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Theater morgen: Schauspiel zwischen Kunst und sozialer Verantwortung in einer Krisenregion

Die deutsche Theaterlandschaft, meinte im vergangenen Jahr Kulturstaatsministerin Christina Weiß habe das Zeug für den Status eines UNESCO-Weltkulturerbes, womit sie aber vermutlich weniger ein praktisches Anliegen verfolgte, als ein rhetorisches, nämlich den Sinn für die Bedeutung der außerordentlichen deutschen Theaterlandschaft mit ihrem sehr ausdifferenzierten System von Stadt-, Land- und Staatstheatern samt Sparten zu schärfen. Denn deren Wert steht heute nicht mehr a priori fest, wird vor allem bei der aktuellen Geldknappheit der öffentlichen Kassen mehr denn je hinterfragt, vor allem beim medialen Vielfachangebot. Wie kann sich in dieser Situation das Theater heute positionieren für morgen? Das ist ein Frage, die Kultur heute in einer Sommergesprächsreihe Dramaturgen aus allen Teilen der Republik stellt. Senftenberg liegt in der Nähe von Cottbus in einem ehemaligen Braunkohlerevier, dass zur Zeit zu einer der größten Seenlandschaften Europas umgestaltet wird - eine Region im Umbruch mit extrem hoher Arbeitslosigkeit. Welches Theater kann man für diese Region machen? Gisela Kahl, Chefdramaturgin der Neuen Bühne Senftenberg stellt ihr ihrem Konzept für ein tragfähiges Theater von morgen vor.

Moderation: Christoph Schmitz |
    Schmitz: Welches Theater kann man für diese Region machen?

    Kahl: Man kann sehr wohl Theater für diese Region machen und trotzdem überregional wirksam werden. Ich habe in den letzten Jahren ganz gute Erfahrungen mit Konzepten gemacht, die sich an das Publikum in einer Stadt und Region wenden und trotzdem gerade dadurch und indem sie diese Region sehr ernst nehmen und das künstlerische Potenzial, was ein Ensemble und ein Theater zu bieten hat voll ausschöpfen. Also ich habe da konkret zehn Jahre Theaterarbeit in Cottbus anzuführen und ich hoffe, dass uns jetzt etwas ähnliches - man kann es nicht vergleichen - aber doch etwas ähnliches in dieser Stadt und Region Senftenberg gelingen könnte.

    Schmitz: Sagen Sie doch kurz, was Sie in Cottbus gemacht haben an Inhalten und ästhetisch.

    Kahl: In aller Kürze: Also ein Hauptmoment der Cottbusser Theaterarbeit waren große Theaterspektakel mit dem ironisch gemeinten Titel "Zonenrandermutigungen", die sich jeweils einem Thema gewidmet haben und wo es glaube ich gelungen ist, Theater zu einem Lebenszentrum und Mittelpunkt einer Stadt zu machen. Etwas ähnliches schwebt uns jetzt auch in Senftenberg vor, wenn wir wieder versuchen, Theater zu einem Anziehungspunkt für Stadt und Region zu machen, zu einem Ort, an dem die Leute das Gefühl haben, hier können sie hingehen, weil sie zum einen auf einem hohen Niveau unterhalten werden und zum anderen aber auch mit ihren Problemen, die sie haben, mit ihren Ängsten, mit ihren Sehnsüchten, mit ihren Fragen vielleicht aufgehoben sind.

    Schmitz: Die kommen auch? Die Bergarbeiter gehen ins klassische Theater?

    Kahl: Die Frage kann ich jetzt nicht beantworten. Es hat große Traditionen dieses Senftenberger Theaters gegeben, das ist ja ein Theater, das 1946 gegründet wurde und es hat große Zeiten erlebt in den 60er Jahren und in den 70er Jahren, zum Beispiel mit Namen wie Horst Schönemann oder Anne-Katrin Bürger oder auch Peter Schroth, also wo immer mal wieder Glanzlichter für das Theatergeschehen in der ehemaligen DDR gesetzt wurden. Von der Seite her gibt es da schon eine interessante Tradition. Ich gebe aber auch zu, dass in den letzten Jahren die Frequentierung durch das ältere Publikum sehr zurückgegangen ist. Was sehr gut funktioniert, sind die Kinder und Jugendlichen, die sehr rege ins Theater kommen. Auf der anderen Seite ist natürlich diese Stadt mit einer zunehmenden Überalterung frequentiert und ich denke wir müssen insbesondere auch an diese Leute heran, die älter sind, die zu Hause sitzen, die Freizeit haben und die tatsächlich potenzielle Theatergänger sind.

    Schmitz: "Glück auf-Fest" klingt nach einem Bergmannsspruch. Ist die erste große Premiere geplant bei Ihnen ein Spektakel zum Thema "Anfänge", auch ein symbolträchtiger Begriff. Was verbirgt sich dahinter und vor allem welches Konzept steckt hinter diesem symbolischen Anfang?

