Diese Vorstellung vom Künstler ist natürlich selbst trivial, kleinfritzchenhaft, aber sie hat auch eine ehrwürdige Tradition. Der Künstler, der Dichter vor allem, nimmt darin die Position ein, die früher dem Priester zukam: Vermittler des Göttlichen zu sein und selbst daran teilzuhaben. Mancher ist nur allzu gern in diese Rolle geschlüpft, hat Jünger um sich geschart und Sekten gebildet, Entrückungen und Verzückungen inszeniert. Solchen Weihrauchnebel wollte Jandl mit seinem Gedicht "Der gewöhnliche Rilke" zerstreuen. Vor dem gewöhnlichen Rilke muss niemand auf die Knie fallen. Aber vielleicht doch vor dem ungewöhnlichen? Denn nicht wegzulachen, nicht wegzuparodieren ist jene Saite bei Rilke und Kollegen, die, wenn sie zum Klingen gebracht wird, Kunstwerke hervorbringt, die unser Leben schöner und reicher machen. Und uns ratlos: Wie hat er das gemacht - dieser Rilke, der doch so isst, trinkt, atmet und schläft wie wir?
Wie kommt Kunst zustande? Das ist eines der großen ungelösten Geheimnisse. Einfache Antworten - der Künstler erhält seine Eingebungen von Gott, von der Muse, von der Inspiration - befriedigen ebenso wenig wie Erklärungen, die schlichtweg behaupten, das Geheimnis sei gar keines, der Künstler nämlich ein bloßer Handwerker oder Techniker. Ein Gedicht und ein Roman, eine Sonate oder eine Sinfonie haben gewiß analysierbare Strukturen und setzen die Beherrschung des Handwerks voraus, aber darüber hinaus steckt darin etwas, was sich der Analyse entzieht, was mit keiner Regel erklärt ist, weshalb man mit einem altmodischen und aus dem religiösen Bereich stammenden, aber durchaus treffenden Ausdruck von "Schöpfung" spricht. Stefan Zweig hat Autographen gesammelt, weil er glaubte, dort dem Schöpfungsmoment am nächsten zu kommen. Aber in der Handschrift von Goethe oder Beethoven bekommt er nur Spuren der Inspiration, nie diese selbst zu fassen. Wie Kunst zustande kommt, kann vielleicht nur ein Künstler darstellen.
In Hans-Ulrich Treichels neuem Roman "Tristanakkord" nehmen wir an einer solchen Schöpfungsszene teil. Genaugenommen sogar an zwei. Beide Hauptfiguren in Treichels Roman sind Künstler, allerdings von höchst unterschiedlicher Art und Vollendung. Bergmann, der eine, ist ein arrivierter Komponist von internationalem Renommee; Georg, der andere, ist ein arbeitsloser Germanist, der in einem Kleinverlag ein Gedichtbändchen herausgegeben hat, das ohne Leser und Erfolg geblieben ist. Bergmann hat Georg in sein Sommerhaus auf die Shetland-Insel Scarp eingeladen, damit er seine Memoiren Korrektur liest. Georg erhofft sich von der nördlichen Szenerie (und der künstlerischen Nähe) auch dichterische Inspiration:
"Georg genoß die Natur, er genoß die Stille, und er genoß auch, daß er in Gegenwart des berühmten Mannes arbeiten konnte. "Bergmann komponiert, und ich dichte", sagte sich Georg, wenn er sich an den Schreibtisch setzte und spürte, daß ihn etwas überkam, was er vorher nicht gekannt hatte und was er bei sich ein 'kulturelles Gefühl' nannte. Wohl spürte er dieses Gefühl, wenn er sich an den Schreibtisch setzte, doch wenn er am Schreibtisch saß, konnte er plötzlich nicht mehr dichten. Er wollte sein erstes Schottlandgedicht schreiben, es sollte der Anfang eines Zyklus sein, doch nicht der kleinste Schottlandvers wollte ihm gelingen."
Um so besser geht offensichtlich dem Komponisten die Arbeit von der Hand. Und genau das lähmt den verhinderten Dichter:
"Georg wollte schreiben, doch irgend etwas hinderte Georg am Schreiben. Er brauchte einige Zeit, bis er begriff, was es war. Es war das Summen von Bergmanns elektrischem Bleistiftanspitzer. Das Geräusch war nicht sehr laut, aber doch deutlich zu hören, und wenn es nicht zu hören war, dann störte es Georg insofern, als er wußte, daß es bald wieder zu hören sein würde. Außerdem bildete er sich ein, immer dann, wenn er das Summen des Bleistiftanspitzers nicht hörte, das Kratzen des Bleistifts zu hören. So gut wie niemals hörte Georg gar nichts. Bergmann schrieb unablässig, und wenn er nicht schrieb, dann spitzte er seinen Bleistift. Je geringer die Zeitabstände waren, in denen der Bleistiftanspitzer summte, um so schneller komponierte Bergmann. Und je schneller Bergmann komponierte, um so mehr erstarrte Georgs Schreibhand unter Bergmanns Komponiertempo.
Ist Bergmann also ein Komponierbeamter, der sich bloß an den Schreibtisch zu setzen braucht, damit die Einfälle aus ihm herausströmen und sich über das Notenpapier ergießen? Durchaus nicht. Manchmal überfallen sie ihn unvermittelt, zum Beispiel mitten in einem Gespräch. Dann rudert er plötzlich wild mit den Armen oder stößt zischende Laute hervor - zur großen Verwirrung des dienstbaren Germanisten. Von dem, was beim Schöpfungsakt vor sich geht, begreift der nichts - genausowenig wie der Leser. Hans-Georg Treichel läßt beide außen vor. Was sie von der Kunst zu fassen bekommen, ist nur ihre äußerliche Seite. Die ist zwar durchaus un-gewöhnlich, aber doch vollkommen von dieser Welt:
"Die Welt ist mir schuldig, was ich brauche," hat Richard Wagner einmal gesagt. Der Satz könnte auch von Bergmann stammen. Der braucht eine ganze Menge. Zum Beispiel verschiedene inspirierende Wohnsitze und luxuriöse Hotelsuiten. Dann einen Troß hilfreicher Geister, der ihn begleitet wie einen Tennisstar: Chauffeur und Assistentin, Sekretär und Physiotherapeutin. Der Wein muß der richtige und der Whisky in ausreichenden Mengen vorhanden sein. Künstler sind störbar; Bergmann ist es in besonderem und ausgesuchtem Maße. Er verträgt keinen Harris-Tweed-Stoff und kein Aberdeen-Rowie-Gebäck nach dem Lunch (wohl aber nach dem Frühstück). Ein fehlendes "Gilet", eine bestimmte Weste, löst einen Wutanfall und Telefonate um den halben Erdball aus, ein verweigerter Flügel Zerstörungsphantasien wie bei einer Thomas-Bernhard-Figur:
"Während des Abendessens berichtete Bruno, daß er das Opernhaus Edinburgh angerufen und um einen Flügel gebeten hatte. Einen Flügel für Bergmann. Worauf das Opernhaus Edinburgh schöne Grüße an Herrn Bergmann habe ausrichten lassen sowie die Nachricht, daß man im Prinzip gern und jederzeit mit einem Flügel aushülfe, nur sei im Moment kein Flügel frei. Nach Edinburgh gehe er nicht mehr, sagte Bergmann darauf. Edinburgh würde seine Arbeit behindern. Wenn man es genau nähme, würde Edinburgh seine Arbeit boykottieren. Wenn Edinburgh ihn vernichten wolle, sagte Bergmann, dann könne er auch Edinburgh vernichten. Das mache ihm nicht das geringste aus. Bruno solle Glasgow anrufen.
