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"Tanztheater I"

Schon die Namen der zwei Teile markieren die Welten, die hier kaum überbrückbar aufeinandertreffen. Joachim Schlömers "Ten", bezieht sich formal einfach auf die Anzahl der Tänzer, "Keksbruch" weist auf das betont erzählerisch-Gegenständliche, das für die Choreografien der Palucca-Schülerin Irina Pauls typisch ist. "Ten" ist die Verweigerung von sprachlich deutbarem Inhalt. Es sind Raum- und Bewegungsetüden um ein bewegliches Bühnenbild: Hinten steigen und sinken Leinwände, unberührte Schluchtenlandschaften legen sich über grüne, satte Wiesen. In der Mitte kreist roboterhaft ein Scheinwerfer und verändert in stoischer Regelmäßigkeit den Lichteinfall, vorne schwankt ein Vorhang aus klirrenden Stahlringen und wirft Schatten auf den Boden. Eine Art Windspiel, das die Tänzer bei jedem Auftritt auseinander werfen, durch das sie springen und vor dem sie ausweichen. Es ist zunächst das einzige Geräusch, zusammen mit dem Atmen der Tänzer. Es ist eine abstrakte Meditation über das Fallen und Steigen, das Ausweichen und das Nähern geworden, eine 35-minütige Betrachtung darüber, das Bewegung auch Musik ist: Musik ist der Rhythmus, mit dem die Tänzer in immer neuen schwarzen und weißen, später farbigen Ganzkörper-Turnanzügen auftreten, Musik ist das Rumpeln des Philharmonischen Orchesters, das in den letzten zehn Minuten in den Orchestergraben kommt und die lärmende, scheinbar chaotische Musik der amerikanischen Choreografin Julia Wolfe zum tänzerischen Höhepunkt führt:

Von Dorothea Marcus |
    Schlömer, der einst Architektur studiert hat, kehrt mit diesem hermetisch phänomenologischen Konzept zu seinen Ursprüngen zurück und zeigt, dass er das Erzählerische lange hinter sich gelassen hat. Zweierduette werden meist ohne Berührung getanzt, kopfüber lassen sich die Tänzer zu Boden fallen oder sinken in Ecken zusammen, durchteilen den Raum blitzschnell mit den Armen, balgen sich wie Katzen, ein riesiger weißer Pfeil weist dem Zuschauer ironisch die Blickrichtung an - und dann gehen sie lakonisch wieder ab. Jedes emotionale Beiwerk ist verweigert, alle Assoziationen, auch des Bühnenbilds, laufen ins Leere. Es geht Schlömer um das vordergründig Sichtbare - die Gegebenheiten des Raumes. So hermetisch es ist, so hervorragend getanzt ist es auch. Erstaunlich für eine Kompanie, die bisher ganz andere Arbeitsweisen gewohnt war. Und doch ein schwer verdaulicher Start für die neue Kooperation, die ja gerade unter dem Label "Tanztheater" gestartet ist. Für Joachim Schlömer stellt sie im Moment eine ideale Arbeitsform dar:

    Ich versuche viel mehr über Struktur Inhalte zu erzählen, wie man einer Komposition zuhört. Dass man nicht über die Bilder, die entstehen, Assoziationen entwickelt, sondern über die Struktur, die entsteht. Auch die Darsteller begeben sich in einen ähnlichen freien Fall, in den ich mich auch begebe dabei. Also es wird unheimlich viel mit Improvisation gearbeitet, und dass die Improvisation auch nicht festgelegt, ist es für die meisten der Leute hier etwas ganz anderes. Aber das ist eigentlich das, wo ich herkomme, dort habe ich vor 20 Jahren angefangen.

    Nach der Pause dann penetrante Sinnfindung, die eine Etüde über Tradition und moderne Unbehaustheit sein soll. Der Keks, laut Programmheft Sinnbild für süßes Leben, Gewöhnung und Beharrung, wird in sein tänzerisches Pendant, das heißt ironisch-alberne Walzerseligkeit übersetzt. Die zehn Tänzer, weißbehütet und Tutu, trippeln und winken huldvoll, flattern mit dem Armen oder schreiten wie Models auf dem Catwalk um den großen, verrosteten Kubus auf der Bühne, in den ein Berg aus Kunstschnee eingearbeitet ist: das unbeweglich Konservative mit seinem kalten Kern. In die vermeintliche Ordnung bricht auf einmal der "Keksbruch", das Chaos, aber bei Irina Pauls ist auch das nur schwungvoll witziges, lebensfrohes Zucken von zerrupften Schwänen. Aus biederen Bollenhüten lösen sich kleine, rote Kugeln, die so etwas wie eine letzte, unveräußerliche Essenz sind, das wahre Liebessehnen, das zwischen den Tänzerköpfen transportiert, sich gegenseitig in die Münder gestopft oder auf Brüste und Hintern geklebt wird. Rollt der rote Ball von den Körpern, verwandeln sich die Liebesduette in mechanische Walzer.

    Nach dem reduzierten ersten Schlömer-Teil ist nun ein Bildersturm ausgebrochen: Rosenblätter fallen auf weiße Tütüs, aus dem Schneeberg rinnt eine Blutspur. Das ist möglicherweise publikumswirksam, aber auch von kaum zu übertreffender Seichtheit, die dazu einem Denkfehler unterliegt: Kitsch ist nicht mit Kitsch zu dekonstruieren. Das vermeintlich Unbehauste bleibt von bestürzender Harmlosigkeit, das vermeintlich Traditionelle wird auch tänzerisch nicht ernst genommen.

    Und so sind ziemlich schnell Grenzen und Möglichkeiten der neuen Kooperation aufgezeigt: Für die Tänzer sicherlich ein großer Gewinn. Doch wem ist gedient, wenn die choreografischen Niveauunterschiede so augenfällig werden.