Bruder Rolf schließt die Tür zu einem der zwölf Gästezimmer auf. Es ist ein schlichter Raum: Schrank, Bett, zwei Stühle, Waschbecken. Auf dem Tisch liegen eine Bibel und zwei Bücher über den Heiligen Franziskus. An der Wand hängt ein kleines Kreuz. Vom Fenster aus fällt der Blick auf die Wallfahrtskirche des Hülfensbergs.
"Ich sag immer salopp: Was für den frommen Muslim Mekka ist, ist für den Eichsfelder der Hülfensberg","
sagt Bruder Rolf. Denn der Hülfensberg, im südlichen Eichsfeld gelegen, ist das Wahrzeichen und der älteste Wallfahrtsort der Region.
Vor sieben Jahren ist Bruder Rolf, einer von vier Franziskanern, in das kleine Kloster auf dem Hülfensberg gekommen. Der gebürtige Westfale arbeitet als Seelsorger in den umliegenden Dörfern. Wie seine Mitbrüder ist auch er für die Gäste da. "Wenn es dir gut tut, dann komm", schrieb einst Franz von Assisi seinem Bruder Leo. Mit diesen Worten laden auch die Franziskaner auf dem Hülfensberg zum Mitleben ein.
""Es lenkt einen hier so gut wie nichts ab. Das ist das Schöne hier oben. Von daher denke ich, dieses Konzentriert-Sein auf diese Mitte, auf den Glauben, auf Gott, auf die Stille - das hilft schon, auch Ihn ganz anders zu entdecken und wahrzunehmen als im Alltag."
Peter Nagler hat sich für eine Woche im Kloster eingemietet. Der Vater von sechs Kindern arbeitet als Gemeinderefernet in Heiligenstadt, dem Zentrum des Eichsfelds.
Im Eichsfeld wimmelt es von Kirchen, Klöstern, Bildstöcken und Wegkreuzen. Und vom Frühling bis in den Herbst hinein finden überall Wallfahrten und Prozessionen statt. Die sind ein Erlebnis. Berühmt ist die Palmsonntagsprozession in Heiligenstadt. Dort gestalten die Einwohner den Leidensweg Christi szenisch nach. Sechs überlebensgroße schwere Figuren werden dann durch die Innenstadt getragen. Und zu Christi Himmelfahrt pilgern circa 15.000 Männer ins "Klüschen Hagis" bei Martinfeld, wenige Tage später ziehen mehrere tausend Frauen auf den "Kerbschen Berg" bei Dingelstädt.
Denn das thüringische Eichsfeld, im Stammland der Reformation gelegen, ist eine durch und durch katholische Gegend. Vor allem deshalb, weil sie historisch betrachtet zum katholischen Mainz gehörte!
Nur einmal wurden die Eichsfelder Rom untreu: in der Reformationszeit. Aber schon 1555, nach dem Augsburger Religionsfrieden, rekatholisierten die Mainzer Kurfürsten den Landstrich gründlich, indem sie Jesuiten dort ansiedelten.
Katholizismus und Eichsfeld gehören auch heute zusammen wie Topf und Deckel. Immer wieder im Verlauf der Geschichte versuchten Regierungen, Einfluss auf die Religiosität der Eichsfelder zu nehmen. Erfolglos, meint ein Bürger, denn Hilfe komme direkt von oben.
"Zu der Situation im Eichsfeld kann man eigentlich nur sagen: Wenn wir den Herrgott nicht gehabt hätten, dann hätten wir gar nicht die Kraft gehabt, die vierzig Jahre zu überstehen und den Glauben auch fortzusetzen. Denn der schwebt ja nicht nur in den Kirchen über uns, sondern er ist unter uns, und er beeinflusst unser Handeln."
Über 75 Prozent der Eichsfelder sind Katholiken. Eichsfelder sein, heißt katholisch sein, könnte man meinen. Wen wundert es, dass die Gegend eine Hochburg der CDU ist? Immer noch liegt die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger in dem thüringischen Landstrich über dem Bundesdurchschnitt. Sonntags in die Kirche, so eine Spaziergängerin, das gehöre zum Leben dazu.