"Natürlich schickt Glasgow einen Flügel, der mit großem Aufwand auf die Insel gebracht - und von Bergmann dann so gut wie gar nicht benutzt wird. Ein bißchen wie dieser Flügel fühlt sich auch Georg. Bergmann hat ihn herbestellt, scheint dann aber wenig mit ihm anfangen zu können. Er setzt den jungen Gast einem Wechselbad aus Wertschätzung und Verachtung, Vertraulichkeit und Gleichgültigkeit aus, nimmt ihn abwechselnd zur Brust und auf den Arm. Die eigentliche Arbeit ist schnell getan; aber Bergmann, anstatt sie mit ihm durchzugehen, bestellt ihn nach New York: Dort habe er mehr Zeit. Natürlich ist dem dann nicht so, aber Georg - und mit ihm der Leser - darf eine weitere Facette der modernen Erfolgskünstlerexistenz kennenlernen: Den Konzertbetrieb. In der Carnegie Hall wird Bergmanns Orchesterstück "Pyriphlegeton" uraufgeführt. Georg wohnt dem Ereignis bei; beeindruckt, aber verständnislos:
"Er hörte leise Streicher, er hörte ein Schaben und Kratzen, dann ein trockenes Schlagzeug, dann wieder dieses Schaben und Kratzen, das langsam lauter wurde und sich allmählich verwandelte in eine Form von Streicherklang, der ihm bekannt war. Doch sobald er diesen ihm bekannten Streicherklang gehört hatte, verschwand er schon wieder und verwandelte sich in eine schmerzhaftes, ziehendes und metallisches Geräusch, das nun von Klängen unterbrochen wurde, die sich wie Pistolenschüsse oder Peitschenschläge anhörten.
So wie Georg ergeht es wohl den meisten Hörern zeitgenössischer Musik. Bei Georg liegt das aber nicht am Komplexitätsgrad der Klänge, sondern an einer grundsätzlichen Unzugänglichkeit. Er weiß nicht, wie er sich zu Musik, und zwar gleich welcher Musik, verhalten soll:
"Wenn er ins Konzert ging, was er regelmäßig tat, weil alle anderen es auch taten, dann wußte er oft nicht, was er hörte, wenn er etwas hörte. Natürlich wußte er, daß es Töne waren, die er da hörte, Töne, die von verschiedenen Instrumenten hervorgebracht wurden. Aber er wußte nicht, was ihm diese Töne sagten. Was sagte ihm eine Mozart- Symphonie oder ein Beethoven-Streichquartett? Was sagten ihm Mahler, Bartók oder gar Bergmann? Er wußte es nicht. Und er fragte sich oft, wenn er in einvem Konzertsaal saß, was die Musik, die gerade aufgeführt wurde, den anderen sagte. Die meisten sahen aus wie kulturelle Menschen, die der Musik als solcher zuhörten. Er wäre auch gern einer dieser kulturellen Menschen gewesen. Aber wenn er ehrlich war, dann mußte er zugeben, daß er den kulturellen Menschen bloß spielte."
Aber ausgerechnet diesen etwas spröden und gehemmten, ja nach eigener Einschätzung sauertöpfischen Menschen aus dem norddeutschen Emsland zieht es zur Musik. Es ist eine unglückliche und unerwiderte Liebe, die ihn mit der Tonkunst verbindet. Treichel zeichnet diese Liebe in einer Folge von Rückblicken nach, einer kleinen Serie von Kabinettstücken, die sich selbst zu übertreffen suchen wie eine Riege von Virtuosen. Erste Station: die Blockflöte. Die erlebt der ganz junge Georg allerdings weniger als Musik- denn als Disziplinierungsinstrument:
"Blockflöte spielen, das hieß, sich nachmittags bei der Lehrerin einfinden, mit sauberem hemd, sauberen Fingern und dem festen Vorsatz, aufrecht und gerade zu sitzen. Wer nicht aufrecht sitzt, hatte die Lehrerin gesagt, der ist von vornherein für die Blockflöte verloren. Wer nicht aufrecht sitzt, der nimmt seinem Atem den Halt und versperrt ihm den Weg. Und wer seinem Atem den Halt nimmt und ihm den Weg versperrt, der nimmt in gewisser Weise auch sich selbst den Halt und versperrt sich selbst den Weg. Insofern war der Blockflötenunterricht für dei Lehrerin mehr als nur Musikunterricht. Blockflötenunterricht war, so die Lehrerin, "Wegbereitung".
Georg gibt die Blockflöte bald auf. Es folgt, nach einigen Jahren musikalischen Stillstands, als zweite Station: die Gitarre.
"Auslöser für Georgs Gitarrrenbegeisterung war eine Schallplatte mit einem grünen Etikett und der Aufschrift "Odeon". Auf der Schallplatte war der erste Beatles-Song seines Lebens. Er dauerte 2 Minuten 27 Sekunden und hatte den Titel: "I want to hold your hand". Der Song bemächtigte sich seiner so sehr, daß er schon nach dem ersten Hören wußte: Ich bin ein Beatle. Nun mußte er nur noch das Gitarrenspiel lernen. Es fügte sich, daß in der Schule ein Gitarrenkurs angeboten wurde und daß sich schnell eine kleine Gruppe von Gleichaltrigen fand, die ebenso wie Georg eingebildete Johns, Georges oder Pauls waren. Alle hatten sie vorher noch niemals eine Gitarre in der Hand gehabt und somit die besten Voraussetzungen, das Instrument von Grund auf zu erlernen. Die Blockflöte schaffte vor allem Verlegenheiten, verlangte Unterwerfung und war für eine Popkarriere gänzlich ungeeignet. Anders die Gitare, die eine rebellische Aura hatte und von der sich Georg einiges erhoffte. Allerdings hatten schon die ersten Zupfversuche das bewunderte Saiteninstrument in gewisser Weise wieder in eine Blockflöte zurückverwandelt. In ein Instrument also, das vor allem Unterwerfung verlangte."
