
Von allen Seiten schießen Autos, Busse, Motorräder und LKWs auf mich zu. Es ist meine erste Kreuzung als Motorrikscha-Fahrer in Indien - ein Moment der Wahrheit. Links kommt ein Kleinbus gefährlich nahe, ich kann ihn mit der ausgestreckten Hand berühren, jetzt im Gewusel bloß nicht die Nerven verlieren und die Kupplung zu schnell kommen lassen! Hupen sei wichtig, hat man uns gesagt, sich bemerkbar machen. Und dann: zielstrebig und doch umsichtig den Weg durch das Chaos bahnen. Und siehe da - es funktioniert.
"Als Tourist auf einer Rikscha durch Indien zu fahren, das ist doch wohl die verrückteste Sache überhaupt", sagt Princely Jeyachandran. Der großgewachsene 40-Jährige mit Sonnenbrille und Dauerlächeln im Gesicht ist der Organisator des "Tamil Nadu Race" , einer Motorrikscha-Rallye kreuz und quer durch den Süden Indiens. Fünf solcher Rennen bietet seine Firma pro Jahr an. Der "Lonely Planet", die Bibel und den Individualreiseführern, zählt seine Touren zu den zehn größten Reiseabenteuern der Welt.
Doch Abenteuer hin oder her, Ordnung muss auch sein, vor jeder Etappe wird durchgezählt. Es sind insgesamt elf Teams, die dieses Mal dabei sind. Sie kommen aus Kanada, England, Neuseeland, Dänemark oder Litauen – und alles hat ein bisschen was von Karneval. Viele haben sich und ihre Rikscha verkleidet. "Team Tiger" und "Team Zebra" sind stilecht im Tierkostüm unterwegs. Michael aus England, immerhin schon 71 Jahre alt, hat sich einen Kreuzritter-Umhang übergeworfen – damit das alles aber nicht zu martialisch oder gar feindselig rüber kommt, haben er und sein Sohn Alex dazu noch eine große Indien-Flagge auf ihre Rikscha gemalt, Startnummer 007.
"Mein Sohn hat mich überredet, mit ihm zusammen teilzunehmen. Das ist ein tolles Abenteuer für uns beide - eine echte Herausforderung."
Kimberley aus Kanada nickt zustimmend. Sie ist nicht einmal halb so alt wie Michael, zusammen mit ein paar Freunden hat sie sich für den ungewöhnlichen Road Trip angemeldet. Es ist ihre erste Indien-Reise.
"Wir haben gesagt, wir machen das jetzt einfach - bevor wir zu alt sind, Kinder haben oder ein Haus abbezahlen müssen", sagt sie. "Es ist ein echter Kulturschock und ein Riesen-Spaß."
Wohltätigkeit inklusive
Drei Räder, sieben PS, knatternder Auspuff und ganz viel Charakter – die Motorrikscha ist das wohl indischste aller Verkehrsmittel. Eine Woche lang fahren wir durch den Süden des Subkontinents, bis zu 250 Kilometer pro Tag, Durchschnittsgeschwindigkeit 30 bis 40 km/h. Es geht entlang des Ozeans bis hoch in die nebligen Hill Stations, 1400 Meter über dem Meeresspiegel. In den Haarnadelkurven rattern uns Busse entgegen, Affenfamilien sitzen am Wegesrand und schauen uns hinterher. Die bunten Rikschas sehen zwar gut aus, sind aber natürlich überhaupt nicht für die Langstrecke geeignet.
"Uns ist schon wieder das Benzin ausgegangen, jetzt nehmen wir etwas von eurem Sprit", sagt Morten aus Dänemark und schaut ungläubig auf den defekten Tank seiner Rikscha. Passanten eilen herbei, helfen, das Benzin vom einen zu anderen Fahrzeug zu füllen – angesaugt wird mit dem Mund. Was für eine Hilfsbereitschaft!
Gleich mehrere Reiseveranstalter in Indien bieten die Tuk-Tuk-Touren an, die längste dauert 14 Tage und geht über sage und schreibe 3.500 Kilometer. Die einwöchige Tour kostet etwa 700 Euro pro Person, inklusive Hotels und Fahrzeugmiete - nicht völlig überteuert, aber trotzdem ein gutes Geschäft für die Macher.
