Dienstag, 23. April 2024

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Thierse: Strafverfahren gegen Wulff "irgendwie unverhältnismäßig"

Der frühere Bundespräsident Christian Wulff sei durch die ganze Affäre und seinen Rücktritt schon vor seinem Prozess bestraft, sagt Wolfgang Thierse (SPD). Auch wenn er sich seines Amtes nicht würdig verhalten habe, bleibe der Eindruck, dass der Vorgang unangemessen sei. Es sei deshalb verständlich, dass Wulff den Nachweis wolle, im strafrechtlichen Sinne unschuldig zu sein.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Friedbert Meurer | 14.11.2013
    Friedbert Meurer: Um zehn Uhr heute Morgen beginnt der Prozess gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff vor dem Landgericht Hannover. Wulff hatte einen Deal ja abgelehnt, wie wir wissen. Er hätte mit 20.000 Euro Geldauflage das ganze Verfahren beerdigen können. Aber das wollte Wulff nicht. Er will den Freispruch und wird wohl heute Morgen auch vor dem Verfahren eine Erklärung noch abgeben, wie wir heute Morgen erfahren haben.

    Wolfgang Thierse hat als aktiver Politiker gerade aufgehört, war Bundestagsvizepräsident, Bundestagspräsident für die SPD, hat das alles natürlich auch in den letzten Jahren intensiv verfolgt. Guten Morgen, Herr Thierse.

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Tut Ihnen Christian Wulff leid?

    Thierse: Ja, denn er ist ja durch den ganzen Vorgang, die ganze Affäre und seinen Rücktritt durchaus bestraft schon bisher.

    Meurer: Reicht das sozusagen als Strafe? Braucht es noch einen Prozess?

    Thierse: Das Strafverfahren kommt mir und, ich glaube, den meisten Menschen irgendwie unverhältnismäßig vor, wegen 750 Euro nun jetzt noch ein quälendes Gerichtsverfahren. Aber die Staatsanwaltschaft wollte und Christian Wulff selber wollte ja auch, also jetzt müssen sie es beide durchhalten.

    Meurer: Er hätte es alles gegen eine Geldauflage beerdigen können. Mit 20.000 Euro wäre die Sache erledigt gewesen, es wäre nicht zum Prozess gekommen. Können Sie nachvollziehen, warum Wulff entschieden hat, nein, mache ich nicht, ich will das Verfahren?

    Thierse: Er will den Nachweis haben, dass er im strafrechtlichen Sinne unschuldig ist. Nun kann ich das verstehen, aber es hilft ja nicht: Der ganze Vorgang bleibt ja an ihm haften und in unserem Gedächtnis.

    Meurer: Und in dem Verfahren geht es heute darum, ob es eine Gegenleistung gab für diese 750 Euro, nämlich dass er sich für einen Filmunternehmer eingesetzt hat. Kann man sagen, egal wie hoch die Summe ist, es geht ums Prinzip?

    "Man hat sich ein bisschen fremdgeschämt damals"
    Thierse: Ja, das kann man sagen. Aber es bleibt trotzdem der Eindruck des irgendwie Unangemessenen des ganzen Vorgangs, wie ja überhaupt, wenn ich mich richtig erinnere – ich vermute, es ging vielen Leuten so: Man hat sich ein bisschen fremdgeschämt damals, wie sich ein Politiker, ein Bundespräsident verhält. Das war irgendwie unwürdig des Amtes, obwohl man immer wusste, da haben die Medien unerhört übertrieben, in einem Jagdfieber aus jeder Kleinigkeit etwas gemacht, was dem Verdacht diente, und trotzdem war man unangenehm berührt.

    Meurer: Was hat Sie am meisten unangenehm berührt, dass er im Landtag behauptet hat, er hat keine Geschäftsbeziehung zu einem Unternehmer, und hinterher stellte sich heraus, die Ehefrau des Unternehmers hat diesen privaten Hauskredit gegeben? War es das oder was anderes?

    "Wulff hat sein Privatleben für seine politische Karriere instrumentalisiert"
    Thierse: Es ist ja eine ganze Folge. Christian Wulff hat sein Privatleben für seine politische Karriere instrumentalisiert. Er hat sich von der "Bild"-Zeitung nach oben schreiben lassen. Er hat den Eindruck erweckt, auch jeden Vorteil nutzen zu wollen, und dann hat er sich ungeschickt falsch, extrem falsch verteidigt. All das summierte sich zu dem Eindruck, dass das irgendwie unwürdig und unangemessen ist, das Verhalten, für das Amt eines Bundespräsidenten, und das war ja auch die mehrheitliche Meinung der Bürger, die diesen Eindruck hatten. Der Zwiespalt der Gefühle – man hatte immer den Eindruck, alles hoffnungslos übertrieben, und trotzdem war man peinlich berührt.

    Meurer: Und offenbar hat das die Öffentlichkeit ja auch interessiert. Sonst hätte nicht die "Bild"-Zeitung und alle anderen auch täglich Schlagzeilen dazu produziert.

    Thierse: Ja! Aber das Interesse wird doch immer auch geweckt. So ist es doch nicht, dass die Medien dem Interesse des Publikums nachgeben, sondern sie wecken es, sie stacheln den voyeuristischen Blick der Bürger, der vielen an. Da sollten auch die Medien durchaus selbstkritisch sagen, haben wir da hier etwas übertrieben, gnadenlos auch herumgestochert. Und wenn ich mich erinnere: Plötzlich wurde dann ein Auto, ein Spielzeugauto, ein größeres, zu einem Verdacht gemacht, ein Spielzeugauto für ein Kind. Das hatte schon Züge des Gespenstischen auch.