Man ahnt es schon: Georg gibt auch dieses Instrument auf. Auch auf dem Klavier - dritte Station - kommt er nicht über das erste Präludium aus Bachs "Wohltemperierten Klavier" hinaus. Das einzige Instrument, auf dem er einigermaßen reüssiert, ist der Plattenspieler:
"Eine Schallplatte hören, das war, als gäbe er ein Konzert. Auf dem Bett liegen und Musik hören, das war ein produktiver kunstausübender Zustand, war Arbeit am eigenen Werk. Nur entstand dabei kein Werkverzeichnis. Außerdem war die Platte irgendwann zu Ende. Und wenn die Platte zu Ende war, dann verwandelte sich das Glück der eingebildeten Kunstausübung in eine große Traurigkeit. Der Traurigkeit konnte man nur begegnen, indem man sofort wieder eine Platte auflegte, was zur Folge hatte, daß er in dieser Phase seiner Jugend über Tage, Wochen und Monate nichts anderes getan hatte, als auf dem Bett zu liegen, Schallplatten zu hören und sich schöpferisch zu fühlen."
Auf groteske und peinliche Weise scheitert schließlich Georgs Versuch, die Musik zu instrumentalisieren: als Mittel der Verführung. Und hier kommt der Titel des Romans ins Spiel:
"Der Tristanakkord war der einzige Akkord, den Georg dem Namen nach kannte. Darum neigte er auch dazu, immer wenn er Wagner oder Wagnerähnliches und einen sehnsüchtig-traurigen und irgendwie unerlösten Akkord hörte, sofort zu sagen: "Der Tristanakkord". Das hatte gelegentlich, besonders bei einigen germinstikstuentinnen, Eindruck gemacht, bis zu dem Tag, als er an eine Germanistikstudentin geraten war, die im Nebenfach Musikwissenschaft studierte. Er hatte die Kommilitonin zum gemeinsamen Kochen und Abendessen eingeladen. Während des Kochens hatte er Miles Davis und zum Essen "Tristan und Isolde" aufgelegt und dabei mehrmals und wie nebenher "Der Tristanakkord" gesagt. Als er, sie waren schon beim Dessert, noch einmal "Der Tristanakkord" gesagt hatte und dabei seine Hand auf ihre legen wollte, hatte sie die Hand zurückgezogen und ohne Umschweife geäußert: "So geht das nicht." Danach hatte sie sich ziemlich rasch verabschiedet und ihn auch nie wieder angerufen."
Als Bergmann Georg überraschend beauftragt, in seinem Landhaus in Sizilien einen kurzen Text für den Schlußsatz seiner symphonischen Dichtung "Elysian Fields" zu schreiben, eine Hymne in 14 Versen, trifft er den vielfach verhinderten Künstler also an einem wunden Punkt. Er fühlt sich geschmeichelt und erhoben, hofft auf einen künftigen Eintrag in große Musiklexika, auf Stück Unsterblichkeit, na ja, so ehrlich ist er: wenigstens eine "Trittbrettunsterblichkeit". Aber wieder befällt ihn die Schreibhemmung. Nicht vierzehn Zeilen - keine einzige will ihm einfallen. In seiner Not nimmt er ein Gedicht von Georg Heym, das von der Stimmung her passt, und schreibt es um. Natürlich merkt Bergmann den Schwindel und bittet um eine Umarbeitung des Textes. Dazu fühlt sich Georg aber außerstande. Er verzichtet innerlich auf die Trittbrettunsterblichkeit und findet sich damit ab, zu seiner Doktorarbeit zurückzukehren, eine Untersuchung über das Vergessen in der deutschen Literatur, die keinen interessiert, nicht einmal ihn selber."
Ein sonderbares, ein wunderbares Paar hat Hans-Ulrich Treichel in den Mittelpunkt seines Romans "Tristanakkord" gestellt, die künstlerische Sonne Bergmann und den unglücklichen Trabanten Georg, der eine kurze Strecke in dseine Umlaufbahn, in sein Licht, seine Wärme geraten ist, bis er sich wieder im All der Anonymität verliert. Diese Paarung hat auf ihre Art ebensoviel Reiz wie die des fahrenden Ritters Don Quijote und seines Knappen Sancho Panza, nur dass hier der Knappe von der traurigen Gestalt ist und Ritter auch die Lebenstüchtigkeit gepachtet hat. Ihr dreimaliges Zusammentreffen in Schottland, New York und Sizilien, ihre wenigen Gespräche sind eine Folge von Missverständnissen und daher eine Quelle der Komik.
Variiert, aktualisiert und ironisiert hat Treichel mit diesem Buch eine ehrwürdige Gattung der Literatur: den Künstlerroman. Der hat seinen Ursprung in der Frühromantik und eine obligat tragische Grundierung:
"Wer sich der Kunst ergiebt, muß das, was er als Mensch ist und sein könnte, aufopfern", schrieb Ludwig Tieck vor zweihundert Jahren in seinem Roman "Franz Sternbalds Wanderungen". Damit ist der Mollakkord angeschlagen, über dem sich die Melodie aller romantischen Künstlerromane erheben wird. Hier der Künstler, groß und edel, aber unverstanden, dort die schnöde Welt, die nicht weiß, was sie da in ihrer Mitte zugrundengehen läßt. Denn Untergang muss sein, auch wenn der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Kunst und Geld, zwischen Künstler und verständnisloser, materialistischer Umgebung im Lauf der Literaturgeschichte, von Heine über Thomas Mann bis hin zu Thomas Bernhard, mehr und mehr ironisch grundiert wird. Hans-Ulrich Treichels Künstlerroman ist nun von ganz anderer Art. Sein Künstler hat Erfolg, so viel man sich nur wünschen mag."
