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Tarnen und Täuschen

Ein Postbote gibt sich als Facharzt für Psychiatrie aus und wird lange Zeit nicht enttarnt: Der Fall Postel sorgt unter Medizinern für Aufregung. Wie kann es passieren, dass Hochstapler im Wissenschaftsbetrieb so leichtes Spiel haben?

Von Thomas Wagner |
    Beispiel: der Fall Postel. Ein Postbote mutiert zum angeblichen Facharzt für Psychiatrie - so geschehen Anfang der 90er-Jahre in einer Klinik in Leipzig. Über Jahre hinweg schreibt der ehemalige Briefträger im weißen Kittel psychiatrische Gutachten - und verblüfft seine Kollegen sogar mit völlig neuen Erkenntnissen.

    "Was ich ja sehr bemerkenswert fand: In der Berufungskommission hat er sogar über die 'Pseudologia fantastica' gesprochen. Die stammt aus dem 19. Jahrhundert. Und dann hat er noch über die Depression dritten Grades... Bipolare Depressionen gibt es schon, aber bipolare Depressionen dritten Grades - die gibt es nicht. Einen dritten Grad gibt es nicht. Und es hat niemand nachgefragt in der Runde und auch nicht auf der Station, weil man einfach ausgegangen ist, dass er als Koryphäe das weiß."

    Die Ulmer Soziologin und Medizinerin Professor Franziska Lamott hat den Fall Postel eingehend untersucht - und spricht in einer seltenen Form von Verachtung und Bewunderung gleichzeitig über einen der größten deutschen Hochstapler der letzten Jahrzehnte. Dass der ehemalige Postbote mit gefälschten Examen und Gutachten über Jahre hinweg an einer psychiatrischen Klinik in Leipzig unbehelligt arbeiten konnte, ist für die Ulmer Wissenschaftlerin ein außerordentlich spannendes Phänomen. Sie versucht, aus diesem Fall generelle Mechanismen darüber abzuleiten, wie Hochstapler vorgehen - und weswegen sie dabei häufig lange Zeit unerkannt bleiben.

    Eine ihrer Thesen lautet: Damit Hochstapler wirkungsvoll arbeiten können, bedarf es der intensiven Interaktion mit den Opfern, also den Betrogenen. Dafür hat Franziska Lamott einen passenden Begriff geprägt:

    "Ich habe von der 'Folie a deux' gesprochen, also sozusagen von der 'Verrücktheit zu Zweit'. Und der Hochstapler kann ohne das Publikum nicht leben. Er braucht sozusagen die applaudierenden Impulse von dem Publikum. Und wenn er die nicht bekommt, wird das Ganze nicht funktionieren. Unsere Gier nach Anerkennung oder unsere Gier nach Geld, nach Prestige macht den Hochstapler zum Hochstapler und uns so empfänglich für diese Menschen."

    Hochstapelei funktioniert demnach so ähnlich wie die Show eines Zauberkünstlers: Auf der einen Seite ist der Hochstapler, bei dem sich dann ein Erfolgserlebnis einstellt, wenn seine Strategie bei seinen Adressaten die gewünschten Wirkungen erzielt. Auf der anderen Seite sind aber auch die Getäuschten, die sich durch das Eingehen auf den Hochstapler unbewusst Vorteile erhoffen. Franziska Lamott erläutert dies am Beispiel des Falles Postel, der mit seinen völlig aus der Luft gegriffenen medizinischen Thesen bei seinen Kollegen nie auf Gegenrede stieß:

    "Gerade in der Medizin gibt es eine ungeheure Angst, zu versagen und eben nicht so klug wie die anderen zu sein. Und deshalb würde man sich ja bloßstellen, wenn man die neuesten Errungenschaften, die jemand da zum Besten gibt, nicht kennt. Also würde man lieber schweigen als nachzufragen. Und das hat ganz sicher etwas mit dem enormen Konkurrenzdruck in unserem Fach zu tun."

    Die Angst, durch Unwissen auffällig zu werden, verhilft Hochstaplern rasch zum Erfolg. Dies ist das eine - und das andere ist: Genau dadurch kommen diejenigen, die sich trefflich auf das Täuschen und Tarnen verstehen, zu Macht. Macht aber, sagt Franzika Lamott, ist ein wesentliches Motiv eines jeden Hochstaplers:

    "Natürlich geht es um Macht und das Machtgefühl, was natürlich auch den Kitzel erzeugt, Menschen manipulieren zu können - und das noch aus einer fantasierten oder eingenommenen Machtposition. Und bei Postel war das ja so, dass er sozusagen in die Führungsetage dieser Institution gegangen ist, der Forensik. Er hat sich als Oberarzt da einstellen lassen und eben auch gezeigt, das ist da auch das Interessante an dieser Geschichte, wie verführbar die Menschen dort sind, die dort arbeiten. Und wenn man Macht ausübt, dass sie sich dieser Macht mit einer ganz großen Selbstverständlichkeit unterwerfen."

    Stellt sich die Frage: Woher kommt dieser außerordentlich ausgeprägte Machtwille eines Hochstaplers, der in seinem regulären beruflichen Umfeld niemals über eine solche Machtfülle verfügen kann?