"Wir sind das so von Kindheit an gewohnt. Unsere Mutter hat uns das gelehrt, und die hat immer gesagt: Sechs Tage sollst du arbeiten, und am siebten sollst du ruhen. Und deswegen, das ist so geblieben. Ich kenn das nicht anders von zu Hause."
Das Eichsfeld ist für viele Terra incognita. Dabei liegt die Gegend ziemlich genau in der Mitte Deutschlands. Allerdings ging bis 1989 der eiserne Vorhang mitten durch sie hindurch. Ein Teil gehört zu Hessen, einer zu Niedersachen und der größte zu Thüringen. Es ist beschaulich dort, die Landschaft mit ihren welligen Hügeln und den schmucken Fachwerkdörfern ist wunderschön.
"Bis zum der Mauer lag auch das Kloster Hülfensberg direkt an der deutsch-deutschen Grenze, in der 500 Meter Sperrzone. Für den Wallfahrtsort waren das schwierige Zeiten. Ein einziger Franziskaner hielt dort jahrelang die Stellung und wetterte gegen das Regime. Er erlebte die Öffnung der Grenze noch, jetzt kann man sein Grab auf dem kleinen Friedhof neben der Klosterkirche besuchen."
Im Sperrgebiet lag auch der kleine Ort Bebendorf, nur wenige Kilometer vom Kloster Hülfensberg entfernt. Dort lebt Maria Wehr, die bei den Franziskanern als Köchin arbeitet. Ihr Haus stand damals keine 200 Meter vom ersten Schlagbaum entfernt. Dass dort vor knapp zwanzig Jahren Selbstschussanlagen, Maschendrahtzäune und Wachtürme standen, kann man sich kaum noch vorstellen.
"Es ist schade, dass es weg ist, gerade für Leute, die noch nie hier waren. Es hätte mich nicht gestört, wenn das stückweise stehengeblieben wäre. Manche sagen, ich kann das nicht mehr sehen. Aber gerade für Leute, die es nie gesehen haben, ist es wirklich schade."
1976 zog Maria Wehr aus dem drei Kilometer entfernten Geismar nach Bebendorf. Das bedeutete auch einen Umzug aus der fünf Kilometer Sperrzone in die 500 Meter Sperrzone. Maria Wehr verringerte ihren Bewegungsradius also erheblich.
"Wo die Liebe hinfällt","
sagt sie und lächelt versonnen. Und ihr Mann Josef erklärt.
""Ich hab meine Eltern früh verloren, meine Mutter in den sechziger Jahren, meinen Vater 1974. Ich hab an meiner Heimat gehangen, unglaublich, das hätte ich nie verlassen."
Schikane allerorten. Plötzlich ist sie wieder spürbar, die Perversion eines Systems, das die Bewegungsfreiheit der Menschen massiv beschnitt.
"Viele sagten: Ja, wie konnten Sie das überhaupt aushalten? Wir kannten ja nichts anderes. Ja man hat mal hier rüber geguckt, hat gedacht: Ja, schön, - wir haben ja auch Verwandtschaft drüben gehabt - da wirst du wohl nie hinkommen. Das war so auch."
Aber nichts ist ewig, auch nicht im Eichsfeld. Noch heute zittert Maria Wehrs Stimme, wenn sie an den Fall der Mauer denkt.
"Das kann man gar nicht beschreiben. Das war Wahnsinn. Man war ja immer allein. Es ist höchstens mal so ein Grenzerauto hier langgefahren, aber ansonsten war ja nichts hier. Und dann kamen die Autos. Das ging den ganzen Tag. Hier hoch gefahren, sich alles angeguckt, wieder runter. Es ging am laufenden Band. Auch dann geklingelt: Ja kennst du mich nicht, ich bin doch dein Cousin. Wo sollte ich sie jetzt her kennen. Also, es war Wahnsinn."
Ein paar Kilometer weiter, in der Nähe von Wendehausen, fährt Karl Josef Montag den Kolonnenweg entlang. Auf diesem Streckenabschnitt ist von den ehemaligen Grenzanlagen noch etwas mehr erhalten als in Bebendorf.
