Archiv


Tanzstunden

Das Geschäft mit den Memoiren von verlassenen Ehefrauen und verschmähten Geliebten blüht wie eh und je. Insofern bildet auch der Fall von Joyce Maynard und J.D. Salinger nur ein weiteres Beispiel für die ungebrochene Beliebtheit dieses Genres. Im Unterschied zu den üblichen Ex-über-Unhold-Geschichten wird die Welt jedoch nie erfahren, wie Mr. Salinger auf den Erinnerungsband seiner verflossenen Freundin reagiert hat. Jerome David Salinger, 80jähriger Autor des Kultbuches "Der Fänger im Roggen", ist vor über vierzig Jahren freiwillig und vollständig von der Bildfläche verschwunden. Seither begrüßen Medien und Massen von Fans jedes Schnipselchen Information über sein Privatleben als sei's eine Nachricht aus dem Himmel. Und jetzt, oh Wunder, gibt es plötzlich ein ganzes Buch. Joyce Maynard schildert in "At Home in the World" genau das, was der deutsche Untertitel verspricht: "Mein Jahr mit Salinger".

Sacha Verna |
    Dummerweise entpuppt sich das Idol etlicher Generationen in Maynards Erinnerungen als Misanthrop, Hobbyhomöopath und besessener Rohkostesser. Zum Frühstück verspeist er gefrorene Erbsen, und seine Abende verbringt er mit einer Schüssel voll Popcorn vor der Glotze. Derlei Details sind der Salinger-Gemeinde natürlich nicht genehm. Als das Buch letztes Jahr in den USA erschien, mußte sich die Autorin denn auch von den Literturkritikern den Vorwurf gefallen lassen, sie würde aus reiner Profitgier den Namen eines großen Schriftstellers mißbrauchen und wolle sich damit billig in die Schlagzeilen bringen. Der Ton wurde zunehmend gehäßig, und schließlich wußte niemand mehr genau, wer nun gegen wen eine Schmutzkampagne inszenierte: Der Maynard-Club gegen Salinger oder die Salinger-Freunde gegen den Maynard-Club. Berichte über die allgemeine Aufregung sind bis in die hiesigen Feuilletons gelangt. Daß die eigentliche Hauptfigur während des ganzen Theaters nichts von sich hören ließ, versteht sich von selbst. Mr. Salinger hüllte sich wie gewohnt in Schweigen.

    Nun, da das vieldiskutierte Werk auch auf Deutsch vorliegt, sei zur Beruhigung der heimischen Salinger-Verehrer gesagt: Es ist weit weniger schlimm als sein Ruf. Joyce Maynard spricht in ihren Memoiren vor allem über sich selbst. Sie erzählt die bittersüße Lebensgeschichte einer amerikanischen Journalistin und Mutter, in der ein legendärer Schriftsteller eine zwar zentrale, aber bei weitem nicht die einzige Rolle spielt. In sechzehn von sechsundzwanzig Kapiteln schildert sie mit der Routine einer erfahrenen Schreiberin ihre Kindheit - unter anderem den alkoholsüchtigen Vater und die überfürsorgliche Mutter - sowie die Zeit nach Salinger, daß heißt eine gescheiterte Ehe, drei Kinder und jede Menge Schicksalsschläge.

    Die Affäre mit J.D. Salinger begann im Frühjahr 1972. Joyce Maynard war damals achtzehn, Salinger dreiundfünfzig Jahre alt. Sie hatte unter dem Titel "Eine Achtzehnjährige blickt zurück auf ihr Leben" eine Covergeschichte für das renommierte New York Times Magazine verfaßt und war damit über Nacht zur berühmtesten Jugendlichen Amerikas geworden. In den Bergen von Post, die sie auf ihren Artikel hin erhielt, befand sich auch ein Brief von J.D. Salinger. Sie antwortete ihm, man telefonierte, man traf sich. Schließlich verließ die angehende Studentin die Universität und zog zu Salinger in die Provinz. Mehr oder weniger abgeschottet von der Außenwelt verbrachte Joyce Maynard den Rest des Jahres mit ihm. Im folgenden Frühjahr hatte der Meister genug von ihr, schickte sie weg und vermied von da an jeden Kontakt mit ihr.

    Bleibt die Frage: Wieso suchte der privateste aller illustren Literaten die Bekanntschaft mit einem um dreißig Jahre jüngeren Mädchen, das eben zum nationalen Backfisch erkoren worden ist? Der Text sei es gewesen, so Maynard, und besonders das Begleitfoto. In dem kindlichen Geschöpf, das ihm auf dem Cover des Magazins entgegenlächelte, hat Salinger, gemäß eigenem Bekunden, eine vewandte Seele entdeckt. Man kann es auch einfacher sagen: Der Mann wollte Sex. Genau da aber lag das Problem. Jeder Versuch, miteinander zu schlafen endete mit einem von heftigen Kopfschmerzen begleiteten Weinkrampf des Mädchens. Salinger fand im Bett keinen Eingang und im Reich der Kügelchen keinen Ausweg, jedenfalls gelang es ihm auch unter Aufbietung aller homöopathischen Heilkräfte nicht, Joyce Maynards Verkrampfungen im Genitalbereich zu lösen. Nicht nur in diesem heiklen Punkt wich Salingers anfängliche Geduld allmählich dem deutlichen Verdruß.

    Anders als ihr grosser Freund war Joyce Maynard nämlich keineswegs medienscheu. Im Gegenteil: Ihre Erfahrungen mit der Presse hatten sie in ihrer Hoffnung sogar bestärkt, dereinst selber zu den Top-Ten der schreibenden Zunft zu gehören. Obschon Salinger ihr die meisten Angebote ausredete, hatte Joyce Maynard nach wie vor Spaß an jedem Auftrag, den ihr Hochglanz- und sonstige Magazine offerierten.

    Freilich wäre es verfehlt, diese relativ simple Geschichte in ein Szenario à la "Die Schöne und das Biest" zu verwandeln. Joyce Maynard ist ihrem Herren durchaus willig gefolgt. Und was den medialen Exhibitionismus betrifft, hat Salingers einjähriger Erziehungsversuch ohnehin nicht gefruchtet. Das Lesepublikum amerikanischer Familien- und Frauenzeitschriften kennt Joyce Maynard heute als Autorin von Kolumnen und Erfahrungsberichten, in denen sie sich ausführlichst über sich und ihre Lieben verbreitet. Auf ihrer Homepage im Internet (www.joycemaynard.com) erfährt man sogar, wo sie mit ihren Kindern den nächsten Urlaub verbringt. Dass J.D. Salinger auf Dauer von der Publimanie dieser Frau verschont bleiben würde, war daher ziemlich unwahrscheinlich.

    "Tanzstunden" ist eine Autobiographie, wie sie in den USA jedes Jahr haufenweise auf den Markt geworfen werden: flott geschrieben, mitunter anrührend, aber letztlich uninteressant. Ein Schrei der Empörung wegen einiger Auskünfte über Diätpläne und Lieblingsfilme J.D. Salingers aus dem Jahre 1972? Solche Enthüllungen sind nicht mal ein Gähnen wert.