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Traurige Tradition in der Silvesternacht

Der anlässlich der Unruhen in den französischen Vororten im November verhängte Ausnahmezustand ist nach wie vor gültig. Begründet wird das Aufrechterhalten des so genannten "état d’urgence" mit der Gefahr neuer Gewaltaktionen in den Vororten französischer Großstädte und auf der Pariser Prachtmeile, der Champs-Elysées. Margit Hillmann berichtet aus Paris.

    Neunzehn Uhr, in einem Einkaufszentrum mitten in Bobigny: Familien schlendern durch das hallenartige Gebäude, erledigen ihre Einkäufe und gucken sich die Schaufenster an. Dazwischen auffallend viele Jugendliche, die sich hier – geschützt vor dem ungemütlichen Wetter – mit ihren Freunden treffen und die Zeit totschlagen. Nichts erinnert mehr an die Aufgeregtheit der Chaostage im November, als auch in Bobigny Gebäude und Autos in Flammen standen. Als Hundertschaften der Polizei sich in den Wohnvierteln der Vororte Straßenkämpfe mit Jugendlichen und Kindern lieferten. Der Alltag ist längst wieder eingekehrt, bestätigen denn auch die Leute im Einkaufszentrum von Bobigny:

    "Es gibt hier keinerlei Ausschreitungen mehr. Es hat sich alles beruhigt und ist wieder normal geworden. Wirklich sehr ruhig. Nein, es ist nichts Besonderes los. Das ist vorbei. Alles wieder ruhig. In Bobigny ist es jetzt überall wieder Ruhe eingekehrt. Unruhen gibt es hier nicht mehr."
    Dass derzeit die Polizei in den Vororten besonders aktiv ist und auch verstärkt die Ausweispapiere Jugendlicher kontrolliert. Das sei auch nicht wirklich ungewöhnlich, meint ein Familienvater aus Bobigny:

    "Die Polizei ist präsenter wegen der Feiertage und dem Jahreswechsel. Das ist jedes Jahr so, deswegen ist die Polizei da. "

    Die Gewaltausbrüche von Jugendlichen in der Silvesternacht sind in Frankreich schon eine Art traurige Tradition. Jedes Jahr, besonders in den Vororten von Strassburg oder Lyon, aber auch auf der Champs-Elysees in Paris, kommt es nachts zu Konfrontationen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Regelmäßig gehen dabei hunderte von Autos in Flammen auf. Ingesamt 333 in der Sylvesternacht des vergangenen Jahres. Gewalt, die der französische Innenminister, Nicolas Sarkozy, diesmal gar nicht erst aufkommen lassen will. Das Polizeiaufgebot soll für die Tage um den Jahreswechsel deutlich verstärkt werden.

    Allein für Paris ist die Rede von zusätzlichen 4500 Polizisten. Doch ist das nicht alles. Dem Innenminister stehen noch andere Mittel zur Verfügung: das ganze Arsenal des in Frankreich im November verhängten und bis heute geltenden Ausnahmezustands. Das Notstandsgesetz räumt dem Innenminister und seinen Polizeikräften besondere Befugnisse ein, wie etwa das Durchsuchen von Wohnungen auch in der Nacht, beschleunigte Gerichtsverfahren. Das Gesetz erlaubt außerdem präventive Maßnahmen wie die Ausgangssperre, individuelle Aufenthaltsverbote für bestimmte Stadtteile, das Verbieten von Menschenansammlungen oder auch das in einigen Vororten schon seit den Novemberunruhen gültige Verbot, Benzinkanister an den Tankstellen zu füllen.

    "Skandalös, eine Schande für den Rechtstaat", kritisieren französische Menschenrechtsorganisationen und Bürgerinitiativen. den Ausnahmezustand. Mouloud Aounit, Vorsitzender des Vereins gegen Rassismus und für die Freundschaft der Völker:

    "Dieses Gesetz ist gedacht für den Kriegsfall. Frankreich befindet sich aber nicht im Krieg. Die Anwendung ist völlig unverhältnismäßig. Es hat das Potenzial, die Bürgerrechte deutlich einzuschränken: die Bewegungsfreiheit, die Rechtssicherheit wird in Frage gestellt, und, was ebenfalls inakzeptabel ist, das Gesetz stigmatisiert. Und wieder sind ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen betroffen. Der Ausnahmezustand zielt direkt ab auf die Menschen in den Vororten und Einwanderervierteln."

    Die Einzelheiten des Notstandsgesetzes sind den betroffenen Bewohnern der Vororte nur selten bekannt. Oft wissen sie gar nicht, dass das Gesetz noch immer in Kraft ist. Einige scheinen sogar das erste Mal davon zu hören:

    "Ausnahmezustand? Was soll das heißen? Ehrlich gesagt, sehe ich da keinen Unterschied zu sonst. Oder glauben Sie, dass die Polizei unsere Papiere sonst nicht kontrolliert? Man meint gar nicht, dass es einen Ausnahmezustand gibt. Man hört und merkt gar nichts davon. "

    Tatsächlich wird in französischen Medien über das Notstandsgesetz und dessen konkrete Anwendung so gut wie gar nicht berichtet. Eine freiwillige Zurückhaltung der Medien. Denn, das Ausnahmegesetz erlaubt den Regierenden zwar die Pressezensur, aber, so beruhigt das Innenministerium, wir wenden diese Möglichkeit nicht an.