Dienstag, 16. April 2024

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Umgang mit Ängsten
Psychologe: Perspektivwechsel ist hilfreich

Ängste seien zum Teil nicht sehr vernünftig, weil sie, wie etwa die Flugangst, statistisch unbegründet seien, sagte der Psychologe Werner Gräve im Dlf. Beim Umgang mit solchen Ängsten helfe es, "so oft wie möglich so unterschiedliche Perspektiven wie möglich zu berücksichtigen".

Werner Greve im Gespräch mit Dörte Hinrichs | 22.08.2019
Der insbesondere im Sommer oft nach Urin stinkende Weg ist insbesondere nach Einbruch der Dunkelheit äußerst unbeliebt.
Ängste können auch hilfreich sein - wenn sie uns vorsichtiger machen (Klaus W. Schmidt / imago)
Dörte Hinrichs: Wir bleiben den Ängsten auf der Spur. Wie sinnvoll sind eigentlich Ängste? Und wie sieht der individuelle Umgang mit Ängsten aus? Wie erklärt es sich, dass laut Kriminalitätsstatistik viele Delikte zurückgegangen sind, aber die Angst vieler Menschen zum Beispiel Opfer von Gewalt oder von Einbrüchen zu werden, nicht gesunken ist.
Antworten darauf versucht man unter anderem am Institut für Psychologie der Universität von Hildesheim zu geben. Ich habe vor der Sendung mit Professor Werner Greve gesprochen, der sich schon seit langem mit Strategien im Umgang mit Ängsten und mit der Furcht vor Kriminalität und Opfererfahrung beschäftigt hat. Von ihm wollte ich wissen, wie sich die Forschung dazu entwickelt hat?
Werner Greve: Ich habe vor 20 Jahren angefangen, über Kriminalitätsfurcht zu arbeiten. Damals war der Anlass so ein häufiger Befund, dass die Personen am meisten Angst vor Kriminalität und Opfererfahrung haben, die statistisch am seltensten betroffen sind. Das ist damals so als Paradox diskutiert worden. Und die Frage war: Wie kommt das zustande, dass zum Beispiel ältere Menschen, die statistisch sehr selten Opfer werden, mehr Angst haben als jüngere, die viel häufiger Opfer werden von Kriminalität? Sehr spannend war, wenn man differenzierter fragt, also zum Beispiel danach, wie häufig jemand diese Empfindung hat, oder danach, wie intensiv diese Empfindung ist, oder auch danach, wie sehr sie das Verhalten beeinflusst, zum Beispiel, ob man vorsichtiger ist oder so, dass dann die Befunde durchaus sehr viel differenzierter sind.
Zum Beispiel findet sich, dass die älteren Personen nicht häufiger Angst haben als jüngere und es auch nicht für wahrscheinlicher halten, eher im Gegenteil, dass sie Opfer werden, dass sie aber vorsichtiger sind. Und dann zeigt sich das in den Maßen, die in den 70ern, 80ern verwendet wurden ist, eher die Verhaltensseite deutlich geworden ist, das zu diesem sogenannten Paradox führt, das, wenn man es so betrachtet, ja gar kein Paradox mehr ist. Jetzt zeigt sich, dass die Leute, die vorsichtiger sind, seltener Opfer werden, was eher naheliegend und vernünftig ist.
"Manchmal sind die Sachen auch tatsächlich gar nicht so sehr vernünftig"
Hinrichs: Was sind denn aus heutiger Sicht bedrohliche Szenarien für viele Menschen?
Greve: Manchmal sind die Sachen auch tatsächlich gar nicht so sehr vernünftig. Zum Beispiel haben wir weniger Angst davor, in ein Auto zu steigen als in ein Flugzeug, obwohl die Gefahren bei einem Auto statistisch größer sind als beim Flugzeug.
Hinrichs: Wie gehen Menschen mit diesen Ängsten um?
Greve: Insbesondere interessiert uns die Frage, wie geht man mit den Ängsten um, die vielleicht ein bisschen übertrieben sind, unangemessen sind, die die Lebensqualität mehr einschränken als nötig. Zum Beispiel wenn ich sehr viel mehr Angst vor einer Flugreise hätte als vor einer Autoreise und das meine Lebensqualität einschränkt. Oder Angst vor Ansteckung hätte, wenn ich nur eine Türklinke anfasse. Das würde meine Bewegungsspielräume sehr einschränken. Was nicht heißt, dass Infektionen nicht doch auch eine Gefahr sind. Dass heißt, angemessen damit umzugehen und sich die Hände zu waschen und zu wissen, dass Hände eine mögliche Infektionsquelle sind, das ist ein wichtiger Punkt, ohne dass man daraus die Schlussfolgerung zieht, ich kann hier nichts in der Welt mehr anfassen.
Hinrichs: Das kann ich ja kognitiv alles erfassen und dann in eine Relation setzen, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich betroffen davon bin? Aber gleichzeitig kann ich ja persönlich diese Ängste trotzdem haben, auch wenn sie mit der Statistik oder der Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben.
