Donnerstag, 09. Mai 2024

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Türkei und IS
"Es braucht massiven Druck auf Ankara"

Die Türkei führe derzeit mehr einen Kampf gegen die Kurden im Land statt gegen die Terrormiliz Islamischer Staat, sagte die Grünen-Politikerin Claudia Roth im DLF. Die Vizepräsidentin des Bundestags forderte mehr internationalen Druck, um die Türkei zum Kampf gegen IS zu bewegen.

Claudia Roth im Gespräch mit Christiane Kaess | 15.10.2014
    Claudia Roth (Grüne), stellvertretende Bundestagspräsidentin
    Claudia Roth (Grüne), stellvertretende Bundestagspräsidentin, fordert mehr politischen Druck auf die türkische Regierung (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
    In der Türkei spitzt sich die Lage zu. Spätestens seit dem Angriff der türkischen Armee auf Stellungen der verbotenen kurdischen Partei PKK am Montagabend. Es waren die ersten militärischen Auseinandersetzungen seit Beginn einer Waffenruhe zwischen beiden Seiten vor eineinhalb Jahren.
    Die Grünen-Politikerin Roth hält die Angriffe für ungerechtfertigt. Zwar sei die PKK keine "basisdemokratische Organisation", aber sie gleichzusetzen mit der Terrormiliz IS, wie es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan getan habe, sei unangebracht. Roth sprach von einer Eskalation innerhalb der Türkei, was eine Stimmung aus Verzweiflung und Angst anzeige. Die Regierung betreibe gegenüber den Kurden eine Politik, die "eiskalt" sei.
    Im Kampf gegen den Islamischen Staat ist die Türkei nach Roths Einschätzung aber weiter ein wichtiger Partner. Um Ankara dazu zu bewegen, die internationale Allianz gegen die Terrormiliz zu unterstützen, sei mehr Druck von außen nötig - beispielsweise durch die EU und die NATO.
    Auf UNO-Ebene müsse alles daran gesetzt werden, auch Chinas und Russlands Unterstützung für ein gemeinsames Vorgehen gegen den IS zu gewinnen, verlangte die Grünen-Politikerin.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Eine Auseinandersetzung mit Waffen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK-Anhängern, das war gestern eine beunruhigende Meldung mitten im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat an der Grenze des NATO-Mitglieds Türkei. Zunächst hieß es, es sei ein Bombardement gewesen von PKK-Stellungen durch türkisches Militär. Das dementierte die türkische Seite, sprach von einer Schießerei auf dem Boden. Klar war aber, es waren die ersten Gefechte seit Verkündung der Waffenruhe mit der PKK vor anderthalb Jahren.
    Mitgehört hat Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen. Sie ist Vizepräsidentin des Bundestages. Guten Morgen!
    Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Frau Kaess.
    "Die ganze Welt macht sich zu Recht Sorgen über den Islamischen Staat"
    Kaess: Frau Roth, der Angriff der Türkei auf Stellungen der PKK, ist das jetzt der endgültige Beweis, dass die Türkei im Kampf gegen den IS kein Partner sein kann?
    Roth: Die Türkei muss Partner sein. Aber ganz offensichtlich führt die Regierung Erdogan im Moment eher einen Kampf gegen die Kurden als gegen die IS. Die ganze Welt macht sich zu Recht Sorgen über den Islamischen Staat, diese riesengroße Gefährdung, und in der Türkei merkt man eine Stimmung aus Verzweiflung, Wut und Angst vor weiterer innerer Zuspitzung und man erlebt eine schreckliche Eskalation vonseiten der Regierung gegen die Kurden.
    "Dramatische Kriminalisierung und eine Torpedierung des Friedensprozesses durch Erdogan"
    Kaess: Auf der anderen Seite verteidigt sich ja die türkische Regierung damit, die PKK-Kämpfer hätten drei Tage lang auf Militärposten in diesem Dorf an der irakischen Grenze geschossen, wo es jetzt die Angriffe auf die PKK-Stellungen gab. Ist das eine gerechtfertigte Reaktion?
