Scheck: Es fing schon bei der Gattungsbezeichnung an. Dieses Machwerk einen Roman zu nennen, das ist eine kühne These. Es handelt sich um einen Text, der etwa fünfzig Manuskriptseiten ausfüllt, der sehr groß gesetzt ist, so dass er so gerade ein Buch ergibt. Etwas, das aussieht wie ein Buch, man aber in einer halben Stunde, dreiviertel Stunde gelesen hat. Eric Emmanuel Schmidt, Jahrgang 1960, ist in Frankreich vor allem als Theaterautor bekannt. Es handelt sich um eine Religionsparabel. Das wäre alles nicht weiter schlimm. Solche Bücher werden und wurden schon immer für den Markt geschrieben. Neu aber ist, dass so ein Buch einen Literaturpreis erhält, einen Literaturpreis hinter dem der "Börsenverein des Deutschen Buchhandels" steht. Das ist in etwa so, als würde ein Kunstpreis an die Verfertiger dieser rührenden Hirsche gehen, die in Kaufhäusern zu erwerben sind, oder ein deutscher Musikpreis an Richard Claydermann für diese Melodien, die uns in Frühstückslobbys und in Hotels verfolgen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was man Literatur nennen könnte, nämlich eine Anleitung zu einem differenzierten Denken, eine ästhetische Kunstanstrengung. Es ist das, was Arno Schmidt mal auf den schönen Nenner brachte, dass das Volk Kunst immer nur in Verbindung mit Dünger und Honig kennt.
Frage: Aber die Bücher und auch die Literaturkritik werden ja nun für die Leser gemacht, und Leser stecken ja auch hinter diesem Preis "Publikumsliebling des Jahres". Das heißt ja, dass das Buch bei dem Publikum besonders beliebt ist. Warum soll man da die Leser nicht auch einmal ernst nehmen und fragen, welches Buch sie am besten fanden?
Scheck: Natürlich kann man den Leser ernst nehmen. Man muss den Leser ernst nehmen, aber wie alle solche Formen - ich denke an die Todesstrafe etwa - ist das demokratische Prinzip nicht in allen Bereichen unseres Lebens das richtige Prinzip. In der Kunst führt es regelrecht zu Katastrophen; Katastrophen eben wie diese Preisauszeichnungen. Was auf Platz zwei gelandet ist, Paulo Küljo, mit seinem Rührstück "Elf Minuten", da geht es um eine Nutte mit goldenem Herzen. Das ist fast noch schlimmer als der Preisträger auf Platz eins. Es geht wirklich darum, dass eine Organisation mit dem Wissen und der langjährigen Erfahrung des "Börsenvereins des Deutschen Buchhandels" auch im Vorfeld hätte wissen müssen, welche Ergebnisse solche Umfragen eventuell zeitigen können. Dass nun ein Kitschautor mit einer von Günther Grass geschaffenen Plastik nach Hause fährt - diesem berühmten Bücherbutt - das ist wirklich ein Fanal - anders kann man es nicht nennen. Natürlich hat der Buchhandel primär Interesse an Titeln, die sich sehr schnell umsetzen, so genannte "Schnelldreher", die die Kasse klingeln lassen. Man kann, wenn man einerseits ständig nach Subventionen ruft - und der Buchhandel in Deutschland ist eine hochsubventionierte Branche, für die beispielsweise die halbe Mehrwertsteuer gilt - sich seiner kulturellen Verpflichtung für das Land und für das geistige Leben in diesem Land insgesamt nicht entziehen. Man kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen und solche Kitschautoren mit kulturellem Kapital versehenen Preisen nach Hause schicken. Das ist ein Widerspruch an sich, und hier muss sich Protest regen.
Frage: Aber bei dieser ganzen Preisverleihung geht es doch eigentlich darum, das Medium Buch in die Medien, also auch in das Fernsehen zu heben und die Leute auch wieder verstärkt zum Lesen zu bringen. Was wäre denn da Ihr Gegenvorschlag, wie könnte man das sonst erreichen?
Scheck: Die Bundesrepublik im Jahre 2004 ist kein Dritte-Welt-Land, in dem Alphabetisierungskampagnen vom deutschen Buchhandel unbedingt gestartet werden müssen. Natürlich ist dieser Buchhandel daran interessiert, so viele Bücher wie möglich zu verkaufen. Es hat sich aber über die Jahrzehnte eigentlich ein Komment herausgebildet, dass es nicht gleichgültig ist, was zwischen diesen Buchdeckeln steckt, sondern dass es eben gute Bücher gibt und schlechte Bücher. Das scheint der Buchhandel und seine Standesorganisation in letzter Zeit immer mehr zu vergessen. Es scheint völlig belanglos, ob das denn nun etwas ästhetisch Gelungenes ist oder nicht; Hauptsache es verkauft sich. Diesen Triumph des Kapitalismus auch in dieser Branche mitverfolgen zu müssen, das schmerzt dann doch. Man sägt wirklich den Ast ab, auf dem man selbst sitzt, denn wenn es weitere solcher Katastrophen im kulturellen Leben gibt, die von diesem Börsenverein ausgehen, dann bin ich ganz sicher, dass sowohl die Buchpreisbindung als auch diese Mehrwertsteuerhalbierung nicht zu halten ist.