetzt, und dass Frauen da mit diesen Maßstäben, mit den Ritualen manchmal weniger gut zurechtkommen oder sie auch ändern wollen, dann auf Widerstände stoßen, ich glaube, das ist normal. Und ich bin fest davon überzeugt, wenn ein Mann diesen Weg gegangen wäre, hätte man gesagt, na ja, was denn sonst als an die Regierung und die Inhalte durchsetzen? Bei einer Frau wird das nun ein bisschen kritischer bewertet, aber wenn es leicht wäre, könnte es ja jeder."
Die Probeabstimmung zu Beginn dieser Woche hat Andrea Ypsilanti für sich entscheiden können; mit einer Enthaltung.
Kurios, dass die Grünen sie angezettelt hatten, der anvisierte Koalitionspartner der Sozialdemokraten. Noch einmal ein Scherbengericht will Grünen-Vorsitzender Tarek Al Wazir nicht erleben, nachdem der erste Versuch im März gescheitert war. Der versprochenen Politikwechsel, so wird sie später in einer engagierten Rede in den Saal rufen, lasse sich nur in der Regierung umsetzen, nicht in der Opposition. Und zwar mit einem neuen Stil.
"Viele von Euch waren auf den Regionalkonferenzen der letzten Wochen und wir sind auf diesen Regionalkonferenzen für diesen Weg ermutigt worden. Auch schon, dass diese Regionalkonferenzen, diese Diskussion, breit angelegt ist in der Partei, markiert einen wesentlichen Unterschied in der politischen Kultur zur CDU, Genossinnen und Genossen, die mit ihrem Anführer Roland Koch eine ganz andere Art praktiziert. Und im Grunde genommen hat sich an der Politik der CDU in den jetzt schon fast zehn Jahren nichts geändert. Früher hatten sie sich auf einer Autobahn-Raststätte getroffen, heute treffen sie sich im Kabinettssaal der Staatskanzlei."
Noch ein letztes Mal kämpft sie im Saal für den Zuspruch der Delegierten. Die sollen die SPD-Landesvorsitzende heute offiziell mit Koalitionsverhandlungen beauftragen.
Genau das aber kritisieren CDU und FDP - und auch externe Beobachter und Kommentatoren in den Medien.
Erst die Probeabstimmungen nicht nur in der SPD - auch bei Grünen und Linken - und danach die inhaltlichen Verhandlungen. Falsche Reihenfolge, verkehrte Welt, schallen da die Widersacher.
Dem unbändigen Willen, in die hessische Staatskanzlei einzuziehen, tut das aber offenbar keinen Abbruch. Nancy Faeser, Justizministerin in dem SPD-geführten Schattenkabinett.
"Ich glaube, wir begehen hier einen sehr ungewöhnlichen Weg, und deswegen ist es auch notwendig, die Partei weit möglichst mitzunehmen. Deswegen haben wir uns für den Weg entschieden, zwei Parteitage zu machen, nämlich einen, wo die Partei sich mitentscheidet: Wollen wir den Weg überhaupt? Und dann den zweiten, der über die inhaltlichen Verhandlungen entscheidet. Das ist zwingend notwendig, weil dann wird es noch einmal für den ein oder anderen leicht spannend, an der ein oder anderen Ecke auch zu überlegen: Kann ich diese Inhalte mittragen oder nicht?"
Mit nur einer hauchdünnen Stimme Vorsprung würde - wenn es denn tatsächlich so käme - Andrea Ypsilanti das rotgrüne Bündnis mit linkem Duldungs-Wagnis einleiten.
Einem Wagnis, dass der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck eigentlich nicht wollte und das auch das neue Führungsduo, Müntefering und Steinmeier, gar nicht gerne sieht. Doch ein Zurück gibt es nicht mehr.
"Koch muss weg!" - der gemeinsame Wunsch eint die drei Fraktionen, die schon bald auch in Sachfragen zusammenarbeiten wollen. Komme da, was wolle.
Das erklärte Ziel hat es in sich, denn grün sind sich die Roten nicht:
Der Ausbau der Flughäfen in Kassel und Frankfurt: Die Sozialdemokraten bestehen darauf, Linke und Grüne setzen alles daran, ihn zu verhindern.
Vor einigen Tagen erst mussten die Linken eine illegale Anti-Flughafen-Hütte räumen, die sie als sogenanntes "Fraktionsbüro vor Ort" selbst errichtet hatten. Ein "Bruch von Rechtsstaatlichkeit" hat Roland Koch genüsslich zum Besten gegeben und darauf verwiesen, mit so etwas wollten die Sozialdemokraten nun gemeinsame Sache machen. Doch die ficht das nicht ernsthaft an. Ypsilanti schlägt zurück.