    Meurer: Ist für Sie der Fall Christian Wulff und die Medienberichterstattung, war das sozusagen der Punkt, an dem Sie gesagt haben, die Medien neigen dazu, jetzt besonders gnadenlos mit Politikern ins Gericht zu gehen?

    Thierse: Ein Ruhmesblatt war es für die Medien nicht, vor allem für die "Bild"-Zeitung nicht. Aber es ist so.

    Meurer: Die "Bild"-Zeitung wird sagen, wir haben berichtet und recherchiert.

    Der frühere Bundespräsident Christian Wulff auf einer Aufnahme vom Juli 2012
    Der frühere Bundespräsident Christian Wulff auf einer Aufnahme vom Juli 2012 (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    Nicht von Politikern erwarten, "dass sie Heilige sind"
    Thierse: Ja, ja! Ja, ja! Und trotzdem: die radikale Konsequenz, auch noch jedes Eckchen auszuleuchten - Ich bin ja der Meinung, dass Politiker in bestimmter Weise, in begrenzter Weise Vorbild sein müssen, nämlich insofern, als dass sie sich an die Rechte und die Gesetze halten müssen, die für unser Zusammenleben, für unsere Demokratie konstitutiv sind. Aber man sollte auch von ihnen nicht erwarten, dass sie Heilige sind und dass sie fehlerlos sind.

    Meurer: Wie groß ist die Angst von Politikern, wegen irgendwas an den Pranger gestellt zu werden?

    Thierse: Die gibt es. Die gibt es, und ich sage es noch einmal: Sie sollen in diesem einen Punkte vorbildlich sein, sich an Recht und Gesetz zu halten und an das, was für unser Gemeinwesen konstitutiv ist. Aber zu erwarten, dass sie immer in jeder Hinsicht fehlerfrei sind, besser sind, eben Heilige sind, das ist eine falsche Erwartung. Dieser Erwartung kann kaum ein Mensch Genüge tun.

    Meurer: Gestern Abend ist Uli Hoeneß bei der Jahreshauptversammlung des FC Bayern München mit Standing Ovations minutenlang gefeiert worden. Verstehen Sie den Unterschied in der Behandlung?

    Öffentliche Figuren nach gleichen Maßstäben bewerten
    Thierse: Ich sage es noch einmal: Von Politikern ist mehr zu erwarten. Das habe ich akzeptiert, das finde ich auch richtig in einer Demokratie. Trotzdem sollte man sich gelegentlich daran erinnern, Steuerhinterzieher, Hoeneß, ich denke an Boris Becker, das sind in denselben Medien, den Massenmedien auch Helden des Alltags. Da werden Maßstäbe verschoben. Und wenn man dann sagt, Herr Hoeneß hat das ja als Privatmann gemacht, dann könnte man ja auf die Idee kommen, galt das nicht auch für Christian Wulff. Er hat in seiner Eigenschaft als Privatmann Fehler begangen. Dann dürfte man das ihm als Politiker nicht anlasten. Nein, öffentliche Figuren sollten nach ungefähr gleichen Maßstäben bewertet werden, weil sonst die Maßstäbe selber verletzt, befleckt, zerstört werden.

    Meurer: Die einen sind demokratisch gewählt; die anderen natürlich auch von der Mitgliederversammlung, aber damit nur ihrem eigenen Verein sozusagen Rechenschaft schuldig.

    Thierse: Zugleich sind sie aber öffentliche Personen, und die Moral einer Gesellschaft entwickelt sich ja nicht nur in Erziehungsprozessen in Schule, Familie und anderen Räumen, sondern auch in dem, was als Verhalten öffentlich akzeptiert, kritisiert, bejubelt oder verdammt wird.

    Meurer: Ihre Partei ist ja nicht damit einverstanden, die SPD, dass Christian Wulff lebenslang seinen Ehrensold bekommt. Lässt sich das für den amtierenden Präsidenten nicht mehr ändern? Würden Sie das gerne ändern, Herr Thierse?

    Thierse: Auch das gehört ja zu den vielen Eindrücken von Unangemessenem. Da ist einer relativ kurze Zeit, anderthalb Jahre, Präsident, er muss dann nicht freiwillig, muss dann zurücktreten und wird doch belohnt lebenslänglich durch Vergünstigungen. Auch das empfinden ja viele Bürger als unangemessen, als inadäquat, und ich glaube, dass wir da auch Regeln ändern sollten, natürlich nach dem rechtsstaatlichen Grundsatz, rückwirkend geht das nicht, aber für die Zukunft.

    Meurer: Also Christian Wulff soll weiter faktisch 200.000 Euro jährlich bekommen?

    Thierse: Was heißt "soll"? Das ist nun mal rein rechtsstaatlicher Grundsatz, dass Gesetze und Regeln nicht rückwirkend angewandt werden können, sondern gelten ab dem Zeitpunkt, wo man sie verabschiedet und in Kraft gesetzt hat.

    Meurer: Heute Morgen beginnt der Prozess gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff. Ich sprach über Justiz und Medienberichterstattung mit Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident, Bundestagsvizepräsident, von der SPD. Herr Thierse, schönen Dank und auf Wiederhören.

    Thierse: Auf Wiederhören!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.