"Bei Bergmann handele es sich nicht um irgendeinen berühmten deutschen und noch lebenden Komponisten, sondern um den beühmtesten lebenden deutschen Komponisten schlechthin",
erfährt Georg von einem wohlinformierten Kommilitonen. Bergmanns Werke werden in allen großen Musikzentren der Welt gespielt, ihm werden Festivals gewidmet, Orden verliehen, ausführliche Einträge in Enzyklopädien und, wie Georg erstaunt feststellt, dreihundert Titel Sekundärliteratur. Bergmann ist nicht der arme Hungerleider, dessen einzige Hoffnung sich auf die Nachwelt richtet, Bergmann ist die zeitgenössische Erscheinungsform des Künstlers: der Star. Äußerlich betrachtet unterscheidet ihn nichts von Pop-Idolen oder den Größen des Tennis-Zirkus: Er hat viel Geld, viel Glamour und viel Publicity. Aber - und das ist eine weitere komische Dimension dieses Romans - der Abstand zur Welt bleibt bestehen. Diese mag zwar den Künstler auszeichnen, seine Kunst versteht sie nicht. Erfolg, so könnte man folgern, ist ein Mißverständnis, weil er nur der Außenseite der Kunst, ihrer Betriebsfähigkeit gilt, und nur der weltlichen Seite des Künstlers, dem Liebhaber guter Weine, komfortabler Hotelsuiten und einer eifrigen Entourage. Was das Wesentliche betrifft, seine Kunst, ist Bergmann auf wenige verständnisvolle Anhänger beschränkt, ja, streng genommen ist er so allein und einsam wie sein romantischer Vorgänger, der arme Spielmann.
Auch Bergmann leidet an der Welt; weil dieses Leiden aber auf hohem materiellen und Anerkennungs-Niveau stattfindet, wirkt es auf den Leser nicht tragisch, sondern komisch. Treichel führt dies auf allen Ebenen des Künstlerlebens durch, von der Ehe - entweder man komponiert oder man führt eine Ehe, meint Bergmann - bis zum Verhältnis zu anderen Komponisten.
Jeder wahre Künstler beansprucht im Prinzip die ganze Welt für sich und empfindet jeden Kollegen als Konkurrenten, als Bedrohung. "Lebt man denn, wenn andere leben?" hat Goethe absolutistisch gefragt. Im modernen Kunstbetrieb ist die künstlerische Rivalität keine Frage von Sein oder Nichtsein, sondern des Marktanteils. Bergmann setzt das seinem Bewunderer ganz nüchtern auseinander:
"Nerlinger war, was Bekanntheit, Aufführungszahlen und den zu erwartenden Nachruhm anging, sein schärfster Rivale. Wohl gab es auch noch Scheer und Witte, die beide ebenso alt wie Bergmann und Nerlinger, seit Jahrzehnten aktiv und international bekannt waren, doch stellten weder Scheer noch Witte eine echte Konkurrenz dar. Bergmann lobte sie sogar ausdrücklich für ihren konsequenten Eigensinn. Scheers Eigensinn bestand darin, daß er sogar Baukräne und Abrißbirnen für seine Kompositionen einsetzte, was in einem normalen Konzertsaal natürlich nicht zu machen war. Witte dagegen war insofern eigensinnig, als er mehrere Forschungsinstitute und Rechenzentren für seine Kompositionen benötigte. Für eines seiner berühmtesten Orchesterstücke, das "Pythagoras Wurzel aus Eins", hatte er sogar das CERN in Genf bemüht. "Ohne Nuklearforschung", sagte Bergmann, "macht es Witte nicht mehr". Er selbst brauche nur Papier, einen Bleistift und einen Anspitzer, Witte aber einen Teilchenbeschleuniger. Bergmann sagte, daß er sich von Witte und Scheer noch viele Kompositionen mit Abrißbirne, Baukran, Teilchenbeschleuniger und Forschungszentrum wünsche. "Ich unterstütze das sehr", sagte Bergmann. Das halte die Spielpläne und Konzertsäle für seine eigenen Arbeiten frei, und damit sei doch allen gedient."
Anders Nerlinger, der wie er selbst Sinfonien und Opern schreibt und ihm auf seinem eigenen Feld Konkurrenz macht. Der Eitelkeit und Überempfindlichkeit in diesem Punkt gewinnt Treichel immer neue komische Wendungen ab. So soll Nerlinger wohl in Bergmanns Memoiren vorkommen, nicht aber im Personenverzeichnis. Die Konkurrenz wird über Aufführungszahlen, Auszeichnungen und Interviews ausgetragen, mit Komplimenten, die wie vergiftete Pfeile hin und hergehen und den Weg ins verletzbare Künstlerherz sicher finden. Zu einem grotesken Höhepunkt führt Treichel den Gegensatz von Kunst und Welt, als er Bergmann in einer amerikanischen Talkshow auftreten läßt. Der Moderator hat weder eine Ahnung von Musik noch Interesse an seinem Gast und muss überdies noch einen gleichzeitig im Studio veranstalteten Rekordversuch im Tauchen beobachten. So wird der Auftritt des "berühmtesten lebenden deutschen Komponisten schlechthin" im harten Licht der TV-Scheinwerfer zum Fiasko. Aber eines, das nur den inneren Bezirk dieser modernen Künstlerfigur trifft; die Außenseite, der Künstler als Star, bleibt davon unbeeinträchtigt. Nur wütend ist Bergmann über die Behandlung: kein Wunder.
Hans-Georg Treichel hat mit dem "Tristanakkord" den Künstlerroman unserer betriebsnudeligen Jahre geschrieben, einem alten Genre ein zeitgenössisches Gewand umgehängt. Die hohen Erwartungen, die ihm nach seinem letzten Buch "Der Verlorene" entgegenschlugen, hat er mit dem neuen sogar noch übertroffen. Mit Georg zu sprechen: Treichel gehört jetzt zu den besten deutschen Autoren schlechthin.
Seine Prosa, von durchgehender sanfter Ironie, über viele Seiten absatzlos dahinströmend - ohne daß man beim Lesen ein einziges Mal absetzen möchte -, erinnert von Ferne an den Kunstfanatismus und die zwingende Konsequenz eines Thomas Bernhard, manchmal aber auch an die formulierfreudige Leidensvirtuosität eines Martin Walser. Er erlaubt sich zahlreiche Abschweifungen, bei denen man gern verweilt, etwa eine hinreißende Akademikersatire oder das köstliche Porträt eines blasierten Architekturkritikers, kehrt aber immer wieder zur Grundtonart, und zum Hauptthema zurück: Der Künstler und die Welt, die sich umarmen und doch verfehlen. Der nachgerade geniale Schachzug Treichels ist dabei die Einführung des Kurzzeittrabanten Georg als komische Personifizierung dieser Welt, den es so mächtig zur Kunst zieht und der doch ausgeschlossen bleibt wie der Bauer in Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz", der nur bewundern kann, aber nicht verstehen.