"Manchmal beschleicht mich das Gefühl, für die CDU ist der Kalte Krieg nicht nur Geschichte. Und dabei war es die CDU - auch das muss immer wieder deutlich gesagt werden - es war die CDU, die sich die SED-treuen Blockparteien aus der ehemaligen DDR mitsamt ihren Stasi-Mitarbeitern und dem Vermögen einverleibt hat."
Und auch der potenzielle Koalitionspartner führt Ypsilanti noch kurz vor der geplanten Hochzeit an der Nase herum. Gleich mehrfach haben Grüne und Schwarze in überraschender Einmütigkeit kurz vor dem heutigen Parteitag Gesetzesvorhaben durchgezogen.
"Ich glaube, das ist ein politisches Spielchen der Grünen, dass man versucht, den politischen Preis hochzutreiben. Aber ich glaube, dass die Grünen sehr genau wissen, dass Jamaika für sie keine Option ist bei der Wählerschaft. Wenn sie eine Jamaika-Koalition eingehen werden und Roland Koch halten würden, dann würde es das nächste Mal mit der Fünf-Prozent-Hürde eng. Das war ein bisschen Säbelrasseln von den Grünen - auch gegenüber der SPD, aber an sich glaube ich, dass sich das verfliegt in den nächsten Tagen, wenn wir in Koalitionsverhandlungen einsteigen werden."
Die erste links-tolerierte Regierung in einem westlichen Bundesland noch in diesem Jahr - wie können die Genossen im Bund da noch glaubwürdig bleiben, wenn sie eben jene Kooperation im Bund weiter ausschließen? Andrea Ypsilanti beruhigt:
"Ich bin Kurt Beck dankbar für den Hamburger Parteitag, denn ehrlicherweise müssen wir sagen, der hat uns auch in Hessen beflügelt. Und ich bin Kurt Beck dankbar, wie er im hessischen Wahlkampf an unserer Seite gestanden hat und in Hessen mitgekämpft hat und auch nicht zuletzt dafür, dass er nach der Totalverweigerung der FDP mit dem Beschluss, die Landesverbände entscheiden, den Weg frei gemacht hat, dass wir heute das entscheiden können, was wir heute entscheiden wollen. Ich habe mit unserem designierten Vorsitzenden Franz Müntefering vor zwölf Tagen solidarisch über unser Vorhaben gesprochen und er will, dass wir verantwortungsvoll vorgehen. Er steht dazu, dass die Entscheidung dem Landesverband obliegt. Ich habe ihm aber auch gesagt: Ich bin davon überzeugt, dass das Gelingen dieses Projektes kein Schaden für die Bundes-SPD ist, sondern auch der Bundes-SPD Auftrieb geben kann."
"Gibt's Enthaltungen?"
"Drei, dann ist dieser Leitantrag gegen sieben Gegenstimmen mit überwältigender Mehrheit des Parteitages beschlossen worden."
Der so sehr herbeigesehnte Auftrag, den Andrea Ypsilanti mit diesem Abstimmungsergebnis schließlich mit nach Hause nehmen kann, hat eine aufreibende Vorgeschichte. Unprofessionell und politisch naiv ist sie zunächst in das Abenteuer, das noch lange nicht vorüber ist, hereingestolpert.
Hessischer Landtagswahlkampf Ende 2007, Anfang 2008. Wie hält sie es mit der Linken, wird SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti in zahllosen Interviews gefragt. So auch im TV-Duell mit Roland Koch, das der Hessische Rundfunk kurz vor der Wahl Ende Januar 2008 ausstrahlt:
"Die Linke hat angeboten, eine rot-grüne Koalition zu dulden. Wäre doch ein verlockendes Angebot: Sie könnten dann bundespolitisch die Wende einleiten. Das ist kein verlockendes Angebot. Ich brauche die Linke nicht, ich gehe davon aus, dass sie nicht in den Landtag kommt. Es bleibt dabei: nicht mit den Linken."
Erst am Ende des Wahlsonntags am 27. Januar steht fest: Die SPD ist trotz des Einbruchs der CDU mit deren Frontmann Roland Koch nur knappe zweite Siegerin, die Linke erobert 5,1 Prozent der Wählerstimmen und damit sechs Sitze im Hessischen Landtag. Rot-Grün hat die absolute Mehrheit um fünf Stimmen verfehlt. Den Februar über wirbt die SPD heftig, aber erfolglos um die Gunst der Liberalen, bis diese entnervt von "Stalking" sprechen. Eine Ampel mit der linken Hessen-SPD - undenkbar, wehrt FDP-Landeschef Jörg-Uwe Hahn ab. Dennoch wiederholt Andrea Ypsilanti unverdrossen:
"Ich möchte zur Wahl der Ministerpräsidentin eine eigene Mehrheit ohne die Linke, und dabei bleibt es, und ich finde, das ist eine klare Aussage."