Der Blick öffnet sich auf das Werratal bis zum Thüringer Wald. Wiesen und Wälder allerorten. Gut erkennbar: der frühere verschlungene Grenzbereich. Mit gut 760 Kilometern hatte Thüringen den längsten Anteil an der deutsch-deutschen Grenze. Der Wachturm von Wendehausen ist als Erinnerung an diese Zeit stehengeblieben.
"Das ist einer von den 600 Kontrolltürmen, die es an der 1400 Kilometer langen ehemaligen Grenze gab. Es gab verschiedene Bauweisen, überwiegend drei verschiedene Typen: diese viereckigen, runde und die Führungsbunker, von denen in der Gemarkung Wendehausen einer erhalten ist und der Öffentlichkeit als Mahnmal zugänglich ist."
Karl Josef Montag ist aber nicht wegen dieses Wachturms an die ehemalige Grenze gefahren. Er sucht eine Röhre auf einer abschüssigen Wiese.
Da ist sie, kaum sichtbar in den Hang eingelassen. Was aussieht wie ein überdimensionales Kanalisationsrohr, soll eine Agentenschleuse gewesen sein. Durchmesser: ein Meter, Länge: dreißig Meter. Ein Agent konnte im Osten hinein- und im relativ unzugänglichen Waldgebiet im Westen wieder herauskriechen.
"Der Ausgang der Röhre war vom westlichen Gebiet nicht zu sehen, sondern er war so angelegt, dass man durch diese topografischen Gegebenheiten das nicht sehen konnte, aber doch relativ ungesehen vom Westlichen ins Östliche oder umgekehrt gelangen konnte."
Manfred Dietzel hat sich von westlicher Seite aus häufig die Grenzanlagen angeschaut. Der Rentner stammt aus Altenburschla. Das liegt gleich gegenüber im Hessischen.
"Wir sind sonntags hier runter gelaufen, und auf einmal stand auf der Westseite jemand neben uns, der hatte einen Popelinemantel an, und wir wunderten uns, was der hier oben macht. Wir grüßten, er hatte einen Notizblock bei sich. Und dann hab ich mir hinterher zusammengereimt, dass das einer war, der zu der Schleusung gehörte."
Nach der Wende, als die Grenzanlagen beseitigt wurden, sollte auch diese Röhre verschwinden. Aber Karl Josef Montag und Manfred Dietzel setzen sich dafür ein, sie zu erhalten. Als Erinnerung und vielleicht auch als zukünftiges Forschungsobjekt.
Aber zurück zum Hülfensberg.
"Ich muss nur einige Pötte holen, weil ich ja jetzt das Essen vorbereite - und zwar gibt es heute Heringsstip mit Pellkartoffeln. Das ist unser Mittagessen am heutigen Freitag und das muss ich jetzt vorbereiten... "
Bruder Bernold, einer der vier im Kloster lebenden Franziskaner, steht in der Küche. Denn heute hat die Köchin frei.
"Und weil ich das so gern esse, deshalb mache ich das auch gerne fertig. Wenn man etwas gerne isst, dann bereitet man es auch gerne vor."
Die Klosterküche auf dem Hülfensberg liegt im Untergeschoß. Sie ist geräumig und wurde vor einigen Jahren renoviert und modernisiert. An einer Tafel hängt der Wochenplan. Dort steht, wer von den Gästen wann an- und abreist, wer von den Brüdern welchen Dienst übernimmt.
Am liebsten führt Bruder Bernold die Gäste in die Klosterkirche, denn dort hängt eine Reliquie, das sogenannte "Hülfenskreuz" aus dem 12. Jahrhundert. Das Besondere: Wer nah an dieses Kreuz herantritt, hat den Eindruck, dass Jesus ihn freundlich anlächelt. Wegen dieser Reliquie pilgern 1000 bis 2000 Menschen viermal im Jahr auf den Hülfensberg. Dass sich dabei auch hin und wieder ein Wunder ereignet, versteht sich, so Bruder Bernold, im katholischen Eichsfeld von selbst.
"Ein Blinder hatte seiner Frau gesagt, ich möchte auch gern mitgehen. Da hat sie gesagt, das geht doch gar nicht, du bis blind, wie sollen wir das denn machen mit der Unterbringung und so weiter. Da hat er gesagt: Nein, ich möchte gerne mit. Und dann ist er auch mitgegangen mit der Prozession. Und als sie dann oben an dieser Stelle waren, dann hat sie gesagt: So, jetzt sind wir an der Stelle, dann sehen wir zum ersten Mal den Hüfensberg. Und da hat er gesagt: Ich sehe ihn auch."
