Die Nacht, die alles veränderte. Der 15. Juli 2016. Als Panzer über die Bosporus-Brücke rollten, Bomben auf Ankara fielen und die ganze Türkei den Atem anhielt, weil Teile des Militärs einen Putschversuch wagten. Wie sie selbst diese Schreckensnacht durchlebte, damit beginnt die Schriftstellerin Aslı Erdoğan - nicht verwandt mit ihrem Namensvetter Recep Tayyip Erdoğan - ihren neuen Essayband. Beschreibt eindringlich wie sie panisch versuchte, sich in Istanbul vor Scharfschützen in Sicherheit zu bringen. Und wie auch der nächste Morgen keine Hoffnung brachte:
"Lang schon ist der Tag angebrochen, aber er scheint am blutroten Horizont hängen zu bleiben wie an einem Haken. […] Er ist eher die Verlängerung der Nacht als ein wirklich neuer Tag. Das Licht kommt von einer ferneren, kälteren Sonne, es wärmt nicht, es tröstet nicht, es verspricht den geretteten, oder verlorenen Lebendigen nichts."
Verhaftung nach dem Putschversuch
Aslı Erdoğan ahnte schon damals, dass der Putschversuch - obwohl gescheitert - der Türkei nichts Gutes bringen wird. Dabei weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie selber zum Opfer dieser Ereignisse werden wird. Wenige Tage später wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Einen Monat danach stürmten schwerbewaffnete Spezialeinheiten der Polizei Aslı Erdoğans Wohnung, nahmen sie fest. Viereinhalb Monate lang musste sie in Untersuchungshaft bleiben, trotz großer gesundheitlicher Probleme. Für die Dauer des Gerichtsprozesses wurde die 50-Jährige freigelassen.
"Das war psychologische Folter auf höchstem Niveau. Es wäre eine Lüge zu behaupten, ich wäre davon nicht beeinträchtigt, nicht verletzt worden. Seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, bin ich ein Wrack. Nachts wache ich ständig schweißgebadet auf, ich vergesse alles. Deswegen konnte ich bisher auch nicht wieder mit dem Schreiben beginnen."
Seit Januar läuft ihr Prozess. Vorgeworfen werden ihr Mitgliedschaft und Propaganda für die verbotene Kurdenmiliz PKK. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft. Für die preisgekrönte Romanautorin und überzeugte Pazifistin eine absurde Anklage. Sie vermutet dahinter eine Einschüchterungstaktik der Regierung, weil sie sich als international bekannte türkische Intellektuelle dem Kurdenkonflikt widmet:
Gegen Gleichgültigkeit und Ignoranz
"Ich bin eine Schriftstellerin, meine Arbeit ist die Konfrontation - persönliche und gesellschaftliche Konfrontation. Eine meiner Missionen ist die Entwicklung des gesellschaftlichen Gewissens. Und davon brauchen wir reichlich. Seit 39 Jahren tobt in der Kurdenregion ein erschreckender Krieg mit Morden und Massakern. Ich halte der Türkei den Spiegel vor. Man mochte nicht, was man da im Spiegel sah, und hat mich deswegen ins Gefängnis geworfen. Doch das ändert nichts an dem Bild, sondern verstärkt es nur noch."
Zur Last gelegt wird ihr die Mitgliedschaft im Beirat der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem, die mittlerweile verboten ist. Einige von Aslı Erdoğans dort veröffentlichten Artikeln sind in ihrem Essayband zu finden. Darin widmet sie sich den zivilen Opfern des Kurdenkonfliktes, verwebt Vernehmungsprotokolle und Autopsie-Berichte zu einem literarischen Mahnmal gegen die Barbarei.
Der Kampf zwischen der PKK und dem türkischen Militär war im Sommer 2015 mit großer Brutalität wieder aufgeflammt. Die PKK verlagerte die Kämpfe von den Bergen in die Städte, die Regierung setzt auf militärische Härte - ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Ein Großteil der türkischen Medien, aber auch der Bevölkerung ignorieren das Thema. Aslı Erdoğan hingegen kämpft gegen dieses Schweigen:
"Ich will nicht Mittäterin sein an dem Grauen, dass ein einzelner, komplett verbrannter Kieferknochen eines zwölfjährigen Kindes in einem Keller gefunden wurde. Und nichts zu tun haben mit den fünf Kilo Fleisch und Knochen, die jemandem mit den Worten ausgehändigt wurden: "Dies da ist dein Vater." Ich will nichts zu tun haben mit dem schrecklichen Verbrechen an einer Mutter, die wochenlang vor einem Krankenhaus wartet, um nur einen Knochen ihres Kindes zu ergattern. Ich will nicht Mittäterin sein an der Ermordung von Menschen, und auch nicht an der Ermordung von Worten, an der Ermordung der Wahrheit."
Die Lektüre schmerzt
Ebenso deutlich setzt sich Erdoğan in ihrem Buch mit weiteren dunklen Kapiteln der türkischen Vergangenheit auseinander: der Völkermord an den Armeniern, Folter an Gefangenen oder der Unterdrückung der Frau. Dabei fasst die Autorin das Grauen in so poetische Worte, dass sie schmerzen. Sie lässt dem Leser dessen eigene Schuld bewusst werden - nämlich die Schuld der Gleichgültigkeit, der Ignoranz. So verwundert es nicht, dass das Buch bisher nicht in der Türkei erscheinen konnte - zu groß die Angst der Verleger vor Repressalien.
"In der Türkei ist Schreiben zu einer schicksalhaften Tätigkeit geworden, die sich oft anfühlt, als ob ein Geschoss von einem hauchdünnen Papier zurückgeworfen wird und einen selbst trifft. Wir müssen also schauen, was es mit diesem massiven Kern auf sich hat, auf den wir gestoßen sind. Menschen sind stark genug, um die Wahrheit zu ertragen. Es ist das Herz, das es vermag, die Wahrheit zu ertragen und das Opfer, dieses ewige Opfer, anzuerkennen."
Kampfeswille und Hoffnungslosigkeit wechseln sich in ihren Texten ab, als Leser spürt man die Traurigkeit und Einsamkeit der Autorin. Zwar sind die Essays im Buch nicht brandaktuell, sie entstanden fast alle vor dem Putschversuch.
Dennoch fangen die Texte die momentane Stimmung in der Türkei, die gespalten ist zwischen Ignoranz und ohnmächtiger Wut, besser ein als hunderte von Nachrichtenmeldungen dies vermögen. Und liefern zugleich einen Beweis, warum das Land eine so kraftvolle Stimme wie Aslı Erdoğans nicht durch politische Verfolgung verlieren darf.
Aslı Erdoğan: "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Essays",
Knaus, 192 Seiten, 17,99 Euro
Knaus, 192 Seiten, 17,99 Euro