Doch kurz vor der Hamburg-Wahl sickert - wohl infolge einer SPD-internen Kommunikationspanne - überraschend durch, was erst später hätte bekannt werden sollen. Nämlich, dass der damalige SPD-Bundesvorsitzende Kurt Beck seine strikte Ablehnung gegen eine rot-rote Kooperation in Hessen aufgibt. Von da an dementieren lokale SPD-Granden nicht mehr, dass sich Andrea Ypsilanti mit Hilfe der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lassen könnte, und CDU-Fraktionschef Christian Wagner schäumt.
"Hier bahnt sich ein großer Wählerbetrug an."
Die SPD ihrerseits drischt auf die FDP ein: Sie werde ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung nicht gerecht. Gleichzeitig kreiert Chef-Genossin Ypsilanti eine Hierarchie von Wahlversprechen, um den nahenden Wortbruch zu rechtfertigen. Eines müsse sie brechen, um andere zu halten.
Doch ein Mitglied in der SPD-Fraktion verweigert sich der neuen Rangfolge. Die entscheidende Fraktionssitzung verpasst Dagmar Metzger wegen Skiurlaubs, ihren Widerspruch tut die Darmstädter Abgeordnete intern erst am Vorabend des geplanten Beginns von Koalitionsverhandlungen Ende März kund. Die meisten Sozialdemokraten sind entsetzt, die Grünen brüskiert. Aus Gewissensgründen will die gebürtige Berlinerin ihre Landesvorsitzende nicht zur Ministerpräsidentin wählen, wenn die dafür die Stimmen der Linken braucht:
"Für mich ist ganz stark im Vordergrund die Geschichte der SPD im Zusammenhang mit der alten SED. Man darf nicht vergessen, wie Genossen und Genossinnen darunter gelitten haben. Die Linken sind für mich im Moment überhaupt nicht einschätzbar und für mich steht im Vordergrund auch die Aussage, die wir vor dem Wahlkampf getroffen haben, mit den Linken unter keinen Umständen irgend etwas zusammen einzugehen."
Versuche, Dagmar Metzger umzustimmen oder zur Rückgabe ihres Mandats zu bewegen, scheitern. Der erste Anlauf der SPD an die Macht ist damit gestoppt, bevor er überhaupt richtig begonnen hat.
4. April 2008: Die konstituierende Sitzung des Hessischen Landtags beginnt, ohne dass ein Neuer oder eine Neue auf den Chefsessel in der hessischen Staatskanzlei gehievt wird. Roland Koch bleibt geschäftsführend im Amt - als Ministerpräsident ohne parlamentarische Mehrheit im Rücken. Der CDU-Politiker verspricht, keine Gesetzesinitiativen torpedieren zu wollen, die SPD, Grüne und Linke gemeinsam durchsetzen:
"Der Respekt davor, dass das Parlament Entscheidungen treffen kann, sollte bei jedem im Blut sein, das ist ein Wesenselement der demokratischen Gesellschaft."
Roland Koch schlüpft in eine neue Rolle: der milde lächelnde Verwalter hessischer Geschicke - staatsmännisch zurückhaltend. Die Grünen nehmen halb amüsiert, halb geschmeichelt zur Kenntnis, dass der geschäftsführende Ministerpräsident sie nicht mehr mit Schaum vorm Mund als "Ultralinke" geißelt. Doch sie misstrauen den neuen moderaten Tönen aus dem christdemokratischen Lager. Statt dem Werben der Konservativen und Liberalen nachzugeben, schaffen sie gemeinsam mit SPD und Linken die Studiengebühren ab - allerdings erst im zweiten Anlauf. Der erste scheitert spektakulär Anfang Juni - am Einspruch des hessischen Regierungschefs. Begründung: im rot-grünen Gesetzestext fehle die entscheidende Passage, wonach die Gebühren mit dem Sommersemester 2008 auslaufen.
"Dieses Gesetz ist handwerklich unzulänglich, jenseits eines politischen Streits, und nur um diese Frage geht es."
Was die linke Mehrheit im Landtag dem Christdemokraten nicht abnimmt. Der geschäftsführende Ministerpräsident bausche einen simplen Textübertragungsfehler auf, so argwöhnen Rote, Grüne und Dunkelrote, um sie als Vereinigung von Dilettanten dastehen zu lassen. Das Problem für Roland Koch: Der Strategiewechsel hin zur gnadenlosen Attacke konterkariert seine bis dahin gefahrene Taktik, sich als hyperkorrekter, höflicher Lenker der Firma "Hessen" zu profilieren - und als "Partner des Parlaments", so hatte er es selbst formuliert. Grünen-Frontmann Tarek Al Wazir legt den Finger genau in diese Wunde:
"Das waren die alten Mätzchen, die alten Mätzchen, Herr Ministerpräsident, das war nicht der neue Landtag. Meine Oma hat früher immer gesagt: Der Kater lässt das Mausen nicht und ich sage Ihnen: Roland Koch bleibt Roland Koch."
