Es dröhnt, die Nebelmaschinen zischen und die Hörner tuten. Minutenlang ist die Bühne im Schauspiel Dortmund in archaisches Theaterdampfen eingehüllt. Langsam kommen auf der Drehbühne Gestalten angefahren: erst eine, dann zwei, dann viel mehr. In weißen Kleidchen, mit Einheits-Glatze, einheitlich mit kahlem Kopf. Sie tanzen mit ausgestreckten Armen um eine Orgel, die langsam von der Decke schwebt – eine Götzenanbetung.
Der Künstler als autoritärer Gott
Der Beginn des über fünfstündigen Abends ist eine Art mythische Installation über die Erschaffung der Welt. Über lange Zeit zieht sie sich hin - und wird dabei immer wieder albern gebrochen. Etwa, in dem ein Gartenzwerg auf der Drehbühne mitfährt. Oder, indem eine Art schwarzgefederter Oberguru mit großer Machogeste die Orgel spielt: Arnarsson lässt hier sich selber spielen, der große Künstler als autoritärer Gott der Behauptung. Theater im gewohnten Sinne ist das nicht – eher eine provokante Aufforderung zur Meditation. Die später von Schauspielerin Friederike Tiefenbacher theoretisch grundiert wird:
"Was ist das Nichts? Nichts ist nichts. Nichts ist. Wir können das nicht denken, aber nichts dabei. Fast alles ist nichts. Wir erforschen die Stille nicht, weil wir verrückt sind. Hört ihr das? Flüstern. Hört ihr das? Stille."
Die Stille dürfen die Zuschauer dann sogar mitperformen: Indem sie die John Cage-Performance 4:33 mitaufführen – das heißt, vier Minuten und 33 Sekunden betreut und bewusst schweigen. Es macht tatsächlich einen Unterschied. Und so will sich der "Irrgarten des Wissens" in Dortmund als Totaltheater und Selbsterfahrungstrip zugleich. Es ist ein Abend über die letzten Dinge, über Leben und Sterben, über Vergänglichkeit – und über die Menschheit an sich. Und da diese aus ihren Bewohnern besteht, lösen sich immer häufiger einzelne Schauspieler aus der Masse und haben ihren Auftritt:
"Mein Name ist Kevin Wilke, bin 26 Jahre alt, bin Schauspieler, meine Eltern haben sich nach der Wende kennengelernt…."
Zwischen Großtheater und Slapstick
Willkürlich wird Banales und Ergreifendes gemischt, Künstler-Biografien, die der Schauspieler, die ihrer Großeltern. Sie sind geprägt von Flucht, von Verfolgung, von Glück, Tragik und Alltäglichem.
"Als ich Lilli kennenlernte, 1975, also vor mehr als 40 Jahren, trug sie Jeans. Dazu mehr oder weniger bunte Oberteile."
Der Dortmunder Sprechchor erinnert an sein verstorbenes Mitglied Lilli, die Schauspielerin Bérenice Brause an den deportierten Dortmunder jüdischen Arzt Rolf Bischofswerder oder an den vom NSU ermordeten Mehmet Kubaschek. Dann wieder wird Großtheater markiert: In einer Badewanne mit Theaterblut übergossen, begegnen sich Merle Wasmuth und Uwe Schmieder als Adam und Eva und über Feminismus streitendes Ehepaar: Pathos kippt in Slapstick, Erhabenes in Banales.
Kunst oder banale Behauptung?
In der Pause, angekündigt als 90-minütiges Konzert, erheben sich die Zuschauer dann endlich und können durch das Theater wandern. Man sieht: gestapelte Amazon-Kartons, Audio- und Videoinstallationen, in einer Ecke kann man meditativ Linsen und Reis sortieren - eine geklaute Idee der Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Der Bühnenbildner Daniel Angermayr hat in Großformaten seine sterbende Mutter fotografiert und ihr Totenbett aufgestellt. In Büchern kann man Texte von der Bühne nachlesen, etwa jenen großen von Jorge Luis Borges über die Bibliothek von Babel, den wenig später der Schauspieler Christian Freund von der Bühne spricht:
"Aus diesen Prämissen lässt sich folgern, dass die Bibliothek total ist. Ein überwältigendes Glücksgefühl. Alle Menschen waren Herren über einen unversehrten und geheimen Schatz. Es gab kein persönliches, kein Weltproblem, dessen Lösung nicht existierte. Das Universum bemächtigte sich auf einen Schlag der Hoffnung."
Und als unendliche Bibliothek definiert sich auch dieser Abend – was ihn am Ende dann aber auch beliebig macht: Welche Stimme schafft es aus der Masse heraus? Letztlich gehen alle Stimmen unter. Symbolisch stumm steht stundenlang ein trauriger Clown am Bühnenrand und will etwas sagen – wird aber nie gehört. Und so sind die fünfeinhalb Stunden des neuen Regiestars Thorleifur Örn Arnarsson ein Potpourri der großen Gesten und Bilder, willkürlich aus dem großen Weltenwust herausgegriffen. Manchmal wirkt das wie Kunst. Manchmal aber auch - wie eine banale Behauptung.