Und weil Treichel konsequent Georgs Perspektive einhält, sind auch wir Leser auf den stoffeligen Germanisten aus dem Emsland angewiesen, um uns unser Bild zu machen. Weil auch uns damit der Zugang zu Bergmanns Kunst versperrt ist, muss offenbleiben, ob er ein Genie oder bloß ein hochgespielter Scharlatan ist. Auch wir hören nur das Rattern des Bleistiftspitzers. Das ist Treichels letzte Pointe. Der Tristanakkord bleibt unaufgelöst.
Wie kommt Kunst zustande? Das ist eines der großen ungelösten Geheimnisse. Einfache Antworten - der Künstler erhält seine Eingebungen von Gott, von der Muse, von der Inspiration - befriedigen ebenso wenig wie Erklärungen, die schlichtweg behaupten, das Geheimnis sei gar keines, der Künstler nämlich ein bloßer Handwerker oder Techniker. Ein Gedicht und ein Roman, eine Sonate oder eine Sinfonie haben gewiß analysierbare Strukturen und setzen die Beherrschung des Handwerks voraus, aber darüber hinaus steckt darin etwas, was sich der Analyse entzieht, was mit keiner Regel erklärt ist, weshalb man mit einem altmodischen und aus dem religiösen Bereich stammenden, aber durchaus treffenden Ausdruck von "Schöpfung" spricht. Stefan Zweig hat Autographen gesammelt, weil er glaubte, dort dem Schöpfungsmoment am nächsten zu kommen. Aber in der Handschrift von Goethe oder Beethoven bekommt er nur Spuren der Inspiration, nie diese selbst zu fassen. Wie Kunst zustande kommt, kann vielleicht nur ein Künstler darstellen.
In Hans-Ulrich Treichels neuem Roman "Tristanakkord" nehmen wir an einer solchen Schöpfungsszene teil. Genaugenommen sogar an zwei. Beide Hauptfiguren in Treichels Roman sind Künstler, allerdings von höchst unterschiedlicher Art und Vollendung. Bergmann, der eine, ist ein arrivierter Komponist von internationalem Renommee; Georg, der andere, ist ein arbeitsloser Germanist, der in einem Kleinverlag ein Gedichtbändchen herausgegeben hat, das ohne Leser und Erfolg geblieben ist. Bergmann hat Georg in sein Sommerhaus auf die Shetland-Insel Scarp eingeladen, damit er seine Memoiren Korrektur liest. Georg erhofft sich von der nördlichen Szenerie (und der künstlerischen Nähe) auch dichterische Inspiration:
"Georg genoß die Natur, er genoß die Stille, und er genoß auch, daß er in Gegenwart des berühmten Mannes arbeiten konnte. "Bergmann komponiert, und ich dichte", sagte sich Georg, wenn er sich an den Schreibtisch setzte und spürte, daß ihn etwas überkam, was er vorher nicht gekannt hatte und was er bei sich ein 'kulturelles Gefühl' nannte. Wohl spürte er dieses Gefühl, wenn er sich an den Schreibtisch setzte, doch wenn er am Schreibtisch saß, konnte er plötzlich nicht mehr dichten. Er wollte sein erstes Schottlandgedicht schreiben, es sollte der Anfang eines Zyklus sein, doch nicht der kleinste Schottlandvers wollte ihm gelingen."
Um so besser geht offensichtlich dem Komponisten die Arbeit von der Hand. Und genau das lähmt den verhinderten Dichter:
"Georg wollte schreiben, doch irgend etwas hinderte Georg am Schreiben. Er brauchte einige Zeit, bis er begriff, was es war. Es war das Summen von Bergmanns elektrischem Bleistiftanspitzer. Das Geräusch war nicht sehr laut, aber doch deutlich zu hören, und wenn es nicht zu hören war, dann störte es Georg insofern, als er wußte, daß es bald wieder zu hören sein würde. Außerdem bildete er sich ein, immer dann, wenn er das Summen des Bleistiftanspitzers nicht hörte, das Kratzen des Bleistifts zu hören. So gut wie niemals hörte Georg gar nichts. Bergmann schrieb unablässig, und wenn er nicht schrieb, dann spitzte er seinen Bleistift. Je geringer die Zeitabstände waren, in denen der Bleistiftanspitzer summte, um so schneller komponierte Bergmann. Und je schneller Bergmann komponierte, um so mehr erstarrte Georgs Schreibhand unter Bergmanns Komponiertempo.
Ist Bergmann also ein Komponierbeamter, der sich bloß an den Schreibtisch zu setzen braucht, damit die Einfälle aus ihm herausströmen und sich über das Notenpapier ergießen? Durchaus nicht. Manchmal überfallen sie ihn unvermittelt, zum Beispiel mitten in einem Gespräch. Dann rudert er plötzlich wild mit den Armen oder stößt zischende Laute hervor - zur großen Verwirrung des dienstbaren Germanisten. Von dem, was beim Schöpfungsakt vor sich geht, begreift der nichts - genausowenig wie der Leser. Hans-Georg Treichel läßt beide außen vor. Was sie von der Kunst zu fassen bekommen, ist nur ihre äußerliche Seite. Die ist zwar durchaus un-gewöhnlich, aber doch vollkommen von dieser Welt:
"Die Welt ist mir schuldig, was ich brauche," hat Richard Wagner einmal gesagt. Der Satz könnte auch von Bergmann stammen. Der braucht eine ganze Menge. Zum Beispiel verschiedene inspirierende Wohnsitze und luxuriöse Hotelsuiten. Dann einen Troß hilfreicher Geister, der ihn begleitet wie einen Tennisstar: Chauffeur und Assistentin, Sekretär und Physiotherapeutin. Der Wein muß der richtige und der Whisky in ausreichenden Mengen vorhanden sein. Künstler sind störbar; Bergmann ist es in besonderem und ausgesuchtem Maße. Er verträgt keinen Harris-Tweed-Stoff und kein Aberdeen-Rowie-Gebäck nach dem Lunch (wohl aber nach dem Frühstück). Ein fehlendes "Gilet", eine bestimmte Weste, löst einen Wutanfall und Telefonate um den halben Erdball aus, ein verweigerter Flügel Zerstörungsphantasien wie bei einer Thomas-Bernhard-Figur:
"Während des Abendessens berichtete Bruno, daß er das Opernhaus Edinburgh angerufen und um einen Flügel gebeten hatte. Einen Flügel für Bergmann. Worauf das Opernhaus Edinburgh schöne Grüße an Herrn Bergmann habe ausrichten lassen sowie die Nachricht, daß man im Prinzip gern und jederzeit mit einem Flügel aushülfe, nur sei im Moment kein Flügel frei. Nach Edinburgh gehe er nicht mehr, sagte Bergmann darauf. Edinburgh würde seine Arbeit behindern. Wenn man es genau nähme, würde Edinburgh seine Arbeit boykottieren. Wenn Edinburgh ihn vernichten wolle, sagte Bergmann, dann könne er auch Edinburgh vernichten. Das mache ihm nicht das geringste aus. Bruno solle Glasgow anrufen.