Der Eklat um die Studiengebühren macht die Option Schwarz-Gelb-Grün zunichte, noch bevor die Grünen sie überhaupt ernst genommen haben. Dass der erste Anlauf an die Macht vorzeitig scheiterte - ein Schock, der allmählich nachlässt, auch bei Sozialdemokraten und Linken. Immer lauter wird die alte Wahlkampf-Forderung "Koch muss weg". Sie avanciert zum Minimalkonsens für den zweiten Anlauf. Dass seine Gegenspielerin Andrea Ypsilanti erneut versuchen will, ihn aus der Staatskanzlei zu vertreiben, kommt nicht unerwartet für den christdemokratischen Regierungschef.
"Allerdings ist eben das gebrochene Wort von Andrea Ypsilanti nicht nur ein gebrochenes Wort gegenüber den Wählern in diesem Bundesland mit all den Folgen für die Glaubwürdigkeit der SPD, sondern es ist auch ein gebrochenes Wort gegenüber der Parteiführung der SPD in Deutschland."
Auf vier Regionalkonferenzen haben sich Sozialdemokraten nicht beeindrucken lassen von dem Kochschen Versuch, einen Keil zwischen Andrea Ypsilanti und die Bundesspitze ihrer Partei zu treiben. Im Gegenteil: Unverdrossen ermuntern die Genossen zwischen Alsfeld im Norden und Bensheim im Süden die Hessen-SPD und deren Frontfrau, das rot-grüne Experiment mit linker Assistenz zu beginnen - und zwar sofort:
"Ich denk', die SPD muss mal einen Aufbruch wagen. Wir haben jetzt ein halbes Jahre Stillstand, und ich denke, die Leute haben SPD gewählt, damit sich was verändert. Und Veränderungen kann man nur als Regierungspartei erreichen. Sie muss es versuchen. Je länger es dauert, desto mehr spielen wir dem Herrn Koch in die Karten, und den wollen wir ja ablösen."
65 Prozent aller Hessen sind nach Umfragen dagegen, dass Andrea Ypsilanti ihr Wahlversprechen bricht. Sie möchten nicht, dass Rotgrün zu Stande kommt und dabei von links unterstützt wird.
Wenn am Dienstag die Koalitions- und Duldungsverhandlungen starten, dann dauert es nicht mehr lange bis zum nächsten Parteitag.
Am 1. November sollen die Genossen schon wieder zusammenkommen und abstimmen. Dann über die Inhalte, auf die sich die Koalitionäre und Kooperationspartner verständigt haben. Der nächste Tag der Wahrheit!
Schon Anfang November könnte die neue hessische Regierung stehen - wenn kein Debakel à la Simonis folgt.
Wenn doch, dann dürfte das politische Ende von Andrea Ypsilanti besiegelt sein. Sie selbst kalkuliert das ganz offen ein: das Spiel heißt "Alles oder nichts." Oder - wie sie es heute noch ganz nebenbei ausdrückt:
"Es kann immer was schief gehen im Leben."
Er kommt auch an den Anderen, den Ungeliebten nicht vorbei.
Vor der Kongresshalle in Rotenburg an der Fulda machen die Nachwuchskräfte von FDP und CDU mobil. Mark Matthis vom Landesvorstand der Jungen Liberalen steht mit einer selbstgebastelten und aufgesteckten roten Y-Nase direkt am Eingang. Blaugelbe Texte in seinen Parteifarben sollen vor einer rotgrünen Minderheitsregierung mit dunkelroter Duldung warnen.
"Weil wir hier demonstrieren wollen mit Plakaten von Frau Andrea Ypsilanti, wie sie gesagt hat, sie wird es nie mit den Linken machen. Und wir wollen eben jetzt sagen, dass waren die Zitate, die Frau Ypsilanti gemacht hat, und wir wollen uns dagegen stellen und das eben heute klar machen, nicht zuletzt mit Ypsilanti-Nasen, die dem Pinocchio nachempfunden sind."
"Wir versuchen, die Partei, die Basis dazu zu bringen, noch einmal nachzudenken, ob das mit dem Linksbündnis wirklich das Wahre ist - und ob Links Hessen weiterbringt. Wir befürchten einfach, dass das Land Hessen bergab geht durch die Linken und dass der Verfassungsschutz verfällt und auch die Bildung bergab geht,"
sagt Patricia Kaiser nur ein paar Meter weiter. Sie verteilt Flugblätter der Jungen Union mit demselben Ziel. Auf den Blättern ist nun Andrea Ypsilanti mit einer Pinocchio-Nase karikiert; eine Mischung aus parteipolitischer Überzeugung und Angst vor einem Regierungswechsel, der Hessen in den Abgrund führen könnte, weht hier durch das Rotenburger Herbstlaub, das bunt auf den Pflastersteinen verfliegt.