    Roth: Nein, es ist überhaupt keine gerechtfertigte Reaktion. Es fängt aber früher an. Es fängt damit an, dass Erdogan vor einer Woche und Minister aus dem Kabinett seiner Regierung die PKK gleichgesetzt hat mit dem Islamischen Staat. Jetzt ist die PKK sicher nicht eine basisdemokratische Organisation, aber sie hat ihren Anteil geleistet im Kampf gegen den Islamischen Staat. Sie hat mit den syrischen Kurden, mit der PYD viele, viele, viele Jesiden befreit. Und mitten in einem zweijährigen Friedensprozess, der in der Türkei ja passiert, auf den sehr viel Hoffnung gesetzt worden ist, die PKK gleichzusetzen mit dem Islamischen Staat, ist auf der einen Seite völlig unangebracht, was die Kurden angeht, und völlig relativierend, was die Gefahr des Islamischen Staates angeht.
    Und ich muss Ihnen sagen: In den letzten Tagen passieren ja dramatische Dinge. Natürlich gibt es Auseinandersetzungen, es gibt Gewalt, es gibt viele Tote. Aber es sind Kurden verhaftet worden in Sohud - das ist die Stadt auf der anderen Seite der Grenze von Kobane -, die helfen wollten. Flüchtlinge aus Kobane, 64, sind mit 260 Kurden, die im Gewahrsam dort sind, abgeschoben worden. Mit Verlaub: Das ist ein Bruch von humanitärem Recht. Verletzte PYD-Kämpfer sind aus dem Krankenhaus in Diyarbakir verhaftet worden, wo hingegen IS-Kämpfer in Gaziantep behandelt werden, ohne dass es dann hinterher zu Verhaftungen kommt. Wir erleben eine dramatische Kriminalisierung und eine Torpedierung des Friedensprozesses durch Erdogan.
    Kaess: Und genau das, was Sie gerade angesprochen haben, das zeigt ja wieder einmal, dass der Kampf gegen die PKK für die Türkei kein Nebenschauplatz ist, sondern eine Priorität. War es naiv vom Westen zu glauben, man könne da die Prioritäten ändern in der Türkei?
    Roth: Ja. Aber was ist das denn für eine Priorität, wenn die Kurden seit zwei Jahren verhandeln, bereit sind, eine Perspektive haben, auch die ökonomische Perspektive in den kurdischen Gebieten tatsächlich eine Bessere ist, und wenn jetzt es möglicherweise zu einer Anklage kommt gegen den Vorsitzenden der HDP - das ist die kurdische Partei - Selahattin Demirtas, der vor wenigen Wochen noch Präsidentschaftskandidat war, der ungefähr zehn Prozent der Stimmen bekommen hat, den zum ersten Mal auch Nicht-Kurden gewählt haben, aus dem linksliberalen Spektrum Menschen. Es droht eine Anklage gegen ihn, gegen den ganzen Vorstand der Partei. Wegen Aufrufs zu Demonstrationen droht ihnen lebenslänglich. Das ist wirklich eine Politik, die aus meiner Sicht eiskalt oder von Sinnen ist.
    "Massiver Druck aus der NATO"
    Kaess: Frau Roth, das können wir jetzt beklagen. Aber was könnte denn die Türkei dazu bringen, ihren Kurs zu ändern?
    Roth: Massiver Druck, massiver Druck. Die Türkei ist NATO-Partner. Massiver Druck aus der NATO. Die Türkei ist Beitrittskandidat für die Europäische Union. Massiver politischer Druck, um endlich klarzustellen, ob die Türkei bereit ist, das Päppeln des Islamischen Staats aufzukündigen, aufzuhören. Denn ich befürchte sehr, auch im Sinne der Türkei, dass die Geister, die sie riefen, sie nicht mehr loswerden. Warum können in der Türkei vor den Toren Istanbuls militärische Camps des Islamischen Staats stattfinden? Warum kann Öl verkauft werden, Millionen von Dollars eingekommen werden? Warum sind Waffenlieferungen vonseiten der Türkei an den Islamischen Staat möglich? Und warum um alles in der Welt öffnet der NATO-Partner Türkei nach wie vor nicht den Stützpunkt Incirlik für die internationale Allianz? Da braucht es massiven politischen Druck.
