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Überraschte Experten

Kernenergie. - Die Jahrestagung Kerntechnik in Berlin stand unter dem Eindruck des Reaktorunfalls im japanischen Fukushima. Die Branche schaut nachdenklich auf das Geschehen im Norden Honshus, denn die Vielzahl von Fehlern und unglücklichen Umständen in einem Hochtechnologieland wie Japan zeigt, dass auch Experten nicht alle Möglichkeiten im Blick hatten.

Von Dagmar Röhrlich | 19.05.2011
    Alle 30 Jahre wird Japan von einem Tsunami von mindestens 30 Metern Höhe getroffen. Auch in Fukushima hat es in den vergangenen 3500 Jahren mindestens vier oder fünf Ereignisse gegeben, die mit der Welle vom 11. März vergleichbar waren. Den Geologen war das bekannt - aber beim Bau der Kernkraftwerke sind ihre Erkenntnisse nicht in Beton und Stahl umgesetzt worden:

    "Für mich an Fukushima hat eigentlich überrascht, wie ein Land, das eigentlich täglich mit Erdbeben umgeht, an der Stelle so blauäugig rangeht und nicht eine robustere Auslegung macht."

    Uwe Stoll, Ingenieur beim Reaktorbauer Areva und Mitglied der Reaktorsicherheitskommission. Fukushima werfe eine ganz wesentliche Frage auf:

    "Sind denn die Anforderungen, die wir an KKW stellen, richtig? Also eigentlich eine ganz klar behördliche Frage zunächst einmal: Wie definieren wir, ein KKW ist sicher. Das ist ja auch, was die Politik so umgetrieben hat: Wir haben hier ein Hochtechnologieland und dann ist doch etwas passiert!"

    Beim genauerem Hinsehen stellte sich jedoch heraus, dass sehr einfache Maßnahmen das Schlimmste verhindert hätten. Stoll:

    "Die Lösungen, die man hätte gebraucht, sind eigentlich ganz einfach und primitiv gewesen. Die hätten nicht viel Geld gekostet, man hat sich um das Thema einfach nicht gekümmert."

    Zwei Notstromdiesel auf dem Berg hinter dem Kernkraftwerk hätten gereicht. Und so sei eine der Lektionen aus Fukushima:

    "Das hätte nicht Unmengen Geld gekostet, sondern einfach man hat sich die Frage nicht gestellt, man ist klassisch herangegangen: Das sind die Anforderungen und ich habe sie erfüllt."

    Für die anderen Kernkraftwerke weltweit bedeute das, dass man einfach einen Schritt weiter denken müsse. Als Reaktorbauer habe Areva bereits reagiert, erklärt Uwe Stoll, und man sehe nun für alle Anlagen wasserdichte Tore vor, die auch einem Tsunami standhielten. Eine andere Lehre aus Fukushima betrifft die Notfallpläne, die sich bislang auf Unfälle konzentrierten, die nach dem Tschernobyl-Muster abliefen: Eine plötzliche, schnelle Freisetzung von gewaltigen Mengen an Radionukliden:

    "Bei einer jetzt länger dauernden, in Summe vielleicht genauso hohen aber nicht auf einer zeitlichen Skala fokussierten Freisetzung, das war immer als ein minder schwerer Fall betrachtet worden und minder schwere Fälle werden eben nicht so stark berücksichtigt wie der schwerste Fall."

    Deshalb müssten die Notfallmaßnahmen jetzt dringend überarbeitet werden, erklärt Michael Maqua von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS. Für Uwe Stoll stellt sich dabei unter anderem die Frage, wie man ohne Nachschub arbeiten kann, wenn im Ernstfall Brücken und Straßen im Umland zerstört sind. Wie müssen Dieselvorräte sicher anlegt werden, wie könnte man mit kleinen Generatoren über längere Strom für die Messinstrumente bekommen. Und vor allem: Wie beherrscht man einen Notfall mit Personalmangel:

    "Ein Problem in Japan war auch gewesen, dass ein Teil der Betriebsmannschaft im Tsunami ja auch umgekommen ist. Das sind schon Dinge, die Fragen aufwerfen und da muss ich auch sagen, das war auch für mich als Experten neu, dass wir uns sehr auf das Kraftwerk konzentriert haben."

    Als weitere Herausforderung sieht der Weltverband der Reaktorbetreiber Wano, dass die Notfallmaßnahmen so ausgearbeitet werden, dass sie eine Katastrophe einbeziehen, die Wochen und Monate dauert und bei der mehr als eine Anlage außer Kontrolle ist. Jan Bens vom Pariser Büro der Wano:

    "Man sollte sich auch die Ereignisse der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre vornehmen. Es gab diesen Vulkanausbruch in Island, der den Flugverkehr zum Erliegen brachte. Könnte so etwas Auswirkungen auf ein Kernkraftwerk haben? Könnte eine Staudammkatastrophe ein Kernkraftwerk beeinträchtigen? Neben terroristischen Anschlägen sollten wir auch darüber nachdenken, wie sich eine Pandemie auswirkt, wenn das Personal mit einer exotischen Grippe krank im Bett liegt."

    Darüber solle man jetzt nachdenken und nicht erst im Notfall, erklärt Jan Bens.