"Ich sag immer salopp: Was für den frommen Muslim Mekka ist, ist für den Eichsfelder der Hülfensberg","
sagt Bruder Rolf. Denn der Hülfensberg, im südlichen Eichsfeld gelegen, ist das Wahrzeichen und der älteste Wallfahrtsort der Region.
Vor sieben Jahren ist Bruder Rolf, einer von vier Franziskanern, in das kleine Kloster auf dem Hülfensberg gekommen. Der gebürtige Westfale arbeitet als Seelsorger in den umliegenden Dörfern. Wie seine Mitbrüder ist auch er für die Gäste da. "Wenn es dir gut tut, dann komm", schrieb einst Franz von Assisi seinem Bruder Leo. Mit diesen Worten laden auch die Franziskaner auf dem Hülfensberg zum Mitleben ein.
""Es lenkt einen hier so gut wie nichts ab. Das ist das Schöne hier oben. Von daher denke ich, dieses Konzentriert-Sein auf diese Mitte, auf den Glauben, auf Gott, auf die Stille - das hilft schon, auch Ihn ganz anders zu entdecken und wahrzunehmen als im Alltag."
Peter Nagler hat sich für eine Woche im Kloster eingemietet. Der Vater von sechs Kindern arbeitet als Gemeinderefernet in Heiligenstadt, dem Zentrum des Eichsfelds.
Im Eichsfeld wimmelt es von Kirchen, Klöstern, Bildstöcken und Wegkreuzen. Und vom Frühling bis in den Herbst hinein finden überall Wallfahrten und Prozessionen statt. Die sind ein Erlebnis. Berühmt ist die Palmsonntagsprozession in Heiligenstadt. Dort gestalten die Einwohner den Leidensweg Christi szenisch nach. Sechs überlebensgroße schwere Figuren werden dann durch die Innenstadt getragen. Und zu Christi Himmelfahrt pilgern circa 15.000 Männer ins "Klüschen Hagis" bei Martinfeld, wenige Tage später ziehen mehrere tausend Frauen auf den "Kerbschen Berg" bei Dingelstädt.
Denn das thüringische Eichsfeld, im Stammland der Reformation gelegen, ist eine durch und durch katholische Gegend. Vor allem deshalb, weil sie historisch betrachtet zum katholischen Mainz gehörte!
Nur einmal wurden die Eichsfelder Rom untreu: in der Reformationszeit. Aber schon 1555, nach dem Augsburger Religionsfrieden, rekatholisierten die Mainzer Kurfürsten den Landstrich gründlich, indem sie Jesuiten dort ansiedelten.
Katholizismus und Eichsfeld gehören auch heute zusammen wie Topf und Deckel. Immer wieder im Verlauf der Geschichte versuchten Regierungen, Einfluss auf die Religiosität der Eichsfelder zu nehmen. Erfolglos, meint ein Bürger, denn Hilfe komme direkt von oben.
"Zu der Situation im Eichsfeld kann man eigentlich nur sagen: Wenn wir den Herrgott nicht gehabt hätten, dann hätten wir gar nicht die Kraft gehabt, die vierzig Jahre zu überstehen und den Glauben auch fortzusetzen. Denn der schwebt ja nicht nur in den Kirchen über uns, sondern er ist unter uns, und er beeinflusst unser Handeln."
Über 75 Prozent der Eichsfelder sind Katholiken. Eichsfelder sein, heißt katholisch sein, könnte man meinen. Wen wundert es, dass die Gegend eine Hochburg der CDU ist? Immer noch liegt die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger in dem thüringischen Landstrich über dem Bundesdurchschnitt. Sonntags in die Kirche, so eine Spaziergängerin, das gehöre zum Leben dazu.
"Wir sind das so von Kindheit an gewohnt. Unsere Mutter hat uns das gelehrt, und die hat immer gesagt: Sechs Tage sollst du arbeiten, und am siebten sollst du ruhen. Und deswegen, das ist so geblieben. Ich kenn das nicht anders von zu Hause."