"Natürlich schickt Glasgow einen Flügel, der mit großem Aufwand auf die Insel gebracht - und von Bergmann dann so gut wie gar nicht benutzt wird. Ein bißchen wie dieser Flügel fühlt sich auch Georg. Bergmann hat ihn herbestellt, scheint dann aber wenig mit ihm anfangen zu können. Er setzt den jungen Gast einem Wechselbad aus Wertschätzung und Verachtung, Vertraulichkeit und Gleichgültigkeit aus, nimmt ihn abwechselnd zur Brust und auf den Arm. Die eigentliche Arbeit ist schnell getan; aber Bergmann, anstatt sie mit ihm durchzugehen, bestellt ihn nach New York: Dort habe er mehr Zeit. Natürlich ist dem dann nicht so, aber Georg - und mit ihm der Leser - darf eine weitere Facette der modernen Erfolgskünstlerexistenz kennenlernen: Den Konzertbetrieb. In der Carnegie Hall wird Bergmanns Orchesterstück "Pyriphlegeton" uraufgeführt. Georg wohnt dem Ereignis bei; beeindruckt, aber verständnislos:
"Er hörte leise Streicher, er hörte ein Schaben und Kratzen, dann ein trockenes Schlagzeug, dann wieder dieses Schaben und Kratzen, das langsam lauter wurde und sich allmählich verwandelte in eine Form von Streicherklang, der ihm bekannt war. Doch sobald er diesen ihm bekannten Streicherklang gehört hatte, verschwand er schon wieder und verwandelte sich in eine schmerzhaftes, ziehendes und metallisches Geräusch, das nun von Klängen unterbrochen wurde, die sich wie Pistolenschüsse oder Peitschenschläge anhörten.
So wie Georg ergeht es wohl den meisten Hörern zeitgenössischer Musik. Bei Georg liegt das aber nicht am Komplexitätsgrad der Klänge, sondern an einer grundsätzlichen Unzugänglichkeit. Er weiß nicht, wie er sich zu Musik, und zwar gleich welcher Musik, verhalten soll:
"Wenn er ins Konzert ging, was er regelmäßig tat, weil alle anderen es auch taten, dann wußte er oft nicht, was er hörte, wenn er etwas hörte. Natürlich wußte er, daß es Töne waren, die er da hörte, Töne, die von verschiedenen Instrumenten hervorgebracht wurden. Aber er wußte nicht, was ihm diese Töne sagten. Was sagte ihm eine Mozart- Symphonie oder ein Beethoven-Streichquartett? Was sagten ihm Mahler, Bartók oder gar Bergmann? Er wußte es nicht. Und er fragte sich oft, wenn er in einvem Konzertsaal saß, was die Musik, die gerade aufgeführt wurde, den anderen sagte. Die meisten sahen aus wie kulturelle Menschen, die der Musik als solcher zuhörten. Er wäre auch gern einer dieser kulturellen Menschen gewesen. Aber wenn er ehrlich war, dann mußte er zugeben, daß er den kulturellen Menschen bloß spielte."
Aber ausgerechnet diesen etwas spröden und gehemmten, ja nach eigener Einschätzung sauertöpfischen Menschen aus dem norddeutschen Emsland zieht es zur Musik. Es ist eine unglückliche und unerwiderte Liebe, die ihn mit der Tonkunst verbindet. Treichel zeichnet diese Liebe in einer Folge von Rückblicken nach, einer kleinen Serie von Kabinettstücken, die sich selbst zu übertreffen suchen wie eine Riege von Virtuosen. Erste Station: die Blockflöte. Die erlebt der ganz junge Georg allerdings weniger als Musik- denn als Disziplinierungsinstrument:
"Blockflöte spielen, das hieß, sich nachmittags bei der Lehrerin einfinden, mit sauberem hemd, sauberen Fingern und dem festen Vorsatz, aufrecht und gerade zu sitzen. Wer nicht aufrecht sitzt, hatte die Lehrerin gesagt, der ist von vornherein für die Blockflöte verloren. Wer nicht aufrecht sitzt, der nimmt seinem Atem den Halt und versperrt ihm den Weg. Und wer seinem Atem den Halt nimmt und ihm den Weg versperrt, der nimmt in gewisser Weise auch sich selbst den Halt und versperrt sich selbst den Weg. Insofern war der Blockflötenunterricht für dei Lehrerin mehr als nur Musikunterricht. Blockflötenunterricht war, so die Lehrerin, "Wegbereitung".
Georg gibt die Blockflöte bald auf. Es folgt, nach einigen Jahren musikalischen Stillstands, als zweite Station: die Gitarre.
"Auslöser für Georgs Gitarrrenbegeisterung war eine Schallplatte mit einem grünen Etikett und der Aufschrift "Odeon". Auf der Schallplatte war der erste Beatles-Song seines Lebens. Er dauerte 2 Minuten 27 Sekunden und hatte den Titel: "I want to hold your hand". Der Song bemächtigte sich seiner so sehr, daß er schon nach dem ersten Hören wußte: Ich bin ein Beatle. Nun mußte er nur noch das Gitarrenspiel lernen. Es fügte sich, daß in der Schule ein Gitarrenkurs angeboten wurde und daß sich schnell eine kleine Gruppe von Gleichaltrigen fand, die ebenso wie Georg eingebildete Johns, Georges oder Pauls waren. Alle hatten sie vorher noch niemals eine Gitarre in der Hand gehabt und somit die besten Voraussetzungen, das Instrument von Grund auf zu erlernen. Die Blockflöte schaffte vor allem Verlegenheiten, verlangte Unterwerfung und war für eine Popkarriere gänzlich ungeeignet. Anders die Gitare, die eine rebellische Aura hatte und von der sich Georg einiges erhoffte. Allerdings hatten schon die ersten Zupfversuche das bewunderte Saiteninstrument in gewisser Weise wieder in eine Blockflöte zurückverwandelt. In ein Instrument also, das vor allem Unterwerfung verlangte."