Das Spießrutenlaufen nach erfolgter Wahlkampf-Lüge wollen die aus dem anderen Farbspektrum der SPD nicht ersparen.
Es scheint wie ein letztes Aufbäumen, bis Roland Koch, der jetzige, aber inzwischen machtlose Regierungschef abdanken muss.
"Stellt Frauen ein! Die Mischung zwischen Männer und Frauen ist das Beste, was uns passieren kann."
"Ja, wir sind belastbarer."
"Ja, und die Männer wollen hier eine Frau an die Spitze!"
"Gut, meinst Du?"
"Ja!"
"Ja, ich hab auch das Gefühl."
"Schön. Gefühl trügt nicht!"
Da stöckelt sie also im tiefschwarzen Anzug mit weißer Bluse durchs Foyer ins Plenum zu ihren Delegierten und smalltalkt über sich selbst und ihre Rolle als Frau.
Oder besser noch: Sie wird gesmall-talkt.
Die Lügnerin, die Standhafte, die Wiederauferstandene nach dem ersten Versuch an die Macht, die Abtrünnige der Bundes-SPD: Wie sonst sollen die Genossen an diesem "Tag der Wahrheit" das Gespräch auch mit ihr suchen, wenn nicht eher indirekt.
Und doch: Die Möchtegern-Ministerpräsidentin findet das vorab gesetzte Thema gar nicht so abwegig, wenn sie es vor unserem Mikrofon historisch vertieft.
"Natürlich werden Männer und Frauen, was sie politisch tun, unterschiedlich beurteilt. Ich denke, das ist auch nicht verwunderlich, wenn man weiß, dass fast nur Männer früher in der Politik waren. Die haben die Rituale gemacht, die haben die Maßstäbe gesetzt, und dass Frauen da mit diesen Maßstäben, mit den Ritualen manchmal weniger gut zurechtkommen oder sie auch ändern wollen, dann auf Widerstände stoßen, ich glaube, das ist normal. Und ich bin fest davon überzeugt, wenn ein Mann diesen Weg gegangen wäre, hätte man gesagt, na ja, was denn sonst als an die Regierung und die Inhalte durchsetzen? Bei einer Frau wird das nun ein bisschen kritischer bewertet, aber wenn es leicht wäre, könnte es ja jeder."
Die Probeabstimmung zu Beginn dieser Woche hat Andrea Ypsilanti für sich entscheiden können; mit einer Enthaltung.
Kurios, dass die Grünen sie angezettelt hatten, der anvisierte Koalitionspartner der Sozialdemokraten. Noch einmal ein Scherbengericht will Grünen-Vorsitzender Tarek Al Wazir nicht erleben, nachdem der erste Versuch im März gescheitert war. Der versprochenen Politikwechsel, so wird sie später in einer engagierten Rede in den Saal rufen, lasse sich nur in der Regierung umsetzen, nicht in der Opposition. Und zwar mit einem neuen Stil.
"Viele von Euch waren auf den Regionalkonferenzen der letzten Wochen und wir sind auf diesen Regionalkonferenzen für diesen Weg ermutigt worden. Auch schon, dass diese Regionalkonferenzen, diese Diskussion, breit angelegt ist in der Partei, markiert einen wesentlichen Unterschied in der politischen Kultur zur CDU, Genossinnen und Genossen, die mit ihrem Anführer Roland Koch eine ganz andere Art praktiziert. Und im Grunde genommen hat sich an der Politik der CDU in den jetzt schon fast zehn Jahren nichts geändert. Früher hatten sie sich auf einer Autobahn-Raststätte getroffen, heute treffen sie sich im Kabinettssaal der Staatskanzlei."
Noch ein letztes Mal kämpft sie im Saal für den Zuspruch der Delegierten. Die sollen die SPD-Landesvorsitzende heute offiziell mit Koalitionsverhandlungen beauftragen.
Genau das aber kritisieren CDU und FDP - und auch externe Beobachter und Kommentatoren in den Medien.
Erst die Probeabstimmungen nicht nur in der SPD - auch bei Grünen und Linken - und danach die inhaltlichen Verhandlungen. Falsche Reihenfolge, verkehrte Welt, schallen da die Widersacher.
Dem unbändigen Willen, in die hessische Staatskanzlei einzuziehen, tut das aber offenbar keinen Abbruch. Nancy Faeser, Justizministerin in dem SPD-geführten Schattenkabinett.
"Ich glaube, wir begehen hier einen sehr ungewöhnlichen Weg, und deswegen ist es auch notwendig, die Partei weit möglichst mitzunehmen. Deswegen haben wir uns für den Weg entschieden, zwei Parteitage zu machen, nämlich einen, wo die Partei sich mitentscheidet: Wollen wir den Weg überhaupt? Und dann den zweiten, der über die inhaltlichen Verhandlungen entscheidet. Das ist zwingend notwendig, weil dann wird es noch einmal für den ein oder anderen leicht spannend, an der ein oder anderen Ecke auch zu überlegen: Kann ich diese Inhalte mittragen oder nicht?"
