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Türkei
Die erste genossenschaftliche Textilfabrik

Um ihre Arbeitsgrundlage zu sichern, haben Arbeiter die Kasova-Textilfabrik in Instanbul vor der Pleite gerettet: Sie haben daraus eine Genossenschaft gemacht und sind nun ihre eigenen Herren. Unterstützung erhielt sie von der Gezi-Protestbewegung, die gegen die Regierung Erdogan demonstriert.

Von Markus Dichmann | 25.11.2013
    Einige Hundert Menschen zwängen sich durch die engen Straßen im Norden Istanbuls. Die Anwohner stehen auf den Fensterbänken, applaudieren. Jeder hier im Viertel weiß, was hinter der Demonstration steckt, sie alle skandieren: Überall ist Kasova, überall ist Widerstand.
    Der Protestzug kommt zum Halt, vor eben jener Fabrik namens Kasova. Ein heruntergekommenes Gebäude, eine halbe Bauruine ohne Fenster und Türen. Auf den Wänden steht auf Türkisch geschrieben: Wir werden nie wieder Sklaven sein. Vor dem Gebäude wartet Arbeiter Yussuf, seine Tochter auf dem Arm.
    Yussuf:
    "Ab sofort gehören uns die Maschinen, ganz legal! Und diesen Sieg feiern wir heute."
    Es gebt Tee und Sesamkringel für alle, die Kinder tanzen auf der Straße und viele von Istanbuls bekanntesten politisch engagierten Bands sind gekommen, um ein Solidaritätskonzert zu spielen.
    Der Sieg von dem Yussuf spricht, war ein hart umkämpfter. Um die angeschlagene Textilfabrik zu retten, baten die Besitzer ihre 94 Arbeiter Anfang des Jahres, auf insgesamt vier Monatsgehälter zu verzichten. Als die Aufträge ganz ausblieben, schickte man sie in unbezahlten Urlaub. Eine Woche später kamen die Arbeiter zurück – und die Fabrik war praktisch leer.
    Die Besitzer hatten sich mit dem Großteil der Materialien und Maschinen aus dem Staub gemacht. Die Arbeiter gingen wochenlang auf die Straße, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Einige traten sogar in den Hungerstreik. Am Ende zog es sie im Sommer auch zu den großen Gezi-Park Protesten.

    "Wir haben immer wieder darüber gesprochen, ob wir die Fabrik nicht einfach besetzen sollen. Aber Gezi gab uns den Mut, es auch zu tun."
    Sie stiegen in die Fabrik ein, brachten die heruntergekommenen Maschinen wieder auf Vordermann und fingen an zu produzieren und zu verkaufen. Und das mit nur noch 15 Mann. Viele brauchten dringend neue Jobs oder gaben auf, wegen der brutalen Angriffe der Polizei, die die Arbeiter mit Tränengas und Wasserwerfern vertreiben wollte. Im August dann aber machten sie tatsächlich das erste Mal Umsatz. Allerdings: Immer noch illegal, die Maschinen gehörten ihnen nicht.
    Die Kazova-Arbeiter fanden viele Unterstützer in der Gezi-Bewegung. Die meisten ihrer produzierten Wollpullover und Strickjacken verkauften sie in der Solidaritätsbewegung. Bei ihren Protestmärschen wurden sie von der Gruppe der Antikapitalistischen Muslime unterstützt, die schon im Sommer viele Menschen mobilisiert hatte. Einer von ihnen, Özgur Kivanc, ist auch heute da.
    Özgur Kivanc
    "Was Ressourcen wertvoll macht, ist die menschliche Arbeit. Der Islam sagt, dass alle Ressourcen allen Lebewesen dieser Welt gehören. Wir Muslime sollten uns also um soziale Strukturen bemühen, in denen jeder fair an ihnen teilhaben kann."
    Der wohl wichtigste Unterstützer war aber der Anwalt der Kasova-Arbeiter. Er hat ihnen letzten Endes den Weg in die Legalität geebnet – gegen viele juristische Widerstände. Denn der alte Firmenbesitzer hatte beste Rückendeckung. Er ist ein Freund des Premier-Ministers, früher wurden in der Fabrik Pullover für Tayyip Erdogan gefertigt.
    Yussuf:
    "Einmal wollten wir Tayyip Erdogan besuchen, wir wollten ihm sagen: Wir produzieren die Pullover doch für Dich! Aber wir wurden noch im Bus verhaftet."
    Erzählt Arbeiter Yussuf. Ihrem Anwalt ist es nun aber gelungen zu erwirken, dass den Arbeitern die Maschinen als Kompensation für die ausgefallenen Monatsgehälter überlassen werden.
    Yussuf:
    "Von jetzt an arbeiten wir als Genossenschaft. Wir Arbeiter machen alles, wir brauchen keine Bosse."
    Heute aber feiern sie erst einmal den Auszug aus der alten Fabrik. Mit ihren Maschinen ziehen sie jetzt in ein neues Gebäude – das soll nicht nur Fabrik werden, sondern auch ein Kulturzentrum, Modeschauen und Filmfestivals soll es geben. Der Aufstand der Kasova-Arbeiter ist bisher einzigartig in der Türkei. Ein Aufstand, den Arbeiter Yussuf nur für den Anfang hält.
    Yussuf:
    "Das war eine Premiere in der Türkei, aber wir wissen jetzt, dass es möglich ist. Heute ist es nur diese eine Fabrik, aber schon Morgen werden es viele mehr sein."