Das Eichsfeld ist für viele Terra incognita. Dabei liegt die Gegend ziemlich genau in der Mitte Deutschlands. Allerdings ging bis 1989 der eiserne Vorhang mitten durch sie hindurch. Ein Teil gehört zu Hessen, einer zu Niedersachen und der größte zu Thüringen. Es ist beschaulich dort, die Landschaft mit ihren welligen Hügeln und den schmucken Fachwerkdörfern ist wunderschön.
"Bis zum der Mauer lag auch das Kloster Hülfensberg direkt an der deutsch-deutschen Grenze, in der 500 Meter Sperrzone. Für den Wallfahrtsort waren das schwierige Zeiten. Ein einziger Franziskaner hielt dort jahrelang die Stellung und wetterte gegen das Regime. Er erlebte die Öffnung der Grenze noch, jetzt kann man sein Grab auf dem kleinen Friedhof neben der Klosterkirche besuchen."
Im Sperrgebiet lag auch der kleine Ort Bebendorf, nur wenige Kilometer vom Kloster Hülfensberg entfernt. Dort lebt Maria Wehr, die bei den Franziskanern als Köchin arbeitet. Ihr Haus stand damals keine 200 Meter vom ersten Schlagbaum entfernt. Dass dort vor knapp zwanzig Jahren Selbstschussanlagen, Maschendrahtzäune und Wachtürme standen, kann man sich kaum noch vorstellen.
"Es ist schade, dass es weg ist, gerade für Leute, die noch nie hier waren. Es hätte mich nicht gestört, wenn das stückweise stehengeblieben wäre. Manche sagen, ich kann das nicht mehr sehen. Aber gerade für Leute, die es nie gesehen haben, ist es wirklich schade."
1976 zog Maria Wehr aus dem drei Kilometer entfernten Geismar nach Bebendorf. Das bedeutete auch einen Umzug aus der fünf Kilometer Sperrzone in die 500 Meter Sperrzone. Maria Wehr verringerte ihren Bewegungsradius also erheblich.
"Wo die Liebe hinfällt","
sagt sie und lächelt versonnen. Und ihr Mann Josef erklärt.
""Ich hab meine Eltern früh verloren, meine Mutter in den sechziger Jahren, meinen Vater 1974. Ich hab an meiner Heimat gehangen, unglaublich, das hätte ich nie verlassen."
Schikane allerorten. Plötzlich ist sie wieder spürbar, die Perversion eines Systems, das die Bewegungsfreiheit der Menschen massiv beschnitt.
"Viele sagten: Ja, wie konnten Sie das überhaupt aushalten? Wir kannten ja nichts anderes. Ja man hat mal hier rüber geguckt, hat gedacht: Ja, schön, - wir haben ja auch Verwandtschaft drüben gehabt - da wirst du wohl nie hinkommen. Das war so auch."
Aber nichts ist ewig, auch nicht im Eichsfeld. Noch heute zittert Maria Wehrs Stimme, wenn sie an den Fall der Mauer denkt.
"Das kann man gar nicht beschreiben. Das war Wahnsinn. Man war ja immer allein. Es ist höchstens mal so ein Grenzerauto hier langgefahren, aber ansonsten war ja nichts hier. Und dann kamen die Autos. Das ging den ganzen Tag. Hier hoch gefahren, sich alles angeguckt, wieder runter. Es ging am laufenden Band. Auch dann geklingelt: Ja kennst du mich nicht, ich bin doch dein Cousin. Wo sollte ich sie jetzt her kennen. Also, es war Wahnsinn."
Ein paar Kilometer weiter, in der Nähe von Wendehausen, fährt Karl Josef Montag den Kolonnenweg entlang. Auf diesem Streckenabschnitt ist von den ehemaligen Grenzanlagen noch etwas mehr erhalten als in Bebendorf.
Der Blick öffnet sich auf das Werratal bis zum Thüringer Wald. Wiesen und Wälder allerorten. Gut erkennbar: der frühere verschlungene Grenzbereich. Mit gut 760 Kilometern hatte Thüringen den längsten Anteil an der deutsch-deutschen Grenze. Der Wachturm von Wendehausen ist als Erinnerung an diese Zeit stehengeblieben.