    Kahl: Der Hintergrund ist, dass es einen Leitungswechsel an der Neuen Bühne gibt. Es gibt eine neue Mannschaft, einen neuen Intendanten, einen neuen Ausstattungsleiter, zum Teil ein neu zusammengesetztes Ensemble und wir wollten ein deutliches Signal setzen, dass hier etwas Neues passiert, eine neue Entwicklung eingeleitet wird und deshalb so ein Theaterspektakel mit wie gesagt elf Premieren an einem Abend, die dem Thema "Anfänge" verpflichtet sind. Anfänge verschiedenster Art. Es geht um Anfänge in der Liebe, im Erwachsenwerden, in der Erotik, Anfänge von Gewalt, im rechtsextremen Denken, aber auch um Anfänge in Senftenberg selber. Es wird zum Beispiel eine ziemlich kuriose Uraufführung geben, nämlich das Stück "Die Senftenberger Erzählungen oder die Enteignung von Hartmut Lange". Lange schrieb dieses Stück 1960. Es sollte '61 am Deutschen Theater Berlin, damals unter dem Intendanten Langhoff uraufgeführt werden. Aus kulturpolitischen Gründen wurde es dann ersatzlos vom Spielplan gestrichen. Lange ging '65 nach West-Berlin, auch dort konnte man mit dem Stück natürlich relativ wenig anfangen und so geriet es in Vergessenheit. Wir haben dieses Stück wieder ausgegraben und stehen jetzt vor einer aufregenden Entdeckung.

    Schmitz: Geht es in dem Stück um die Enteignung durch die Kommunisten oder die Enteignung wegen des Bergbaus?

    Kahl: Es geht um die Enteignung der Unternehmer durch die Kommunisten. Also das Stück spielt zwischen '46 und '48. Es gibt schon die volkseigene Grube und es gibt noch das Privatunternehmen und die spielen sich gegenseitig aus. Die Partei, also die SED, die es ja damals schon gab, versucht diesen gordischen Knoten zu zerschlagen, indem sie den Unternehmer enteignet und damit sozusagen klare Verhältnisse schafft und die Arbeiter in die Grube zwingt. Das Interessante ist, dass diese Arbeiter, die von Lange dargestellt werden, sozusagen ohne ideologische Vorzeichen auskommen und eine ungeheure anarchische Kraft haben. Sie sind noch nicht korrumpiert. Es ist ein Stück, das noch vor dem 17. Juni 1953 spielt und den schon irgendwie mit reflektiert. Also wirklich eine sehr interessante Entdeckung und ein Stück, das unmittelbar etwas mit dieser Region zu tun hat und auf einmal wieder ganz neue Aktualität gewinnt.

    Schmitz: In unserer Mail-Korrespondenz schreiben Sie, Impulse und Energien vermitteln, das solle das Theater, Mut machen, vielleicht auch sensibilisieren. Das ist die Anforderung ans Theater, also Theater als engagiertes und seelsorgerisches Kunststück?

    Kahl: Man kann "seelsorgerisch" sagen, man kann auch sagen, es sollte einfach die Möglichkeit bieten, Menschen zusammenzuführen zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis und darüber hinaus tatsächlich zu sensibilisieren für andere Zusammenhänge, für andere Geschichten, für Widersprüche. Auch Mut zu machen, Widersprüche anzunehmen, durchzuspielen auf dem Theater, sie sozusagen spielerisch auszutragen. Ich denke das findet häufig viel zu wenig statt. Wir erleben es auch immer wieder bei Vorkommnissen wenn wir Gewalt, Kriminalität erleben, ob es unter Jugendlichen ist oder in anderen Bereichen, wo man sich auch mal die Frage stellt: Woher kommt dieses Gewaltpotenzial? Und hat es nicht auch damit zu tun, dass zuwenig gelernt wird oder zu wenig trainiert wird, Widersprüche wirklich auszutragen und auszuhalten, also eine Kultur des Streits, der Auseinandersetzung, des Diskurses zu befördern und ich denke, dass da Theater eine sehr große Aufgabe haben könnte.

    Schmitz: Bei allem Engagement, das Theater hier leisten, bieten, in Gang setzen möchte, bleibt die Frage der Ästhetik. Wie weit kann man, wenn man so engagierte Theaterarbeit machen will, wie weit kann man ästhetisch gehen?

    Kahl: Ich halte nicht viel davon. Wir müssen irgendwie den Erwartungshaltungen gerecht werden. Was sind Erwartungshaltungen? Ich denke, man muss die Zuschauer fordern. Man muss sie fordern mit Angeboten und auch mit neuen ästhetischen Sichten damit meine ich nicht Ästhetik um der Ästhetik willen oder um für das Feuilleton aufzufallen, das meine ich nicht. Heiner Müller hat mal gesagt: "Ästhetik ist Inhalt." Ich denke dieser Dialektik muss man sich immer wieder stellen, wenn man Theater für heute und ich sage auch für morgen machen will. Weil was wir am Theater versuchen zu erzielen mit Stücken, mit neuen Projekten, mit neuen Autoren, aber genauso auch mit alten ist ja auch immer eine Fragestellung an das nächste Jahr oder die nächsten Jahrzehnte. Also wie geht es mit uns weiter? Wie geht es mit der Gesellschaft weiter? Wie geht es mit dem Verhältnis Mensch/Mensch, Mensch/Natur, mit den Kindern und, und, und weiter.

    Schmitz: Gisela Kahl, Chefdramaturgin der Neuen Bühne Senftenberg über Strategien für ihr Theater.