    Kaess: Dann sind wir auf der internationalen Ebene. Wie wohlfeil ist es denn von der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt zu verlangen, die Bundeswehr müsse bereit sein, sich an einem Einsatz mit Bodentruppen zu beteiligen, wenn es ein UN-Mandat gebe, wenn wir eigentlich alle wissen, Frau Roth, es wird ein solches Mandat nie geben?
    Roth: Nein, das weiß ich gar nicht, dass wir wissen, dass es nie ein solches Mandat geben wird.
    Roth: Die UNO muss gestärkt werden
    Kaess: Russland und China blockieren im Sicherheitsrat bisher alles.
    Roth: Ja. Aber dann muss alles, aber auch wirklich alles getan werden, um auch Russland und China mit in eine internationale Allianz unter dem Dach der Vereinten Nationen zu bekommen. Ich meine, die Vereinten Nationen, die sind nun einmal der Ort, wo eine Weltgemeinschaft zusammenkommt. Und wenn der Islamische Staat - und da habe ich keinen Zweifel daran - eine Riesengefährdung ist, eine riesengroße Gefahr, dann muss es darum gehen, die UNO zu stärken und immer wieder zu versuchen, tatsächlich doch im Rahmen der UNO ein gemeinsames Vorgehen hinzubekommen.
    Kaess: Aber das wird in Bezug auf Syrien seit drei Jahren, wenn ich mich recht erinnere, versucht.
    Roth: Ja. Dann muss es eben drei Jahre und einen Monat und zwei Monate und drei Monate probiert werden. Warum geht Frau Merkel nicht zur UNO und stellt sich hin und sagt, wir brauchen eine humanitäre Offensive. Die UNO bekommt ja nicht mal die Gelder, die sie dringend braucht, um die Flüchtlinge zu versorgen. Sie haben jetzt die Hilfsmittel um 40 Prozent kürzen müssen, weil die Gelder nicht kommen. Warum geht Angela Merkel nicht hin und sagt, Deutschland ist ein starker Staat, wir wollen auch die Russen, wir wollen die Chinesen mit in eine gemeinsame Aktion, in eine Perspektive tun. Warum geht man nicht hin und sagt, die regionalen Mächte, und zwar alle regionalen Mächte müssen an den Tisch. Saudi-Arabien kann sich nicht weiter verweigern, auch mit dem Iran zu verhandeln. Ich glaube, zu sagen, es klappt eh nicht und damit versuchen wir es gar nicht mehr, ist eine falsche Perspektive in einer so gefährlichen Situation.
    "Kruden brauchen stärkere Unterstützung der internationalen Allianz durch Luftangriffe"
    Kaess: Und zum Schluss noch mit der Bitte um eine kurze Antwort, weil wir schon wieder auf die Nachrichten zulaufen: Warum gehen wir in diesem Zusammenhang nicht den kürzesten und pragmatischsten Weg und gehen auf die Forderungen der Kurden in Kobane ein? Die wünschen sich Waffen.
    Roth: Ich glaube, die Kurden brauchen auf jeden Fall offene Zugänge zur Unterstützung, was Personal angeht, was materielle Unterstützung angeht, ...
    Kaess: Auch Waffen!
    Roth: ..., und sie brauchen eine stärkere Unterstützung der internationalen Allianz durch Luftangriffe, und dazu braucht es Incirlik.
    Kaess: Und sie brauchen Waffen, so wie sie das verlangen.
    Roth: Sie haben Waffen. Sie haben aber nicht die genügende Unterstützung für die internationale Allianz, und da weigert sich die Türkei und das ist verantwortungslos.
    Kaess: ..., sagt Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen, Vizepräsidentin des Bundestages. Frau Roth, vielen herzlichen Dank für dieses Gespräch heute Morgen.
    Roth: Ich danke Ihnen auch. Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.