Montag, 29. April 2024

Archiv

Theaterfestival "Under The Radar"
Faszinierende Soloarbeiten und spannende Beziehungen

In zehn Jahren hat sich das "Under The Radar"-Festival in New York ein Publikum erarbeitet, das genauso vielfältig und interessiert, jung und international ist, wie die Auswahl der Stücke selbst. Ein Schwerpunkt in diesem Jahr ist der Zusammenhang zwischen Sprache und Politik.

Von Andreas Robertz | 15.01.2014
    Rodney King ist jedem Amerikaner ein Begriff. 1992 war der damals 26-Jährige von vier Polizisten in Los Angeles brutal zusammengeschlagen und neben der Straße liegen gelassen worden. Die Bilder des Übergriffs - von einem Nachbarn auf Video festgehalten - gingen damals um die Welt und provozierten einen Aufschrei der Empörung in Amerika. Doch im Gerichtsprozess wurden die Polizisten alle freigesprochen. Der Name Rodney King wurde zu einem Symbol für Polizeibrutalität und Rassendiskriminierung. Sein Fall löste nachweislich die schweren Rassenunruhen von 1992 in Los Angeles aus, in denen mehr als 50 Menschen starben.
    Der kalifornische Autor und Schauspieler Roger Guenveur Smith hat aus diesem Stoff ein aufwühlendes Solo-Stück gemacht. Allein in einem weißen Quadrat stehend und mit dem Mikrofon in der Hand befragt er den Mythos jener Tage nach seiner Wahrheit. Suggestiv und mit großem emotionalen Effekt benutzt er dabei eine aus der Tradition des schwarzen Poetry Slams stammende Sprache, mit der er improvisiert und sich zu Erinnern versucht: an die damaligen Geschehnisse, an Rodneys traurige Berühmtheit, seinen sinnlosen Alkoholismus und den Tod im eigenen Swimmingpool. Rodney Kings berühmte Frage "Can we all get along?", wird zur traurigen Frage nach persönlicher Integrität und politischer Zukunft eines immer noch ungleichen Amerikas.
    Den Zusammenhang zwischen Sprache und Politik spürt ebenfalls das Ein-Personen-Stück "Big Mouth" des Belgiers Valentijn Dhaenens auf. Er macht sich hinter einem breiten Tisch mit acht Mikrofonen und mit 21 berühmten Reden aus 2500 Jahren Menschheitsgeschichte im Gepäck auf, das Manipulative der Sprache zu untersuchen. Von Sokrates und Perikles über Goebbels, General George Patton und Ronald Reagan bis hin zu Muhammad Ali, Osama bin Laden und George W. Bush zeigt er in einer Tour de Force, wie machtvoll Sprache ist und wie wenig sich doch an den rhetorischen Tricks der Mächtigen geändert hat. Und dazwischen singt er ironisch ein paar Lieder, deren Mehrstimmigkeit sich durch geschickt gesetzte Endlosschlaufen der Mikrofone ergeben.
    "Under The Radar" 2014 zeigt allerdings nicht nur faszinierende Soloarbeiten, sondern auch Produktionen aus dem Bereich des Doku-Theaters zum Beispiel der argentinischen Autorin Lola Arias, des Tanztheaters wie dem der Schweizer Truppe Compagnie Philippe Saire und der Performancekunst wie der New Yorker Truppe 600 Highwaymen. Ihre Arbeit "The Record" gehört sicher zu einem der Höhepunkte des Festivals.
    Die Regisseure Abigail Browde and Michael Silverstone haben einen Monat lang einzeln mit 45 Darstellern im Alter zwischen 5 und 65 gearbeitet und lassen diese in "The Record" zum ersten Mal aufeinandertreffen. Sie kommen, stehen, schauen ins Publikum, warten, nehmen seltsame Posen ein und gehen wieder. Dabei entstehen faszinierende Gleichzeitigkeiten von Spielern, die sich gar nicht sehen können. Sie alle scheinen einem geheimen Muster zu folgen. Sie beobachten das Publikum, so wie es sie beobachtet, ohne Regung und voller Interesse. Alle Spieler sehen so aus, als hätte man sie gerade erst willkürlich aus einem New Yorker U-Bahnwagen geholt, multikulturell und vielfältig wie die New Yorker selber.
    "The Record" thematisiert die älteste Beziehung, seit es Theater gibt: die zwischen Schauspieler und Publikum. Und wenn plötzlich der letzte Darsteller verschwunden ist, entsteht eine seltsame Mischung aus Traurigkeit und unbändiger Freude. Die Aufregung darüber lässt sich noch weit bis nach der Vorstellung in der völlig überfüllten Lobby erspüren. In zehn Jahren hat sich das "Under The Radar"-Festival ein Publikum erarbeitet, das genauso vielfältig und interessiert, jung und international ist, wie die Auswahl der Stücke selbst. Seine wache Offenheit gegenüber Themen und Formen bleibt dabei sein ganz besonderes Markenzeichen.