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Theater im Krisengebiet
"Orest in Mossul"

In Milo Raus neuem Theaterstück treffen griechische Tragödie und aktuelle politische Konflikte aufeinander. Dabei zeigt sich: Frieden und Versöhnung gibt es nur auf Kosten von Gerechtigkeit, egal ob im antiken Drama oder dem vom IS befreiten Mossul.

Von Eberhard Spreng | 18.04.2019
2019/04/17/Gent. Theatervoorstelling ‘Orestes in Mosul’ van NTGent in regie van Milo Rau.
Agamemnon, Iphigenie und die Zerstörungen des IS - Mythos und Wirklichkeit auf der Bühne (© Fred Debrock)
Johan Leysen steht in der Mitte der Bühne und erzählt in wenigen Worten die Geschichte der Orestie. Und dann berichtet der erfahrene Schauspieler auch von seinen Berufsträumen in jungen Jahren. Theater habe ihn immer interessiert, aber auch Archäologie. Schliemann habe Troja gefunden, weil er die alten Tragödientexte für bare Münze genommen, ihre Ortsbeschreibungen mit dem realen Terrain abgeglichen habe.
Natürlich ist dieser Einstieg für Milo Raus Theater Programm. Denn es versteht sich als eine Archäologie einer darstellenden Kunst, der zwar die Worte des Aischylos geblieben sind, nicht aber ihr ursprünglicher Resonanzraum in Politik und Gesellschaft einer werdenden Demokratie. Deshalb lädt Milo Rau die Tragödie mit einer zeitgenössischen Kriegserfahrung auf: Die Biografien von Menschen aus dem vier Jahre vom IS besetzten Mossul, ihr Martyrium sollen der Orestie eine neue Fundierung verleihen.
Tragödie oder Realität - Tote in jeder Familie
Mit Schliemannscher Naivität reist also die Equipe um Milo Rau nach Mossul und sucht nach Drehorten und nach Menschen. Sie finden einen Fotografen, der unzählige Exekutionen fotografierte, immer unter Todesgefahr, denn Fotografieren wurde unter dem IS mit dem Tod bestraft.
Oder Musiker, die ihre Oud im Keller zur Hand nahmen, weil das Musikmachen verboten war.

Die Videokamera dokumentiert ihre Re-Enactments der Schreckensszenen: Mitten in der völlig zerschossenen Stadt stehen sie auf dem Dach des einstigen Luxuskaufhauses und berichten davon, wie der IS Homosexuelle von dort in den Tod stieß. Dann wird Agamemnon seine Tochter Iphigenie mit einem Strick erdrosseln, wie dies der IS mit Frauen tat.
Ein irakischer Soldat vor einem zerstörten Regierungsgebäude in Mossul.
Ein irakischer Soldat vor einem zerstörten Regierungsgebäude in Mossul. (imago / Xinhua)
Keine klare Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit
Dieser erste lähmend lange Mord wird zugleich im Film gezeigt, als auch auf der Bühne angedeutet. Das scheinbar Dokumentarische in Mossul wird immer wieder in seiner Künstlichkeit vorgeführt: Kaum hat die Kamera ein dramatisches Zeugnis der Zeitgeschichte eingefangen, schwenkt sie zur Seite und entlarvt die Situation als eine fabrizierte.
Und auf der Bühne wird aus dem hehren Tragödienstoff eine Szenenfolge wie aus der Vorabendserie: Klytaimnestra und ihr neuer Lover Aigistos sitzen an einer Seite des Tisches; Feldherr Agamemnon und seine Neue, Kassandra, an der anderen. Szenen einer kaputten Ehe, Kampf der Geschlechter nicht im hohen Ton der Tragödie, sondern als miese Abrechnung verletzter Seelchen. Bis Kassandra, die Kriegsbeute aus Troja, einen Gesang anstimmt, der an ihre Herkunft erinnert und daran, dass es das Lyrische und das große Gefühl eben doch noch gibt.
Wechselspiel zwischen antiker und aktueller Tragödie
Was haben wir verloren? Und kann das Theater es wieder ausgraben? Nein und wieder nein, sagt Milo Rau in allen Stimmlagen. Alles fällt letztlich zurück aufs Melodramatische, auf eine zutiefst untragische Sentimentalität, für die der gute alte Tears-for-Fears-Song "Mad World" steht, der die eineinhalb Stunden kurze Aufführung begleitet.
Wenn es zunächst so aussieht, als wolle Milo Rau den verlorenen emotionalen Kern der Tragödie mit Hilfe der Kriegsgegenwart wieder freilegen, entlarvt er auch dieses Vorhaben als eine weitere Spielform im postmodernen Erzählen: Es gibt keine klare Beziehung zwischen Ästhetik und Moral, es gibt keine klare Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, kein künstlerisches Verfahren, das uns die Katharsis garantieren kann.
Keine neue Form der Tragödie
Nur einmal scheint so etwas wie Hoffnung auf. Wenn entlang des letzten Stücks, der "Eumeniden", über dem Muttermörder Orest Gericht gehalten wird und Göttin Athene die Logik der Rache brechen will und im Dienste des Friedens den Mehrheitsentscheid einführt, dann tut dies in Mossul Khitam Idress, deren Ehemann vom IS umgebracht worden war.
Umringt von jungen Männern steht sie in einem zerschossenen Haus und fragt, was mit IS-Kämpfern zu tun sei. Sie müssen getötet werden, sagen die Männer einstimmig beim ersten Mal; wir enthalten uns der Stimme, sagen sie nach längerer Beschäftigung mit dem Thema. Das wäre eine Katharsis, die das Theater den Akteuren bei den Proben verschafft hat. Und das Publikum? Es schaut gespannt den Wechselspielen zwischen irakischen Nachkriegsdokumenten und theatralen Aischylos-Fragmenten zu. Im Irak ist zwar Material für die Tragödie zu entdecken, aber eine neue Form findet sie nicht.