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"Tektonische Verschiebungen" in Sachen Vergangenheitsbewältigung?

Michael Köhler: Frage an den Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, Professor in Frankfurt an der Oder: Erkennen Sie in diesem Bestreben schon Züge einer Verschiebung in der Beurteilung der Terrorherrschaft?

    Karl Schlögel: Ich kann an diesem Text, der übrigens sehr kurz ist, nichts ablesen. Ich habe mir ihn noch mal angesehen. Man kann all das, was Samuel Korn moniert, gar nicht in einem Text von anderthalb Seiten sagen. Was ich sehe ist, dass hier ankommt, dass dort schon lange etwas in Bewegung ist. Wenn man jetzt sagt, dass dort bestimmte Akzentverschiebungen stattfinden und dass man sich mit größerer Intensität mit dem Stalinismus als mit dem NS-Regime beschäftigt, das ist ja schon die ganzen letzten zehn, fünfzehn Jahre so und es wäre ja seltsam, wenn es nicht so wäre, denn es ist die unmittelbare Erfahrung dieser Länder gewesen. Ich kann diesen Skandal, der dort ausgemacht wurde, gar nicht sehen.

    Michael Köhler: Mir ist der Ärger, man kann sogar sagen Zorn, von Polens Ex-Außenminister Bartuschewsy noch sehr gut in Erinnerung, als Präsident Chirac dem sogenannten Neuen Europa den Mund verbieten wollte. Drückt sich in den Vorgängen so etwas wie gegenseitiges Misstrauen aus, was denken Sie?

    Karl Schlögel: Ich glaube, das ist vielleicht Misstrauen, aber in erster Linie Ahnungslosigkeit, Fremdheit. Eigentlich war die Rede von Sandra Kalniete ein Plädoyer für eine Öffnung unserer Wahrnehmung gegenüber dieser anderen Geschichte. Sie hat ja Recht, wenn sie sagt, dass die europäische Geschichte bisher ohne die östlichen Nachbarn geschrieben worden ist. Ich glaube einfach, dass jetzt, wo die formelle Wiedervereinigung des Kontinents ansteht, kommen wir nicht umhin das alles zur Kenntnis zu nehmen. Es ist im Grunde eine verspätete Reaktion, und da gibt es eine Asymmetrie. Ich meine, die Polen, die Letten, die Litauer haben doch immer viel energischer verfolgt, was im Westen passiert.

    Michael Köhler: Die EU-Erweiterung ist eine historische Korrektur der Teilung Europas. Die intellektuelle Überwindung - Sie haben es schon angedeutet - scheint erst anzufangen im Westen. Drückt sich in der Rede - um noch einmal darauf zurückzukommen - nicht auch Verärgerung darüber aus, dass der Westen das Ausmaß der Verbrechen im Kommunismus nicht so recht wahrhaben will oder nicht so hoch einschätzt?

    Karl Schlögel: Ich weiß nicht, ob Verärgerung das richtige Wort ist, aber ein Erstaunen über die Kühlheit und die Distanz, in gewisser Weise auch die Unbeteiligtheit oder Indifferenz gegenüber dem, was mit diesen Völkern dort passiert ist. Aber der Hauptaspekt dieser Rede ist eigentlich ein anderer - soweit ich das verstehe - nämlich darauf aufmerksam zu machen, dass wir jetzt definitiv mit einer Europäisierung der Geschichte zu tun haben, und dass jetzt Schluss ist mit separaten Ost- und Westgeschichten, und dass tatsächlich die Topographie Europas und ein anderer Geschichtsraum ins Auge gefasst werden muss. Ich habe es so verstanden, dass es wirklich ein Plädoyer für die Öffnung in den europäischen Geschichtsformen ist. Was die Katastrophengeschichte angeht, es geht um den Raum zwischen Dachau und Borkuta.

    Michael Köhler: Das heißt, dieser Disput ist kein neuer Historikerstreit, es ist auch keine trotzige Reaktion. Heute erneuert noch mal die lettische Schriftstellerin Amanda Aizpuriete den Anspruch, man solle nicht denken, es sei bei den Roten besser gewesen. Es ist also der Teil der europäischen Geschichte, die wir bisher versäumt haben zu betrachten.

    Karl Schlögel: Diese Geschichte mit dem "nicht besser und nicht schlechter", das sind alles so Kurzformen, die die Sache überhaupt nicht treffen. Die Chance, die seit einiger Zeit besteht, und die jetzt manifest wird, ist, dass endlich Generationen oder Nationen Geschichten erzählen können, die zu erzählen sie die Gelegenheit bisher nicht hatten. Die Archive waren zu, es gab keine Öffentlichkeit, es gab keine Pressefreiheit. Das ist alles erst fünfzehn Jahre her. Die Chance, dass diese Geschichten endlich erzählt werden, und es sind schreckliche Geschichten, die durchaus genozidale Aspekte hatten, wenn Sie sich überlegen, was es bedeutet für ein Anderthalb-Millionenvolk, wie die Letten, wenn 120, 140 Tausend Menschen deportiert werden, damit muss man sich einfach beschäftigen. Ich glaube, wir können auch Vertrauen haben - ob das die Letten, die Litauer oder die Russen sind - dass sie mit ihren Geschichten angefangen haben aufzuräumen. Zum Beispiel der Kollaborationsvorwurf, der in den litauischen und lettischen Museen ist, es kommt ja vor. Es gibt in dem jüdischen Museum in Riga einige außerordentlich eindrucksvolle Darstelllungen, was in Riga und in Wilna passiert ist. Man sollte erst mal zur Kenntnis nehmen, was sich getan hat, in den letzten Jahren. Wenn man den russischen, den sowjetischen Fall zum Beispiel nimmt. Es gibt seit den fünfziger Jahren einfach eine Verarbeitung für diese Geschichte, wenn nicht durch die Geschichtswissenschaft, dann eben durch die Literatur. Sie bedürfen eigentlich nicht der Belehrung in Sachen Geschichts- und Vergangenheitsbewältigung.

    Michael Köhler: Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel war das zur Gesamteuropäisierung der Geschichte.