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Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867

Lewis Carroll: Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867 Aus dem Englischen von Eleonore Frey (hrsg. v. F. Ph. Ingold) Edition Tertium Ostfildern 1997, 132 Seiten, 30 Abb., 34 Mark

Michael Wetzel |
    Dorothea Diekmann: Belice im Männerland Eine wahre Geschichte Berlin Verlag, 1997, 205 Seiten, 36 Mark

    Anders als die Ausgabe des literarischen Gesamtwerkes von Lewis Carroll bietet die erste deutsche Publikation des Tagebuchs seiner Rußlandreise eine echte Rarität. Der Oxforder Dichter sowie Logik- und Mathematikprofessor unternahm sie 1867 zusammen mit seinem Kollegen Henry Parry Liddon. Immerhin war es die einzige Reise, die ihn je über die Grenzen Großbritanniens hinausgeführt hat, und sie dauerte gut zwei Monate, während derer er Brüssel, Köln, Berlin, Danzig, Königsberg, St. Petersburg, Moskau, Warschau, Breslau, Dresden und schließlich Paris besuchte. Der eigentliche Reiz des Textes aber liegt in der Wiederentdeckung des Autors Lewis Carroll, der diesen Reisebeobachtungen von Charles Lutwidge Dodgson - so sein bürgerlicher Name - erst ihren literarischen Wert verleiht.

    Vordergründig dienen die Aufzeichnungen natürlich einem protokollarischen Interesse, in dem auch - wie Felix Ingold in seinem Nachwort schreibt - der Kamerablick des passionierten Photographen Dodgson zum Ausdruck kommt. Hinter der Genauigkeit des Festhaltens aller Eindrücke macht sich aber sehr schnell der selektive Blick für Absonderliches des Nonsense-Dichters geltend. So beschreibt er die Schmuckfassaden der Berliner Prachtbauten mit ihrem Hang für Kolossalstatuen von Tiere tötenden Männern als "Schlachthaus für Fossile" oder er weidet sich an der detaillierten Beschreibung von Sprachmißverständnissen im Umgang mit fremden Domestiken, deren groteske Verwicklungen er durch eigene Sprachexkursionen oder auch durch erklärende und erheiternde Zeichnungen löst. Nicht zuletzt findet man aber auch die kleinen und großen Obsessionen des Alice-Autors wieder, der nicht nur bildungsfleißig - neben den Zoos - die Bildergalerien der großen Städte besucht und deren Inventar bisweilen ebenso gewissenhaft zählt wie die Ausgaben für Fahrten, Unterkünfte und Speisen, sondern der immer auch ein aufmerksames Auge für die weibliche Jugend der fremden Länder hat. Gern wird die Bekanntschaft kleiner Mädchen gemacht, die Carroll auf Zeichnungen festzuhalten oder von denen er Photographien zu kaufen versucht. Die Aufwendigkeit des damaligen photographischen Verfahrens verbot es ihm, selbst einen Apparat mit sich zu führen, was er oft angesichts der verlockenden Motive bedauert, nicht zuletzt in Breslau, wo er auf dem Spielplatz einer Mädchenschule die Schönheit deutscher Mädchen "mit ihren großen Augen und feinen Gesichtszügen" lobt.

    Carrolls Faible für Mädchen fast ausschließlich zwischen 6 und 12 Jahren hat schon Anlaß zu den wüstesten Spekulationen geboten, zumal in Anbetracht der zahllosen einschlägigen Photographien, die der Meister selbst in seinem Heimstudio von seinen phantasievoll - manchmal sogar im Stile Evas - kostümierten Idolen anzufertigen pflegte. Ein solches Mädchenphoto ziehrt auch den Umschlag von Dorothea Dieckmanns Roman, der die verlockende Idee aufgreift, die Kleinmädchen-Abenteuer von Carrolls Alice einmal aus ihrer symbolischen Märchenwelt in den Klartext weiblicher Initiation rückzuübersetzen. Frei nach dem Sprichwort, daß wer A sagt auch B sagen muß, hat die Autorin auch gleich einen Titel und Namen für ihre Heldin: Belice im Männerland.