"Das ist einer von den 600 Kontrolltürmen, die es an der 1400 Kilometer langen ehemaligen Grenze gab. Es gab verschiedene Bauweisen, überwiegend drei verschiedene Typen: diese viereckigen, runde und die Führungsbunker, von denen in der Gemarkung Wendehausen einer erhalten ist und der Öffentlichkeit als Mahnmal zugänglich ist."
Karl Josef Montag ist aber nicht wegen dieses Wachturms an die ehemalige Grenze gefahren. Er sucht eine Röhre auf einer abschüssigen Wiese.
Da ist sie, kaum sichtbar in den Hang eingelassen. Was aussieht wie ein überdimensionales Kanalisationsrohr, soll eine Agentenschleuse gewesen sein. Durchmesser: ein Meter, Länge: dreißig Meter. Ein Agent konnte im Osten hinein- und im relativ unzugänglichen Waldgebiet im Westen wieder herauskriechen.
"Der Ausgang der Röhre war vom westlichen Gebiet nicht zu sehen, sondern er war so angelegt, dass man durch diese topografischen Gegebenheiten das nicht sehen konnte, aber doch relativ ungesehen vom Westlichen ins Östliche oder umgekehrt gelangen konnte."
Manfred Dietzel hat sich von westlicher Seite aus häufig die Grenzanlagen angeschaut. Der Rentner stammt aus Altenburschla. Das liegt gleich gegenüber im Hessischen.
"Wir sind sonntags hier runter gelaufen, und auf einmal stand auf der Westseite jemand neben uns, der hatte einen Popelinemantel an, und wir wunderten uns, was der hier oben macht. Wir grüßten, er hatte einen Notizblock bei sich. Und dann hab ich mir hinterher zusammengereimt, dass das einer war, der zu der Schleusung gehörte."
Nach der Wende, als die Grenzanlagen beseitigt wurden, sollte auch diese Röhre verschwinden. Aber Karl Josef Montag und Manfred Dietzel setzen sich dafür ein, sie zu erhalten. Als Erinnerung und vielleicht auch als zukünftiges Forschungsobjekt.
Aber zurück zum Hülfensberg.
"Ich muss nur einige Pötte holen, weil ich ja jetzt das Essen vorbereite - und zwar gibt es heute Heringsstip mit Pellkartoffeln. Das ist unser Mittagessen am heutigen Freitag und das muss ich jetzt vorbereiten... "
Bruder Bernold, einer der vier im Kloster lebenden Franziskaner, steht in der Küche. Denn heute hat die Köchin frei.
"Und weil ich das so gern esse, deshalb mache ich das auch gerne fertig. Wenn man etwas gerne isst, dann bereitet man es auch gerne vor."
Die Klosterküche auf dem Hülfensberg liegt im Untergeschoß. Sie ist geräumig und wurde vor einigen Jahren renoviert und modernisiert. An einer Tafel hängt der Wochenplan. Dort steht, wer von den Gästen wann an- und abreist, wer von den Brüdern welchen Dienst übernimmt.
Am liebsten führt Bruder Bernold die Gäste in die Klosterkirche, denn dort hängt eine Reliquie, das sogenannte "Hülfenskreuz" aus dem 12. Jahrhundert. Das Besondere: Wer nah an dieses Kreuz herantritt, hat den Eindruck, dass Jesus ihn freundlich anlächelt. Wegen dieser Reliquie pilgern 1000 bis 2000 Menschen viermal im Jahr auf den Hülfensberg. Dass sich dabei auch hin und wieder ein Wunder ereignet, versteht sich, so Bruder Bernold, im katholischen Eichsfeld von selbst.
"Ein Blinder hatte seiner Frau gesagt, ich möchte auch gern mitgehen. Da hat sie gesagt, das geht doch gar nicht, du bis blind, wie sollen wir das denn machen mit der Unterbringung und so weiter. Da hat er gesagt: Nein, ich möchte gerne mit. Und dann ist er auch mitgegangen mit der Prozession. Und als sie dann oben an dieser Stelle waren, dann hat sie gesagt: So, jetzt sind wir an der Stelle, dann sehen wir zum ersten Mal den Hüfensberg. Und da hat er gesagt: Ich sehe ihn auch."