Dienstag, 30. April 2024

Archiv

"The Critical Camera"
Reportage-Fotografie in Gelsenkirchen

Digitalisierung und knappe Finanzen bei Auftraggebern verändern zunehmend das Berufsleben von Bildjournalisten. Die Gesellschaft für humanistische Fotografie will Plattform für aufwendige Themen sein und präsentiert derzeit fünf engagierte Fotografen in Gelsenkirchen.

04.02.2014
    Ein Fotoapparat steht in der Natur bei Weißkopfseeadlern.
    Die Gesellschaft für humanistische Fotografie will Plattform für aufwendige Themen sein. (picture alliance / dpa / Hinrich Bäsemann)
    "Ich frag mich bei der Ausstellung 'Critical Camera', ob ich da so ganz kritiklos rauskomme, ob die Menschen diese Bilder ertragen."
    Mit Peter Liedtke, Leiter der Foto-Plattform Bildsprachen und Veranstalter der Fotoschau, am ungewöhnlichen Ort. Ein Laufsteg zieht sich ganze 300 Meter durch das Gebäude des Wissenschaftsparks. In dem Kongresszentrum sind jetzt nach dem Prinzip Wäscheleine Fotos aufgehängt: von Menschen mit entsetzlich entstellten, vernarbten Gesichtern, Arm- und Beinprothesen. Von verschleierten Frauen, von Ausgemergelten, die im Müll leben.
    "Wir wollen diese Themen gerade an Orten zeigen, die öffentlich sind. Wo wir Menschen erreichen, die normalerweise vielleicht nicht ins Museum gehen würden."
    Katharina Mouratidi ist dazu gekommen, Kuratorin, selbst Fotografin, und Geschäftsführerin der Gesellschaft für humanistische Fotografie in Berlin.
    "In einem fotografischen Umfeld, wo es solche Institutionen gibt wie die altehrwürdige Deutsche Gesellschaft für Fotografie und die Deutsche fotografische Akademie wollten wir ganz klar zeigen: Es gibt eine Gruppe von jungen Frauen, die eben diese Themen in die Öffentlichkeit bringen will und da – ein bisschen von sich eingenommen – in der gleichen Liga mitspielen will."
    2006 von sechs Frauen gegründet – ein "Zufall", sagt Mouratidi – ist die Gesellschaft heute auf 100 Mitglieder angewachsen.
    Alternative Nobelpreisträger auf Rokoko-Plüschsessel
    Ausgestellt sind jetzt rund 200 Fotos in fünf Serien. Katharina Mouratidi selber zeigt uns 40 Träger des "alternativen Nobelpreises", der seit 1980 vergeben wird, an Menschen, die sich durch soziales Engagement hervortaten. Dafür ist sie zwei Jahre lang mit einem Rokoko-Plüschsessel durch Europa gereist, eine Art Thron für Engagierte, die wenige kennen. Für Ausstellungen arbeitet sie mit rund einem Dutzend internationaler Fotografen zusammen. So für Gelsenkirchen mit der US-Amerikanerin Nina Berman, die im Irak schwer verwundete US-Soldaten porträtiert und interviewt hat.
    "Es fehlen Gliedmaßen, die Gesichter sind völlig entstellt. Und die Interviews, die bei den Bildern stehen, sind auch beeindruckend. Der große Tenor ist, dass sie sagen: 'Mensch, es war eine Wahnsinnszeit, würde ich jederzeit wieder machen.' Es gibt nur ganz vereinzelte kritische Statements: 'Es war es nicht wert, dass wir dafür unser Leben aufs Spiel gesetzt haben.'"
    Bilder vom Recycling in Indien
    Eine andere Serie stammt von Enrico Fabian: Ein Deutscher, der nach Neu-Delhi ausgewandert ist und fotografiert, wie Recycling in Indien funktioniert. Wir sehen von Hand gezogene Müll-Rikschas, wir sehen Menschen, die auf die Entleerung eines Lkws warten: Wer hier am schnellsten ist, bekommt die besten Stücke, läuft aber auch Gefahr, verschüttet zu werden. Ein Kind sieht man in Großeinstellung mit einem Geldschein vor dem Mund: der Tagesverdienst, etwa 30 Cent. Auch als Fotograf, der solche Bilder einfängt, müsse man heute leider zunehmend, wie ein alternativer Nobelpreisträger, "bescheidener Held" sein:
    Verschlechterung der Arbeitsmöglichkeiten für Reportage-Fotografen
    "Ganz klar ist, dass sich die Situation für journalistisch und dokumentarisch arbeitende Fotografinnen, die gerade einen sozialpolitischen Ansatz haben, in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat. Das heißt: Der Raum in Magazinen ist zurückgegangen, der Raum für Ausstellungsmöglichkeiten hat sich stark verkleinert."
    "Früher hat der 'Stern' Leute drei Wochen, oder 'Geo' sogar drei Monate in die Welt geschickt, um Geschichten zu recherchieren. Das gibt es heute so nicht mehr. Es wird zum Teil durch Stipendienprogramme ermöglicht, aber es ist zu wenig. Wir drohen da tatsächlich etwas zu verlieren."
    Plattform sein, Bühne für aufwendige Themen, die es in Erarbeitung und Vermarktung schwer haben. ausstellungsstrategisch ist das in Gelsenkirchen klug gemacht: die Fotos im kleinen bis mittleren Format, mit viel Text erklärt und eingeordnet, wollen uns nicht mit dem groben Hammer Gutmenschlichkeit eintrichtern. Das ist auch vielleicht keine Schau, die man bewusst aufsucht, sondern die man in einem Kongresszentrum beiläufig entdeckt und dann sehr berührend findet.