Mit nur einer hauchdünnen Stimme Vorsprung würde - wenn es denn tatsächlich so käme - Andrea Ypsilanti das rotgrüne Bündnis mit linkem Duldungs-Wagnis einleiten.
Einem Wagnis, dass der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck eigentlich nicht wollte und das auch das neue Führungsduo, Müntefering und Steinmeier, gar nicht gerne sieht. Doch ein Zurück gibt es nicht mehr.
"Koch muss weg!" - der gemeinsame Wunsch eint die drei Fraktionen, die schon bald auch in Sachfragen zusammenarbeiten wollen. Komme da, was wolle.
Das erklärte Ziel hat es in sich, denn grün sind sich die Roten nicht:
Der Ausbau der Flughäfen in Kassel und Frankfurt: Die Sozialdemokraten bestehen darauf, Linke und Grüne setzen alles daran, ihn zu verhindern.
Vor einigen Tagen erst mussten die Linken eine illegale Anti-Flughafen-Hütte räumen, die sie als sogenanntes "Fraktionsbüro vor Ort" selbst errichtet hatten. Ein "Bruch von Rechtsstaatlichkeit" hat Roland Koch genüsslich zum Besten gegeben und darauf verwiesen, mit so etwas wollten die Sozialdemokraten nun gemeinsame Sache machen. Doch die ficht das nicht ernsthaft an. Ypsilanti schlägt zurück.
"Manchmal beschleicht mich das Gefühl, für die CDU ist der Kalte Krieg nicht nur Geschichte. Und dabei war es die CDU - auch das muss immer wieder deutlich gesagt werden - es war die CDU, die sich die SED-treuen Blockparteien aus der ehemaligen DDR mitsamt ihren Stasi-Mitarbeitern und dem Vermögen einverleibt hat."
Und auch der potenzielle Koalitionspartner führt Ypsilanti noch kurz vor der geplanten Hochzeit an der Nase herum. Gleich mehrfach haben Grüne und Schwarze in überraschender Einmütigkeit kurz vor dem heutigen Parteitag Gesetzesvorhaben durchgezogen.
"Ich glaube, das ist ein politisches Spielchen der Grünen, dass man versucht, den politischen Preis hochzutreiben. Aber ich glaube, dass die Grünen sehr genau wissen, dass Jamaika für sie keine Option ist bei der Wählerschaft. Wenn sie eine Jamaika-Koalition eingehen werden und Roland Koch halten würden, dann würde es das nächste Mal mit der Fünf-Prozent-Hürde eng. Das war ein bisschen Säbelrasseln von den Grünen - auch gegenüber der SPD, aber an sich glaube ich, dass sich das verfliegt in den nächsten Tagen, wenn wir in Koalitionsverhandlungen einsteigen werden."
Die erste links-tolerierte Regierung in einem westlichen Bundesland noch in diesem Jahr - wie können die Genossen im Bund da noch glaubwürdig bleiben, wenn sie eben jene Kooperation im Bund weiter ausschließen? Andrea Ypsilanti beruhigt:
"Ich bin Kurt Beck dankbar für den Hamburger Parteitag, denn ehrlicherweise müssen wir sagen, der hat uns auch in Hessen beflügelt. Und ich bin Kurt Beck dankbar, wie er im hessischen Wahlkampf an unserer Seite gestanden hat und in Hessen mitgekämpft hat und auch nicht zuletzt dafür, dass er nach der Totalverweigerung der FDP mit dem Beschluss, die Landesverbände entscheiden, den Weg frei gemacht hat, dass wir heute das entscheiden können, was wir heute entscheiden wollen. Ich habe mit unserem designierten Vorsitzenden Franz Müntefering vor zwölf Tagen solidarisch über unser Vorhaben gesprochen und er will, dass wir verantwortungsvoll vorgehen. Er steht dazu, dass die Entscheidung dem Landesverband obliegt. Ich habe ihm aber auch gesagt: Ich bin davon überzeugt, dass das Gelingen dieses Projektes kein Schaden für die Bundes-SPD ist, sondern auch der Bundes-SPD Auftrieb geben kann."
"Gibt's Enthaltungen?"
"Drei, dann ist dieser Leitantrag gegen sieben Gegenstimmen mit überwältigender Mehrheit des Parteitages beschlossen worden."
Der so sehr herbeigesehnte Auftrag, den Andrea Ypsilanti mit diesem Abstimmungsergebnis schließlich mit nach Hause nehmen kann, hat eine aufreibende Vorgeschichte. Unprofessionell und politisch naiv ist sie zunächst in das Abenteuer, das noch lange nicht vorüber ist, hereingestolpert.