Man ahnt es schon: Georg gibt auch dieses Instrument auf. Auch auf dem Klavier - dritte Station - kommt er nicht über das erste Präludium aus Bachs "Wohltemperierten Klavier" hinaus. Das einzige Instrument, auf dem er einigermaßen reüssiert, ist der Plattenspieler:
"Eine Schallplatte hören, das war, als gäbe er ein Konzert. Auf dem Bett liegen und Musik hören, das war ein produktiver kunstausübender Zustand, war Arbeit am eigenen Werk. Nur entstand dabei kein Werkverzeichnis. Außerdem war die Platte irgendwann zu Ende. Und wenn die Platte zu Ende war, dann verwandelte sich das Glück der eingebildeten Kunstausübung in eine große Traurigkeit. Der Traurigkeit konnte man nur begegnen, indem man sofort wieder eine Platte auflegte, was zur Folge hatte, daß er in dieser Phase seiner Jugend über Tage, Wochen und Monate nichts anderes getan hatte, als auf dem Bett zu liegen, Schallplatten zu hören und sich schöpferisch zu fühlen."
Auf groteske und peinliche Weise scheitert schließlich Georgs Versuch, die Musik zu instrumentalisieren: als Mittel der Verführung. Und hier kommt der Titel des Romans ins Spiel:
"Der Tristanakkord war der einzige Akkord, den Georg dem Namen nach kannte. Darum neigte er auch dazu, immer wenn er Wagner oder Wagnerähnliches und einen sehnsüchtig-traurigen und irgendwie unerlösten Akkord hörte, sofort zu sagen: "Der Tristanakkord". Das hatte gelegentlich, besonders bei einigen germinstikstuentinnen, Eindruck gemacht, bis zu dem Tag, als er an eine Germanistikstudentin geraten war, die im Nebenfach Musikwissenschaft studierte. Er hatte die Kommilitonin zum gemeinsamen Kochen und Abendessen eingeladen. Während des Kochens hatte er Miles Davis und zum Essen "Tristan und Isolde" aufgelegt und dabei mehrmals und wie nebenher "Der Tristanakkord" gesagt. Als er, sie waren schon beim Dessert, noch einmal "Der Tristanakkord" gesagt hatte und dabei seine Hand auf ihre legen wollte, hatte sie die Hand zurückgezogen und ohne Umschweife geäußert: "So geht das nicht." Danach hatte sie sich ziemlich rasch verabschiedet und ihn auch nie wieder angerufen."
Als Bergmann Georg überraschend beauftragt, in seinem Landhaus in Sizilien einen kurzen Text für den Schlußsatz seiner symphonischen Dichtung "Elysian Fields" zu schreiben, eine Hymne in 14 Versen, trifft er den vielfach verhinderten Künstler also an einem wunden Punkt. Er fühlt sich geschmeichelt und erhoben, hofft auf einen künftigen Eintrag in große Musiklexika, auf Stück Unsterblichkeit, na ja, so ehrlich ist er: wenigstens eine "Trittbrettunsterblichkeit". Aber wieder befällt ihn die Schreibhemmung. Nicht vierzehn Zeilen - keine einzige will ihm einfallen. In seiner Not nimmt er ein Gedicht von Georg Heym, das von der Stimmung her passt, und schreibt es um. Natürlich merkt Bergmann den Schwindel und bittet um eine Umarbeitung des Textes. Dazu fühlt sich Georg aber außerstande. Er verzichtet innerlich auf die Trittbrettunsterblichkeit und findet sich damit ab, zu seiner Doktorarbeit zurückzukehren, eine Untersuchung über das Vergessen in der deutschen Literatur, die keinen interessiert, nicht einmal ihn selber."
Ein sonderbares, ein wunderbares Paar hat Hans-Ulrich Treichel in den Mittelpunkt seines Romans "Tristanakkord" gestellt, die künstlerische Sonne Bergmann und den unglücklichen Trabanten Georg, der eine kurze Strecke in dseine Umlaufbahn, in sein Licht, seine Wärme geraten ist, bis er sich wieder im All der Anonymität verliert. Diese Paarung hat auf ihre Art ebensoviel Reiz wie die des fahrenden Ritters Don Quijote und seines Knappen Sancho Panza, nur dass hier der Knappe von der traurigen Gestalt ist und Ritter auch die Lebenstüchtigkeit gepachtet hat. Ihr dreimaliges Zusammentreffen in Schottland, New York und Sizilien, ihre wenigen Gespräche sind eine Folge von Missverständnissen und daher eine Quelle der Komik.
Variiert, aktualisiert und ironisiert hat Treichel mit diesem Buch eine ehrwürdige Gattung der Literatur: den Künstlerroman. Der hat seinen Ursprung in der Frühromantik und eine obligat tragische Grundierung:
"Wer sich der Kunst ergiebt, muß das, was er als Mensch ist und sein könnte, aufopfern", schrieb Ludwig Tieck vor zweihundert Jahren in seinem Roman "Franz Sternbalds Wanderungen". Damit ist der Mollakkord angeschlagen, über dem sich die Melodie aller romantischen Künstlerromane erheben wird. Hier der Künstler, groß und edel, aber unverstanden, dort die schnöde Welt, die nicht weiß, was sie da in ihrer Mitte zugrundengehen läßt. Denn Untergang muss sein, auch wenn der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Kunst und Geld, zwischen Künstler und verständnisloser, materialistischer Umgebung im Lauf der Literaturgeschichte, von Heine über Thomas Mann bis hin zu Thomas Bernhard, mehr und mehr ironisch grundiert wird. Hans-Ulrich Treichels Künstlerroman ist nun von ganz anderer Art. Sein Künstler hat Erfolg, so viel man sich nur wünschen mag."
"Bei Bergmann handele es sich nicht um irgendeinen berühmten deutschen und noch lebenden Komponisten, sondern um den beühmtesten lebenden deutschen Komponisten schlechthin",
erfährt Georg von einem wohlinformierten Kommilitonen. Bergmanns Werke werden in allen großen Musikzentren der Welt gespielt, ihm werden Festivals gewidmet, Orden verliehen, ausführliche Einträge in Enzyklopädien und, wie Georg erstaunt feststellt, dreihundert Titel Sekundärliteratur. Bergmann ist nicht der arme Hungerleider, dessen einzige Hoffnung sich auf die Nachwelt richtet, Bergmann ist die zeitgenössische Erscheinungsform des Künstlers: der Star. Äußerlich betrachtet unterscheidet ihn nichts von Pop-Idolen oder den Größen des Tennis-Zirkus: Er hat viel Geld, viel Glamour und viel Publicity. Aber - und das ist eine weitere komische Dimension dieses Romans - der Abstand zur Welt bleibt bestehen. Diese mag zwar den Künstler auszeichnen, seine Kunst versteht sie nicht. Erfolg, so könnte man folgern, ist ein Mißverständnis, weil er nur der Außenseite der Kunst, ihrer Betriebsfähigkeit gilt, und nur der weltlichen Seite des Künstlers, dem Liebhaber guter Weine, komfortabler Hotelsuiten und einer eifrigen Entourage. Was das Wesentliche betrifft, seine Kunst, ist Bergmann auf wenige verständnisvolle Anhänger beschränkt, ja, streng genommen ist er so allein und einsam wie sein romantischer Vorgänger, der arme Spielmann.