    Die zweite Hälfte des Titels und den Plot hat sich die Autorin von Jean Giroudoux's Roman "Juliette im Männerland" ausgeliehen, der die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das aus der Provinz in die Hauptstadt Paris aufbricht, um dort die Liebe kennenzulernen. Ebenso ist Belice, eine älter gewordene Alice, unterwegs in die weite Welt der Erwachsenen, um dort - in unterschiedlichster Erscheinungsform - der einen Spezies, dem Mann zu begegnen. Die Abfolge der Szenen folgt wie in Carrolls "Wunderland" einer halluzinatorischen Traumlogik: Immer wieder verfolgt Belice die geheimnisvolle Gestalt eines schwarzen Mannes, sie fällt durch abgründige Schächte, sitzt plötzlich in einem Eisenbahnzug, landet in dunklen Gassen, Nachtklubs, in Büros und an Stammtischen, also den bevorzugten Domänen des anderen Geschlechts, deren einzelne Inkarnationen ebenso wie die Stationen des Wegs dem Muster Carrolls folgen.

    Schritt für Schritt werden nämlich die Episoden der Alice-Geschichten abgehakt und auch dem Kalauern in carrollscher Manier gefrönt, wobei allerdings die Anspielungen auf Sexuelles unzweideutig genitaler ausfallen. Das Mäuseschwänzchen ist jetzt natürlich ein Appendix, der traurig an einem Jungen herunterhängt, die merkwürdig scheuen Tiere erwachen auf einmal unter dem Röckchen des Mädchens, Frau Venus wird in Anspielung auf die Frau als "dumme Nuß" zur "Weh-Nuß". Überhaupt ist die neue Hülle, die über das carrollsche Gerüst gezogen worden ist, stark durch den Jargon der Szene geprägt, der auch die auftauchenden Typen entstammen. Und zwar ganz modisch: wie in einem Almodovar-Film je schräger, desto besser: hinter dem klassischen Johnnie-Walker-Typ ein bißchen S-M, ein bißchen tuntig, alles in allem Männer, die im Grunde ihres Herzens vor einer übermächtigen Mutterfigur wie Carrolls "Herzkönigin" zittern.

    Dorothea Dieckmanns Feminismus erfreut sich an der Entlarvung des männlichen Sexismus als Perversion im buchstäblichen Sinne, das heißt als Verkehrtheit einer Queer-Culture als eigentlich schwules Andersherum-Sein. Überall im Männerland herrscht überhaupt Umkehrung: Belice jagt nicht mehr wie Alice weißen Kaninchen, sondern dem schwarzen Mann hinterher, sie tritt nicht ins Märchenland ein, sondern purzelt aus der Idylle der Kindheit in die harte Realität des erwachsenen Geschlechterkampfes. Das Verschmelzen der viktorianischen Motive mit der sexuell aufreizenden Sprache kommerzieller Fernsehsender läßt so etwas wie einen typisch postmodernen Roman erwarten. Aber man darf - im Sinne des hier herrschenden Wortwitzes - Genitalität nicht mit Genialität verwechseln. So peinlich wie Geschenke, an denen die Preisschilder kleben geblieben sind, wirken die Witze, deren Funktionieren man schon aus der Carroll-Lektüre kennt. Dorothea Dieckmann verkennt, daß man nicht einfach die Inhalte eines Modells wiederholen darf, sondern die Form zu neuem Leben erwecken muß, wenn man nicht öde Doubletten produzieren will. Zu guter Letzt rächt sich nämlich das Umkehrprinzip am Wert des Montagewerks selbst: Was an Carrolls aberwitzigen Handlungssprüngen stets überraschend und erheiternd wirkt, wird im Remake langweilig und ermüdend. Es ist nicht nur, wie ein gewisser Literaturkritiker sagen würde, ein höchst überflüssiges Buch, sondern auch ein ärgerliches Buch, weil es eine schöne Chance sinnlos vertan hat.