Auch mehrere Schulbesuche stehen auf dem Programm. Hunderte Mädchen und Jungen in rotgrauen Schuluniformen begrüßen uns lautstark. Einige Teams haben kleine Geschenke mitgebracht und bereits im Vorfeld der Rallye Spenden gesammelt. Dieser "Charity-Aspekt", wie die Organisatoren das nennen, ist eine wichtige Komponente der Rikscha-Touren.
"Diese Schule haben wir für 300.000 Dollar gebaut - ein Drittel dieses Geld stammt von den Rikscha-Rallys der letztem Jahre, also von zuhause gesammelten Spendengeldern der Teilnehmer", erklärt Sandeep Mall von der Hilfsorganisation Round Table India.
Der echte Verkehr ist lebensgefährlich
Um Geschwindigkeit geht es bei den Rennen übrigens nicht. Man muss die Etappenziele vor Einbruch der Dunkelheit erreichen, ansonsten – im Stile einer Schnitzeljagd – unterwegs bestimmte Orte finden und Quizfragen beantworten. David und Steward, zwei frühpensionierte Milchbauern aus Neuseeland, fahren aus Überzeugung ohne Navigationsgerät.
"Wir beide machen das ganz "old school", folgen jemandem oder fragen nach dem Weg", sagt David. "Ganz wichtig: Immer mindestens drei Personen fragen - und dann der Durchschnittsmeinung folgen. Ganz einfach ist das alles."
Mit dem echten Leben eines indischen Rikscha-Fahrers haben diese Spaßrallyes aber natürlich wenig zu tun. Abseits einer Etappe treffen wir Lakshman. Der klein gewachsene Schnauzbartträger fährt seine Taxi-Rikscha seit 20 Jahren durch das Millionen-Moloch Chennai. Etwa fünf bis zehn Euro am Tag verdient er, Reparaturen muss er selbst bezahlen. Seine Gesundheit ist schon lange ruiniert:
"Die Abgase sind furchtbar, erzählt er, einen Herzinfarkt habe er schon gehabt." Zum Arzt gehe er trotzdem nur ganz selten. Das sei einfach zu teuer für ihn.
Dass jetzt sogar Touristen in Indien freiwillig Motorrikscha fahren, finde er gut, sagt Lakshman und grinst milde. Gleichzeitig macht er sich Sorgen und warnt die ausländischen Amateure eindringlich vor den Gefahren des lokalen Straßenverkehrs. Nicht ohne Grund: Mehr als 230.000 Menschen kommen jährlich in Indien bei Verkehrsunfällen ums Leben – fast zehnmal mehr als in der gesamten EU. Und das obwohl es in Indien weit weniger zugelassene Fahrzeuge gibt.
Richtig schwere Unfälle habe es auf ihren Rallyes aber noch nie gegeben, sagen die Veranstalter. Nachprüfen kann man das natürlich nicht.
Eine Liebe auf drei Rädern
Und dann beginnt auch schon die letzte Etappe. Noch einmal 200 Kilometer, durch Dörfer, in denen zahnlose Männer in traditioneller Kleidung vor Strohhütten sitzen, vorbei an glitzernden Glasfassaden moderner Bürokomplexe. Ja, mit der Motorrikscha durch Indien zu fahren, ist ein großes Abenteuer. Man ist nah dran an einem Land, in dem vieles anders ist als man denkt - und in dem heilige Kühe immer Vorfahrt haben.
Und doch: Nach einer Woche mit – allein an unserem Fahrzeug - drei Reifenpannen, zwei Motorschäden, und zahlreichen Nahtod-Erfahrungen wegen defekter Bremsen, reicht's dann irgendwann auch. Zieleinfahrt im prasselnden Monsunregen: Alle Teams haben es geschafft. Die glücklichen Gewinner sind Anna und Rohan, ein australisch-finnisches Pärchen, das hier auf der Rallye (man glaubt es kaum) seine Flitterwochen verbringt.
"Es war Rohans Idee, unseren Honeymoon mit der Rikscha-Rallye zu verbinden. Erst war ich dagegen, aber dann doch einverstanden", sagt Anna. "Ich würde es nicht noch einmal machen, aber es war schon eine tolle Erfahrung."
Eine Liebe auf drei Rädern also. "Nur, wo Du zu Fuß warst, bist Du wirklich gewesen", soll Goethe einmal gesagt haben. Wäre er mal mit einer Motorrikscha durch Indien gefahren, hätte er diesen Satz bestimmt ganz anders formuliert.