Auch Bergmann leidet an der Welt; weil dieses Leiden aber auf hohem materiellen und Anerkennungs-Niveau stattfindet, wirkt es auf den Leser nicht tragisch, sondern komisch. Treichel führt dies auf allen Ebenen des Künstlerlebens durch, von der Ehe - entweder man komponiert oder man führt eine Ehe, meint Bergmann - bis zum Verhältnis zu anderen Komponisten.
Jeder wahre Künstler beansprucht im Prinzip die ganze Welt für sich und empfindet jeden Kollegen als Konkurrenten, als Bedrohung. "Lebt man denn, wenn andere leben?" hat Goethe absolutistisch gefragt. Im modernen Kunstbetrieb ist die künstlerische Rivalität keine Frage von Sein oder Nichtsein, sondern des Marktanteils. Bergmann setzt das seinem Bewunderer ganz nüchtern auseinander:
"Nerlinger war, was Bekanntheit, Aufführungszahlen und den zu erwartenden Nachruhm anging, sein schärfster Rivale. Wohl gab es auch noch Scheer und Witte, die beide ebenso alt wie Bergmann und Nerlinger, seit Jahrzehnten aktiv und international bekannt waren, doch stellten weder Scheer noch Witte eine echte Konkurrenz dar. Bergmann lobte sie sogar ausdrücklich für ihren konsequenten Eigensinn. Scheers Eigensinn bestand darin, daß er sogar Baukräne und Abrißbirnen für seine Kompositionen einsetzte, was in einem normalen Konzertsaal natürlich nicht zu machen war. Witte dagegen war insofern eigensinnig, als er mehrere Forschungsinstitute und Rechenzentren für seine Kompositionen benötigte. Für eines seiner berühmtesten Orchesterstücke, das "Pythagoras Wurzel aus Eins", hatte er sogar das CERN in Genf bemüht. "Ohne Nuklearforschung", sagte Bergmann, "macht es Witte nicht mehr". Er selbst brauche nur Papier, einen Bleistift und einen Anspitzer, Witte aber einen Teilchenbeschleuniger. Bergmann sagte, daß er sich von Witte und Scheer noch viele Kompositionen mit Abrißbirne, Baukran, Teilchenbeschleuniger und Forschungszentrum wünsche. "Ich unterstütze das sehr", sagte Bergmann. Das halte die Spielpläne und Konzertsäle für seine eigenen Arbeiten frei, und damit sei doch allen gedient."
Anders Nerlinger, der wie er selbst Sinfonien und Opern schreibt und ihm auf seinem eigenen Feld Konkurrenz macht. Der Eitelkeit und Überempfindlichkeit in diesem Punkt gewinnt Treichel immer neue komische Wendungen ab. So soll Nerlinger wohl in Bergmanns Memoiren vorkommen, nicht aber im Personenverzeichnis. Die Konkurrenz wird über Aufführungszahlen, Auszeichnungen und Interviews ausgetragen, mit Komplimenten, die wie vergiftete Pfeile hin und hergehen und den Weg ins verletzbare Künstlerherz sicher finden. Zu einem grotesken Höhepunkt führt Treichel den Gegensatz von Kunst und Welt, als er Bergmann in einer amerikanischen Talkshow auftreten läßt. Der Moderator hat weder eine Ahnung von Musik noch Interesse an seinem Gast und muss überdies noch einen gleichzeitig im Studio veranstalteten Rekordversuch im Tauchen beobachten. So wird der Auftritt des "berühmtesten lebenden deutschen Komponisten schlechthin" im harten Licht der TV-Scheinwerfer zum Fiasko. Aber eines, das nur den inneren Bezirk dieser modernen Künstlerfigur trifft; die Außenseite, der Künstler als Star, bleibt davon unbeeinträchtigt. Nur wütend ist Bergmann über die Behandlung: kein Wunder.
Hans-Georg Treichel hat mit dem "Tristanakkord" den Künstlerroman unserer betriebsnudeligen Jahre geschrieben, einem alten Genre ein zeitgenössisches Gewand umgehängt. Die hohen Erwartungen, die ihm nach seinem letzten Buch "Der Verlorene" entgegenschlugen, hat er mit dem neuen sogar noch übertroffen. Mit Georg zu sprechen: Treichel gehört jetzt zu den besten deutschen Autoren schlechthin.
Seine Prosa, von durchgehender sanfter Ironie, über viele Seiten absatzlos dahinströmend - ohne daß man beim Lesen ein einziges Mal absetzen möchte -, erinnert von Ferne an den Kunstfanatismus und die zwingende Konsequenz eines Thomas Bernhard, manchmal aber auch an die formulierfreudige Leidensvirtuosität eines Martin Walser. Er erlaubt sich zahlreiche Abschweifungen, bei denen man gern verweilt, etwa eine hinreißende Akademikersatire oder das köstliche Porträt eines blasierten Architekturkritikers, kehrt aber immer wieder zur Grundtonart, und zum Hauptthema zurück: Der Künstler und die Welt, die sich umarmen und doch verfehlen. Der nachgerade geniale Schachzug Treichels ist dabei die Einführung des Kurzzeittrabanten Georg als komische Personifizierung dieser Welt, den es so mächtig zur Kunst zieht und der doch ausgeschlossen bleibt wie der Bauer in Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz", der nur bewundern kann, aber nicht verstehen.
Und weil Treichel konsequent Georgs Perspektive einhält, sind auch wir Leser auf den stoffeligen Germanisten aus dem Emsland angewiesen, um uns unser Bild zu machen. Weil auch uns damit der Zugang zu Bergmanns Kunst versperrt ist, muss offenbleiben, ob er ein Genie oder bloß ein hochgespielter Scharlatan ist. Auch wir hören nur das Rattern des Bleistiftspitzers. Das ist Treichels letzte Pointe. Der Tristanakkord bleibt unaufgelöst.