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The Panic Virus

Ein Buch über eine längst als unwissenschaftlich entlarvte Studie, die einen Zusammenhang zwischen einer Masernimpfungen in der Kindheit und Autismus herstellt - ist das wirklich notwendig? Das mag sich der Leser zu Beginn von Seth Mnookins Buch "The Panic Virus" fragen. Aber je mehr er sich in die Seiten vertieft, umso mehr ziehen sie ihn in den Bann. Es geht um das Pro und Contra von Schutzimpfungen. Der Autor, selbst ein passionierter Befürworter, führt darin die persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Prozesse hinter der Impf-Angst vor Augen.

Besprechung: Dagmar Röhrlich | 25.03.2012
    Mnookin ist weder Epidemiologe, noch Mediziner, sondern Journalist. Dass er sich für das Thema zu interessieren begann, liegt an den ewig gleichen Party-Gesprächen in seinem Bekanntenkreis, in dem man Prius fährt, bei Whole Foods einkauft und sich oft genug gegen die Impfung seiner Kinder entscheidet - weil man den Ärzten generell misstraut oder sich durch Medienberichte über die Schädlichkeit von Impfungen für das sich entwickelnde Immunsystem kleiner Kinder verunsichert fühlt. Jung, gebildet, liberal - inzwischen Vater eines Kleinkindes -, ist Seth Mnookin selbst Teil dieser sozialen Gruppe. Aber was er von seinen Freunden an Argumenten gegen Impfungen zu hören bekam, enervierte ihn, da sie "aus dem Bauch heraus" zu entscheiden schienen. So begann er zu recherchieren…

    Herausgekommen ist ein sehr gut lesbares Buch, das von den Anfängen der Schutzimpfungsversuche gegen die Pocken bis zu dem Vorfall reicht, der in Großbritannien die Impfquote gegen Masern, Mumps und Röteln von mehr als 90 auf unter 80 Prozent abstürzen ließ. Dabei geht es um eine Studie des britischen Arztes Andrew Wakefield, der 1998 einen Zusammenhang zwischen dieser Dreifachimpfung und Autismus herstellte. Veröffentlicht in der renommierten Wissenschaftszeitschrift "The Lancet", geriet die Arbeit sofort in massive Kritik. Die Medien jedoch griffen sie gerne auf und befeuerten vor allem in den USA und Großbritannien die Angst der Eltern um ihre Kinder.

    2007 wurde die Wakefield-Studie offiziell und förmlich diskreditiert und als "unehrlich", "unverantwortlich" und "gegen die medizinischen Interessen der an der Studie teilnehmenden Kinder" zurückgezogen. Eine Untersuchungskommission wies Wakefield diverse Fehlverhalten nach wie die verheimlichte Finanzierung durch einen impfkritischen Anwalt und riskante Operationen an teilnehmenden Kindern. Wakefield verlor seine medizinische Zulassung. Die Impfangst bliebt jedoch, auch weil in der Zwischenzeit das bis 2003 zur Konservierung einiger Impfstoffe eingesetzte Quecksilber in Verdacht gekommen war, Hirnschäden und damit Autismus auszulösen. Auch dieser Verdacht hielt einer wissenschaftlichen Analyse nicht stand, schreibt Seth Mnookin: Die Verunsicherung bliebt trotzdem groß.

    Der Autor beschäftigt sich in seinem Buch jedoch nicht nur mit falschen Studien und Bauchgefühl, sondern geht auf Ursachensuche. Deshalb spart er die Impfskandale nicht aus, wie etwa den durch die erste Polio-Massenimpfung 1954 in den USA: Das schlecht produzierte Serum steckte Dutzende von Kindern mit der Krankheit an, die es eigentlich verhindern sollte. In den 1950er-Jahren kannten die Eltern noch die Gefahren der Krankheit selbst, so dass die Reaktionen moderat ausfielen, aber der Keim zur Impfskepsis war gelegt, und er sollte in den folgenden Jahren und Jahrzehnten durch falsche Reaktionen von Politikern und Gesundheitswissenschaftlern gedeihen.

    Seth Mnookin erklärt in "The Panic Virus", wie die Impfungen die Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden sind: Sie haben die Erinnerung an die Auswirkungen der Seuchen, das Leiden und die Todesfälle, aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Kaum jemand weiß noch, welche Folgen Kinderkrankheiten haben können: Taubheit durch Mumps, Erblindung durch Masern, Lähmung durch Polio - oder eben oft genug den Tod. Deshalb beschäftigt sich Mnookin damit, wie wie Risiken wahrgenommen und bewertet werden. Er ergründet, wie Gegner und Befürworter denken, wie wissenschaftliche Studien funktionieren und was Epidemiologie bedeutet. Außerdem führt er vor Augen, welche gesellschaftlichen Strömungen die Impfgegnerschaft stützen, wie verzweifelt die Eltern erkrankter Kinder sind, wie bei Pro, aber vor allem bei Contra die PR-Maschinerie funktioniert. Und er beschäftigt sich mit der oft unrühmliche Rolle der Medien und ihren Hunger nach neuen Sensationsmeldungen und Unterhaltung. Zu oft, schreibt Mnookin, seien Journalisten nichts anderen als "willfährige Papageien, die unter dem Mäntelchen, über die Sorgen der Bürger zu berichten, Quacksalbern eine Plattform bieten."

    Das Buch erzählt seine Geschichte zwar aus britischer und US-amerikanischer Sicht, aber in Deutschland gibt es ähnliche Tendenzen, so dass es auch hier aktuell ist. Es ist durchaus verstörend, allerdings ist fraglich, ob sich eingefleischte Impfgegner von einem eingefleischten Impfbefürworter überzeugen lässt. Aber lesenswert ist es allemal.

    Seth Mnookin: The Panic Virus. A True Story of Medicine, Science and Fear
    ISBN: 978-1439158647
    Simon & Schuster, 448 Seiten, 21,99 Euro