Greve: Was ich tun kann, ist nach und nach jemand werden, der weniger solche spontanen Reaktionen hat, indem ich mir zum Beispiel versuche, immer wieder klarzumachen, was ist denn tatsächlich begründet, was ist weniger begründet, was gibt es auf der anderen Seite für entlastende Argumente, zum Beispiel, wie sorgfältig werden Flugzeuge gewartet im Verhältnis zu meinem eigenen Auto und viele andere Aspekte. Das kann nicht sofort und nicht ganz kurzfristig in dem Moment, aber auf die Dauer dazu beitragen, dass vielleicht meine Besorgnisse sich verändern, vielleicht geringer werden, vielleicht angemessener werden.
"Wir sind sozusagen Koproduzenten von uns selbst"
Hinrichs: Also es steht in meiner Macht, meine Ängste zu reduzieren?
Greve: In meiner Macht ist ein bisschen viel gesagt. Ein amerikanischer Kollege hat das so gesagt: Wir sind sozusagen Koproduzenten von uns selbst. Wir machen uns nicht selber, nicht alles können wir beeinflussen. Und eine öffentliche Diskussion, die mich dann erschreckt oder so, die kann ich nicht selber abstellen. Aber ich kann mich dazu verhalten, und ich kann aktiv Informationen suchen, vielleicht auch mal aus meiner sozialen Blase austreten und mal gucken, ob ich jemand anderen finde, mit dem ich sprechen kann. Insofern wäre auch da immer wieder der Rat zu sagen: Versuche so oft wie möglich so unterschiedliche Perspektiven wie möglich zu berücksichtigen. Was, nebenbei gesagt, auch für den Umgang mit Widrigkeiten einer der besten Tipps ist, die man geben kann.
Hinrichs: Da sind wir schon fast wieder bei Ihrem zweiten Thema, bei der Resilienz. Was kann man tun, wie kann man für Lebensereignisse, die Angst auslösen, gewappnet sein?
Greve: Zunächst, Resilienz ist ursprünglich fast so ein bisschen gesehen worden, als wäre es eine Eigenschaft von Personen, als gibt es resilientere und weniger resiliente Personen. Relativ schnell hat sich dann gezeigt, dass es eine Vielzahl von Faktoren sind, die dazu führen, dass jemand bei belastenden Lebensumständen besser klarkommt als andere, und dazu gehören natürlich auch Fähigkeiten oder Eigenschaften von Personen. Aber dazu gehören auch soziale Ressourcen, also zum Beispiel eine Person, an die ich mich wenden kann, selbst wenn ich mich zu Hause an niemanden wenden kann, eine Großmutter oder ein Lehrer oder ein Nachbar oder ein Freund, der dann die Ressource ist, manchmal sogar nur ein vorgestellter oder eingebildeter Freund, mit dem ich rede oder ein Freund, den ich mir selber suche. Es zeigt sich, dass sehr unterschiedliche Konfigurationen von Ressourcen zum Beispiel dazu führen können, dass man mit einer schwierigen Problemlage zurechtkommt, mit der andere vielleicht nicht so gut zurechtkommen.
Das, was wir jetzt in unserer Arbeitsgruppe hier seit Längerem untersucht haben, ist insbesondere dieser Gesichtspunkt, dass die Dinge aus mehr als einer Perspektive zu betrachten, häufig eine wichtige Ressource ist. Es hilft einem, die Schwierigkeiten auch von einer weniger schrecklichen Seite zu sehen, ohne zu bestreiten, dass die Schwierigkeit schwierig ist. Also ich nehme ein konkretes Beispiel: Ich erfahre, dass ich eine sehr schwere Krankheit habe. Da hat es natürlich keinen Zweck zu bestreiten und zu verleugnen, zu verdrängen, dass ich diese Krankheit habe. Das würde ja vielleicht notwendige Maßnahmen gefährden. Andererseits kann ich trotzdem versuchen zu sagen, was daran auch irgendwie eine Chance ist. Zum Beispiel die Erfahrung, dass jetzt wirklich Freunde sich als Freunde erweisen, Familienmitglieder wertvoll werden, die Erfahrung, dass die Sorgen, die mich bis gestern so bedrängt haben, jetzt bei Lichte besehen, gar nicht so gravierend sind. So kann ich, ohne zu bestreiten, dass die Diagnose schwer ist und dass die Krankheit vielleicht auch gefährlich ist, trotzdem auch positive Aspekte dieser Krankheit abgewinnen. Diese Balance scheint ein Faktor zu sein, der dazu beiträgt, dass das Wohlbefinden die Lebensqualität, auch Optimismus und Zuversicht, nicht so stark einbrechen.
Perspektivwechsel kann man trainieren
Hinrichs: Lässt sich das denn erlernen in irgendeiner Form, kann ich das fördern?
Greve: Perspektivwechsel wird zum Beispiel bei Kreativitätstrainings benutzt häufig, kann man diese Sache auch noch für was anderes verwenden, kann man diesen Gegenstand auch noch mal anders betrachten und ihn vielleicht in ungewöhnlicher Weise in ein Kunstwerk oder so einbauen. Das häufiger zu machen und auch auf andere Lebenssituationen zu übertragen, nicht nur im künstlerischen Bereich, wäre, glaube ich, eine für das Leben hilfreiche Maßnahme. Wir finden jedenfalls, dass die Leute, die das schaffen, Gegenstände in verschiedener Weise zu betrachten, Lebenssituationen verschiedenerweise zu betrachten, dass die auch die Fähigkeit haben, Gutes im Schlechten zu sehen, Chancen in Niederlagen zu entdecken, Neuanfänge zu wagen, wo vielleicht ein Ziel oder ein Plan gescheitert ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.