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Ukraine
Antisemitismus von Regierungsseite

Unter den Kiewer Demonstranten gibt es auch viele gläubige Juden. Diese freuen sich nicht uneingeschränkt über die nationalistischen Parolen ihrer Mitdemonstranten. Ihnen gegenüber steht die Polizei-Sondereinheit Berkut. Deren Profil in einem sozialen Netzwerk im Internet ist gespickt mit antisemitischen Fotomontagen.

Von Florian Kellermann | 17.02.2014
    Die progressive jüdische Gemeinde in Kiew spricht den 15. Psalm.
    König David geißelt in diesem Text die Lüge, die Ausbeutung der Armen und die Korruption. Das ist in der Ukraine in diesen Tagen eine hochpolitische Aussage: Der Psalm spricht aus, was die Demonstranten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz fordern. Sie kämpfen gegen Politiker, die lügen und betrügen, um sich weiterhin persönlich bereichern zu können.
    Die meisten Mitglieder von dieser und den anderen jüdischen Gemeinden in Kiew unterstützten die Proteste, sagt Rabbiner Alexander Duchownyj:
    Die meisten Mitglieder jüdischer Gemeinden unterstützten die Proteste
    "Die Menschen ertragen die Korruption einfach nicht mehr, ebenso wenig die sozialen Unterschiede. Sie wollen, dass wir nach europäischen Werten leben. Sicher gibt es auch in der Regierung einige, die das wollen, aber alles in allem brauchen wir eine neue, moralisch anständige Staatsführung."
    Auch unter den mit Schlagstöcken bewaffneten und zur Verteidigung organisierten Demonstranten am Kiewer Unabhängigkeitsplatz gibt es viele gläubige Juden, manche von ihnen haben ihre militärische Ausbildung in der israelischen Armee bekommen.
    Auf den ersten Blick ist das erstaunlich: Schließlich skandieren die Demonstranten immer wieder nationalistische Parolen. In den staatlich gelenkten Medien heißt es, unter den Protestteilnehmern gebe es viele Faschisten. Sie seien unter anderem mit der rechtspopulistischen Freiheitspartei "Swoboda" verbunden, deren Vorsitzender Oleh Tjahnybok einer der führenden Oppositionspolitiker ist.
    Darüber diskutieren auch die jungen Mitglieder der Reformgemeinde, die nach dem Gottesdienst noch einen Becher Wein trinken, so Ilja, Art-Direktor in einer Media-Holding.
    "Die Partei Swoboda hat sich früher in der Tat immer wieder antisemitisch und fremdenfeindlich geäußert. Aber davon hat sie sich inzwischen distanziert. Sie haben inzwischen verstanden, dass in der Ukraine nicht nur ethnische Ukrainer leben und alle friedlich zusammenleben können. Wenn die Staatsmacht jetzt behauptet, jüdische Organisationen seien besorgt über die Demonstranten und hätten an die Botschaft von Israel geschrieben, dann lügt sie einfach. Die Organisationen, die sie nennt, gibt es gar nicht."
    Manche Juden fühlen sich von Parolen ausgegrenzt
    So tolerant sehen nicht alle Juden die Sprechchöre auf dem Unabhängigkeitsplatz. "Ukraine über alles", "Ehre der Nation" oder "Tod den Feinden" - von solchen Parolen fühlen sich manche von ihnen ausgegrenzt. Sie stammen aus der nationalistischen Bewegung der 1920er und 30er Jahre, in der Antisemitismus weit verbreitet war und die mutmaßlich auch für Pogrome verantwortlich ist.
    Der Historiker Vitalij Nachmanowytsch, der jüdische Wurzeln hat, kann den Rückgriff auf diese nationale Bewegung dennoch verstehen.
    "Die Proteste stehen in der Tradition des Kampfs um Unabhängigkeit - vor allem um Unabhängigkeit von Russland. Hinter dem Rücken des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch steht sein russischer Amtskollege Putin. Janukowitsch hat nicht die Mittel, die Proteste zu beseitigen, aber Putin schon. Wenn die beiden sich in diesen Tagen treffen, wie vor Kurzem, dann ist vermutlich genau das der Gegenstand ihrer Gespräche."
    Die Protestbewegung als faschistisch und antisemitisch darzustellen, sei deshalb im Interesse von Janukowitsch und Putin, meint der Historiker. So könnten die Politiker versuchen, gewaltsames Vorgehen international zu rechtfertigen.
    Überfälle auf orthodoxe Juden
    Damit könnten auch zwei Überfälle auf orthodoxe Juden zusammenhängen, zu denen es in den vergangenen Wochen kam. Unbekannte schlugen sie auf offener Straße zusammen, im Kiewer Stadtteil "Podil", wo sich eine der orthodoxen Gemeinden befindet. Vermutlich eine Provokation der Regierung, meint Josif Sisels, Vize-Präsident der Jüdischen Vereinigung in der Ukraine, der verschiedene Gemeinden angehören.
    "Ich kann das nicht beweisen, aber ich nehme es an. Der Regierung spielt es in die Hände, wenn sie sagen kann: Schaut, das waren diese Extremisten vom Majdan. Für ihre Beteiligung gibt es immerhin einen Beleg: Schüler der Jeschiwa haben einen Mann festgehalten, der mutmaßlich mit den Angreifern zusammen arbeitete. Er zeichnete in einen Plan ein, wann welche Personen aus der Synagoge kommen. Die Gemeinde übergab den Mann der Polizei, aber die ließ ihn einfach laufen, ohne die Personalien festzustellen."
    Ähnliche Provokationen, bei denen sich Randalierer als Pro-EU-Demonstranten ausgaben, gab es immer wieder auch an anderer Stelle.
    Die Staatsmacht wolle die "jüdische Karte" ausspielen
    Die "jüdische Karte", wie es in der Ukraine heißt, will die Staatsmacht auch auf der anderen Seite der Barrikade ausspielen, bei der Polizei-Sondereinheit Berkut. Deren Profil in einem sozialen Netzwerk im Internet ist gespickt mit antisemitischen Fotomontagen. Sie behaupten genau das Umgekehrte: Die Demonstranten auf dem Majdan seien keine Faschisten, sondern vielmehr von einer jüdischen Lobby inspiriert, selbst der Nationalisten-Führer Tjahnybok habe jüdische Wurzeln. Offenbar soll das das die Berkut-Polizisten motivieren.
    Antisemitische Vorurteile
    Vieles deutet also darauf hin, dass die Staatsmacht antisemitische Vorurteile, die es in der Gesellschaft gibt, zu ihrem Vorteil nutzen will - indem sie diffamiert, Nebelkerzen zündet und mutmaßlich sogar Schläger losschickt.