    "Es gibt einige Studien, im Wesentlichen psychoanalytische Studien. Und die sind davon ausgegangen, dass im Wesentlichen in der Kindheit die fehlende Anerkennung durch eine vertrauensvolle mütterliche Beziehung gefehlt hat und sich dadurch sozusagen, jetzt ganz verkürzt dargestellt, so etwas wie ein falsches Selbst entwickelt hat, in dem Kinder zu früh erwachsen werden und das Erwachsenenverhalten imitieren. Dabei entwickeln sie ein falsches Selbst, dass sie nachher bei ihren Hochstapeleien zum Einsatz bringen."

    Nicht immer allerdings ist es die fehlende mütterliche Liebe in der Kindheit, die den Nährboden bietet für eine spätere Hochstaplerexistenz. Manchmal ist es auch ein großer beruflicher Druck, der dazu verführt, es mit der Wahrheit nicht ganz so genau zu nehmen - beispielsweise im Wissenschaftsbetrieb. Erst seit etwas über zehn Jahren wird dort verstärkt über Hochstapelei debattiert. Anlass war zum einen der Fall eines Konstanzer Physikers, der später an einem anerkannten Labor in den USA arbeitete. Ihm wurde nachgewiesen, dass er seine wissenschaftlichen Arbeiten mit erfundenem Datenmaterial unterlegt hatte. Ebenso flog ein Ulmer Krebsforscher auf, der seine Arbeiten mit konstruierten Daten anreicherte. Das alles sind keine Einzelfälle, betont Privatdozentin Dr. Gerlinde Sponholz, Mitglied im Arbeitskreis Ethik an der medizinischen Fakultät der Universität Ulm:

    "Es ist eigentlich schon eine mehr oder weniger große Katastrophe - die Unsicherheit: Wie oft kommt so etwas vor? Darüber gibt es nun einige Studien, vor allem Befragungen in den USA. Und je nachdem, wie schwer man das Fehlverhalten jetzt einschätzt, also das Täuschen oder Fälschen und Erfinden von Daten, nimmt man an, dass es bei so ungefähr 0,1 bis drei Prozent aller Veröffentlichungen irgendwelche Daten gefälscht sind oder Abbildungen."

    Viel häufiger komme, so Gerlinde Sponholz, die sogenannte 'sanfte' Form des Fälschens im Wissenschaftsbetrieb vor:

    "Zum Beispiel, dass Daten beschönigt werden. Das heißt: Man streicht diejenigen Daten, die man nicht gebrauchen kann, einfach raus und erwähnt auch gar nicht, dass es solche gibt, solche Ausreißer. Oder das Problem der Ehrenautorenschaft: Dass Menschen Autor von einer Arbeit werden, haben nichts dafür getan haben. Und die Gruppe sich eine Chance, eine erhöhte Chance verspricht, dass solche Publikationen dann in einer sehr berühmten Zeitschrift erscheinen."

    Einen weiteren Grund für Fälschungen sieht Gerlinde Sponholz in der Art und Weise, wie der Wissenschaftsbetrieb ganz generell organisiert ist. Hier vertritt sie eine provokante These:

    "Dann kommt dieser immense Druck hinzu, der im Wissenschaftsbetrieb herrscht: Man muss schnell und viel publizieren, und sogar, wenn es möglich ist, in sehr anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften. Und wenn dann bestimmte Daten nicht mehr richtig passen, dass man dann doch eher verführt wird zu sagen: Das muss jetzt schnell raus, die passen nicht. Also lassen wir halt die Daten, die nicht passen, einfach weg."

    Hinzu komme, so Gerlinde Sponholz, ein weiterer Faktor, der unkorrektes Arbeiten in der Forschung begünstige: Die Ausbildung an den Hochschulen lege nach ihrer Auffassung zu wenig Wert auf das Erlernen von wissenschaftlichem Arbeiten:

    "Also es gibt zum einen auch ganz junge Leute, die nicht wissen, was eine gute wissenschaftliche Praxis ist, es vom Studium her nicht mitbekommen haben. Gerade in der Medizin haben wir in das Problem, dass das Medizinstudium eher auf die ärztliche Tätigkeit vorbereitet, aber nicht auf die wissenschaftliche Arbeit."

    Immer mehr Kontrollinstanzen werden an den Hochschulen und an Forschungseinrichtungen etabliert. Gerlinde Sponholz führt dies auf eine erhöhte Sensibilität gegenüber aufgedeckten Fällen von Fälschungen in der Wissenschaft zurück. Die Ombudsleute an den Unis gehören dazu. Sie wurden auf Druck der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingesetzt, die über die Vergabe von Forschungsgeldern zu entscheiden hat - Gelder, die nach Möglichkeit nicht in wissenschaftliche Hochstapelei investiert werden sollen. Ein Allheilmittel gegen Täuschen, Fälschen und Tarnen in der Wissenschaft seien solche Kontrollmechanismen aber auch nicht, glaubt Gerlinde Sponholz:

    "Diese Kontrollmechanismen spiegeln uns dann auch eine Verlässlichkeit vor. Also gerade bei den ganz großen Fällen von Betrug und Fälschung in der Wissenschaft haben fast sämtliche Kontrollmechanismen versagt. Ich würde auch sagen: Wir müssen immer mehr auf das Vertrauen setzen und auch auf die Einsicht, dass sich gute wissenschaftliche Praxis auf die Dauer lohnt und dieses Fälschen und Täuschen letztendlich aufgedeckt wird und es sich auch für die Wissenschaftler selber letztendlich nicht lohnt."