Hessischer Landtagswahlkampf Ende 2007, Anfang 2008. Wie hält sie es mit der Linken, wird SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti in zahllosen Interviews gefragt. So auch im TV-Duell mit Roland Koch, das der Hessische Rundfunk kurz vor der Wahl Ende Januar 2008 ausstrahlt:
"Die Linke hat angeboten, eine rot-grüne Koalition zu dulden. Wäre doch ein verlockendes Angebot: Sie könnten dann bundespolitisch die Wende einleiten. Das ist kein verlockendes Angebot. Ich brauche die Linke nicht, ich gehe davon aus, dass sie nicht in den Landtag kommt. Es bleibt dabei: nicht mit den Linken."
Erst am Ende des Wahlsonntags am 27. Januar steht fest: Die SPD ist trotz des Einbruchs der CDU mit deren Frontmann Roland Koch nur knappe zweite Siegerin, die Linke erobert 5,1 Prozent der Wählerstimmen und damit sechs Sitze im Hessischen Landtag. Rot-Grün hat die absolute Mehrheit um fünf Stimmen verfehlt. Den Februar über wirbt die SPD heftig, aber erfolglos um die Gunst der Liberalen, bis diese entnervt von "Stalking" sprechen. Eine Ampel mit der linken Hessen-SPD - undenkbar, wehrt FDP-Landeschef Jörg-Uwe Hahn ab. Dennoch wiederholt Andrea Ypsilanti unverdrossen:
"Ich möchte zur Wahl der Ministerpräsidentin eine eigene Mehrheit ohne die Linke, und dabei bleibt es, und ich finde, das ist eine klare Aussage."
Doch kurz vor der Hamburg-Wahl sickert - wohl infolge einer SPD-internen Kommunikationspanne - überraschend durch, was erst später hätte bekannt werden sollen. Nämlich, dass der damalige SPD-Bundesvorsitzende Kurt Beck seine strikte Ablehnung gegen eine rot-rote Kooperation in Hessen aufgibt. Von da an dementieren lokale SPD-Granden nicht mehr, dass sich Andrea Ypsilanti mit Hilfe der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lassen könnte, und CDU-Fraktionschef Christian Wagner schäumt.
"Hier bahnt sich ein großer Wählerbetrug an."
Die SPD ihrerseits drischt auf die FDP ein: Sie werde ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung nicht gerecht. Gleichzeitig kreiert Chef-Genossin Ypsilanti eine Hierarchie von Wahlversprechen, um den nahenden Wortbruch zu rechtfertigen. Eines müsse sie brechen, um andere zu halten.
Doch ein Mitglied in der SPD-Fraktion verweigert sich der neuen Rangfolge. Die entscheidende Fraktionssitzung verpasst Dagmar Metzger wegen Skiurlaubs, ihren Widerspruch tut die Darmstädter Abgeordnete intern erst am Vorabend des geplanten Beginns von Koalitionsverhandlungen Ende März kund. Die meisten Sozialdemokraten sind entsetzt, die Grünen brüskiert. Aus Gewissensgründen will die gebürtige Berlinerin ihre Landesvorsitzende nicht zur Ministerpräsidentin wählen, wenn die dafür die Stimmen der Linken braucht:
"Für mich ist ganz stark im Vordergrund die Geschichte der SPD im Zusammenhang mit der alten SED. Man darf nicht vergessen, wie Genossen und Genossinnen darunter gelitten haben. Die Linken sind für mich im Moment überhaupt nicht einschätzbar und für mich steht im Vordergrund auch die Aussage, die wir vor dem Wahlkampf getroffen haben, mit den Linken unter keinen Umständen irgend etwas zusammen einzugehen."
Versuche, Dagmar Metzger umzustimmen oder zur Rückgabe ihres Mandats zu bewegen, scheitern. Der erste Anlauf der SPD an die Macht ist damit gestoppt, bevor er überhaupt richtig begonnen hat.
4. April 2008: Die konstituierende Sitzung des Hessischen Landtags beginnt, ohne dass ein Neuer oder eine Neue auf den Chefsessel in der hessischen Staatskanzlei gehievt wird. Roland Koch bleibt geschäftsführend im Amt - als Ministerpräsident ohne parlamentarische Mehrheit im Rücken. Der CDU-Politiker verspricht, keine Gesetzesinitiativen torpedieren zu wollen, die SPD, Grüne und Linke gemeinsam durchsetzen:
"Der Respekt davor, dass das Parlament Entscheidungen treffen kann, sollte bei jedem im Blut sein, das ist ein Wesenselement der demokratischen Gesellschaft."
Roland Koch schlüpft in eine neue Rolle: der milde lächelnde Verwalter hessischer Geschicke - staatsmännisch zurückhaltend. Die Grünen nehmen halb amüsiert, halb geschmeichelt zur Kenntnis, dass der geschäftsführende Ministerpräsident sie nicht mehr mit Schaum vorm Mund als "Ultralinke" geißelt. Doch sie misstrauen den neuen moderaten Tönen aus dem christdemokratischen Lager. Statt dem Werben der Konservativen und Liberalen nachzugeben, schaffen sie gemeinsam mit SPD und Linken die Studiengebühren ab - allerdings erst im zweiten Anlauf. Der erste scheitert spektakulär Anfang Juni - am Einspruch des hessischen Regierungschefs. Begründung: im rot-grünen Gesetzestext fehle die entscheidende Passage, wonach die Gebühren mit dem Sommersemester 2008 auslaufen.
"Dieses Gesetz ist handwerklich unzulänglich, jenseits eines politischen Streits, und nur um diese Frage geht es."
Was die linke Mehrheit im Landtag dem Christdemokraten nicht abnimmt. Der geschäftsführende Ministerpräsident bausche einen simplen Textübertragungsfehler auf, so argwöhnen Rote, Grüne und Dunkelrote, um sie als Vereinigung von Dilettanten dastehen zu lassen. Das Problem für Roland Koch: Der Strategiewechsel hin zur gnadenlosen Attacke konterkariert seine bis dahin gefahrene Taktik, sich als hyperkorrekter, höflicher Lenker der Firma "Hessen" zu profilieren - und als "Partner des Parlaments", so hatte er es selbst formuliert. Grünen-Frontmann Tarek Al Wazir legt den Finger genau in diese Wunde:
"Das waren die alten Mätzchen, die alten Mätzchen, Herr Ministerpräsident, das war nicht der neue Landtag. Meine Oma hat früher immer gesagt: Der Kater lässt das Mausen nicht und ich sage Ihnen: Roland Koch bleibt Roland Koch."
Der Eklat um die Studiengebühren macht die Option Schwarz-Gelb-Grün zunichte, noch bevor die Grünen sie überhaupt ernst genommen haben. Dass der erste Anlauf an die Macht vorzeitig scheiterte - ein Schock, der allmählich nachlässt, auch bei Sozialdemokraten und Linken. Immer lauter wird die alte Wahlkampf-Forderung "Koch muss weg". Sie avanciert zum Minimalkonsens für den zweiten Anlauf. Dass seine Gegenspielerin Andrea Ypsilanti erneut versuchen will, ihn aus der Staatskanzlei zu vertreiben, kommt nicht unerwartet für den christdemokratischen Regierungschef.
"Allerdings ist eben das gebrochene Wort von Andrea Ypsilanti nicht nur ein gebrochenes Wort gegenüber den Wählern in diesem Bundesland mit all den Folgen für die Glaubwürdigkeit der SPD, sondern es ist auch ein gebrochenes Wort gegenüber der Parteiführung der SPD in Deutschland."
Auf vier Regionalkonferenzen haben sich Sozialdemokraten nicht beeindrucken lassen von dem Kochschen Versuch, einen Keil zwischen Andrea Ypsilanti und die Bundesspitze ihrer Partei zu treiben. Im Gegenteil: Unverdrossen ermuntern die Genossen zwischen Alsfeld im Norden und Bensheim im Süden die Hessen-SPD und deren Frontfrau, das rot-grüne Experiment mit linker Assistenz zu beginnen - und zwar sofort:
"Ich denk', die SPD muss mal einen Aufbruch wagen. Wir haben jetzt ein halbes Jahre Stillstand, und ich denke, die Leute haben SPD gewählt, damit sich was verändert. Und Veränderungen kann man nur als Regierungspartei erreichen. Sie muss es versuchen. Je länger es dauert, desto mehr spielen wir dem Herrn Koch in die Karten, und den wollen wir ja ablösen."
65 Prozent aller Hessen sind nach Umfragen dagegen, dass Andrea Ypsilanti ihr Wahlversprechen bricht. Sie möchten nicht, dass Rotgrün zu Stande kommt und dabei von links unterstützt wird.
Wenn am Dienstag die Koalitions- und Duldungsverhandlungen starten, dann dauert es nicht mehr lange bis zum nächsten Parteitag.
Am 1. November sollen die Genossen schon wieder zusammenkommen und abstimmen. Dann über die Inhalte, auf die sich die Koalitionäre und Kooperationspartner verständigt haben. Der nächste Tag der Wahrheit!
Schon Anfang November könnte die neue hessische Regierung stehen - wenn kein Debakel à la Simonis folgt.
Wenn doch, dann dürfte das politische Ende von Andrea Ypsilanti besiegelt sein. Sie selbst kalkuliert das ganz offen ein: das Spiel heißt "Alles oder nichts." Oder - wie sie es heute noch ganz nebenbei ausdrückt:
"Es kann immer was schief gehen im Leben."